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Montag, 9. Juli 2012

Bolotow


Unsere Angie soll ja ein Bild von Katharina der Großen auf dem Schreibtisch haben. Ihr großes Vorbild hat sich heute vor 250 Jahren zur Kaiserin ausrufen lassen. Zar Peter III. aus Schleswig-Holstein wurde für abgesetzt erklärt und wenig später ermordet. Was wohl das Werk von Grigori Grigorjewitsch Orlow und seinen Brüdern war. Es gibt ja genügend Filme darüber. Mit Elisabeth Bergner, Marlene Dietrich, Julia Ormond oder Catherine Zeta-Jones Oder mit Uschi Karnat. Den Film kennen Sie wahrscheinlich nicht, kam als Katharina – Die nackte Zarin in die Kinos und war ein Softporno. Es gibt davon aber auch noch eine hardcore Version, die den reißerischen Namen Katharina und ihre wilden Hengste hatte.  Ich sage das nur der Vollständigkeit halber. Ansonsten interessieren mich Katharina und die ihr angedichten sexuellen Vorlieben nicht so sehr.

Weil ich heute lieber einmal über Andrej Bolotow schreibe. Vielleicht haben Sie noch nie etwas von  Andrei Timofejewitsch Bolotow gehört. Ich vor Jahren auch nicht. Aber dann fand ich in der Grabbelkiste eines Antiquariats die zwei Bände Leben und Abenteuer des Andrej Bolotow. Von ihm selbst für seine Nachkommen aufgeschrieben und nahm sie mit. Kostete mich fünf Mark (so lange ist das schon her, da gab es noch diese schöne Währung, die man nicht ständig retten musste) für beide Bände. Ich nahm sie in den nächsten Urlaub mit und habe dann die beinahe tausend Seiten in einem Stück gelesen. Es ist ein wunderbares Leseerlebnis. Dreißig Jahre hat der Landedelmann Andrej Timofejewitsch Bolotow an seinen Memoiren geschrieben, die erst fünfzig Jahre nach ihrer Vollendung von Michail Semewski 1870 bis 1873 als Beilage zu dem Almanach Russkaja starina veröffentlicht wurden. Man kann dem C.H. Beck Verlag und seiner Bibliothek des 18. Jahrhunderts nur dankbar sein, dass er mit dieser zweibändigen Ausgabe die Memoiren vor der Vergessenheit bewahrt hat. Man kann die beiden Bände immer noch antiquarisch preiswert finden.

Andrej Bolotow (der in einer Zeit, wo viele in Russland schnell ihr Leben verlieren, sehr alt geworden ist) beginnt wie alle russischen Adligen in dieser Zeit sein Leben in der Armee. Er ist im Siebenjährigen Krieg im Stab des russischen Militärgouverneurs von Königsberg (wo er schlauerweise die Zeit zum Studium an der Universität nutzt). Er quittiert dann unter Peter III. seinen Offiziersdienst. Du willst also in den Ruhestand, Bolotow, und auf eigene Kosten? fragt ihn sein General und fährt fort: unter den heutigen Umständen ist es das Vernünftigste. Fahr weg, und Gott steh dir bei! Und möge er dir helfen das Gewünschte zu erhalten, je schneller, desto besser.

Dass er aus diesem Zwangsdienst des Adels entlassen werden kann, verdankt er dem Gesetz vom 28. Februar 1762, das der Zar Peter erlassen hat. Kurz bevor er abgesetzt und umgebracht wurde (Bolotow kennt die Orlows, aber er lässt sich nicht in die Verschwörung gegen den Zaren hineinziehen). Mit dieser Aufhebung der Zwangsrekrutierung, die es dem Adel ermöglicht, auf seine Güter zurückzukehren, wollte Peter III der Verödung der Provinzen entgegenwirken. Der Mann aus Kiel (der seine zukünftige Frau in Eutin kennengelernt hatte), der Friedrich II. bewunderte, war ja gerade dabei, eine gewisse Demokratisierung in seinem Reich durchzusetzen. So etwas kann in Russland nicht gutgehen.

Bolotow zieht sich auf sein Landgut zurück, wo er bis zu seinem Tode 1833 lebte, da war er 95 Jahre alt. Er wird in diesem langen Leben viele Zaren erleben, ist auch lange Jahre ein Beamter im Dienste Katharinas II. Er hat auch durchaus eine Beziehung zu den höchsten Kreisen, da der Graf Orlow ihn gebeten hatte, die benachbarten Güter des jungen Grafen Bobrinski zu verwalten. Der junge Graf ist das gemeinsame Kind von Orlow und Katharina. Bolotow wird den Besitz in ein bewundertes landwirtschaftliches Mustergut mit Park verwandeln. Dies Bild, das den Park zeigt, ist von dem Sohn Andrej Bolotows gemalt worden, der mit seinem Vater zusammen eine Art Bestandsaufnahme des Gutes von Bobrinski in einem Album zusammengestellt hat, das 1787 der Zarin übergeben wurde.

Bolotow ist ein bildungsbesessener Autodidakt, der alles aufsaugt, was im Zuge der Aufklärung an Wissenschaft und den schönen Künsten nach Russland dringt. Er gilt als der erste bedeutende Agronom in der russischen Geschichte, und er wird die Kartoffel in Russland heimisch machen. In diesen beiden Bänden haben wir ein Panorama Russlands, vom Leben des russischen Landadels, vom Leben in der Armee, vom Siebenjährigen Krieg bis zur Palastrevolution, die Katharina auf den Thron bringt. Und das Ganze mit einer Überfülle von historischen Details, die natürlich von allen Historikern gerne zitiert worden sind. Leo Tolstoj hat die Erinnerungen als überaus wertvolle Aufzeichnungen bezeichnet, und dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Ich habe in diesem Blog ja schon zugegeben, dass ich erst spät im Leben dazu gekommen bin, Krieg und Frieden zu lesen. Das war aber kein Fehler, so konnte ich den Roman, den ich inzwischen zu großen Teilen ein zweites Mal gelesen habe, wirklich genießen. Meine Kenntnisse der russischen Literatur sind etwas lückenhaft. Ich habe aber alles gelesen, was in den Taschenbuchreihen Exempla Classica (Fischer) und Rowohlts Klassiker enthalten war. Beide Reihen waren auf einhundert Bände angelegt, und da ich als Teenie den etwas abenteuerlichen Plan hatte, mit einundzwanzig durch die Weltliteratur durch sein zu wollen, boten beide Reihen eine gute Richtschnur. Ich habe das mit dem Plan übrigens geschafft. Allerdings mit ein wenig Schummelei, wie eben dem Auslassen von Krieg und Frieden. Und in den ersten Bänden der RK Reihe bin ich auch nicht so firm. Die hellgrauen Bände starren mich immer so vorwurfsvoll aus dem Regal an. Na, gut, wenn man achtzehn ist, liest man den ganzen Plato vielleicht nicht so gern.

Aber ich habe Puschkin gelesen, Lermontow, Gontscharow und Gogol. Und ich hatte auch einmal eine schlimme Dostojewski Phase. Und bei Tschechow (links) kenne ich mich wirklich gut aus. Aber mit dem hört auch meine Kenntnis der russischen Literatur auf. Da hat unsere Kanzlerin, die für Katharina schwärmt, in der DDR bestimmt mehr gelesen als ich. Und auch noch in Russisch. Das mit dem fehlenden Russisch ärgert mich heute ein wenig, ich hätte es an der Schule lernen können. Denn unser Lateinlehrer Arved von Taube bot in der Oberstufe auch Russischunterricht an. Aber ich hatte mein Wahlfachkontigent mit Französisch, Kunst und der Theater AG schon übervoll, und so muss ich bis heute die russische Literatur auf deutsch lesen.

Alles, was ich von der russischen Literatur gelesen habe, ist die russische Literatur des 19. Jahrhunderts. Von der des 20. Jahrhunderts habe ich wenig Ahnung. Oder zählt zweimal den Film sehen schon als einmal den Roman lesen? Dann könnte ich hier Scholochows Der stille Don und Pasternaks Doktor Schiwago auflisten. Wenn ich mich zu meinen schweren Defiziten in Bezug auf die Literatur des 20. Jahrhunderts bekenne, möchte ich allerdings anfügen, dass ich eine Menge über den russischen Film weiß. Und da kriege ich schon wieder ein schlechtes Gewissen: als ich hier über Bondartschuk schrieb, versprach ich, demnächst einmal über Aleksei German und seinen Film Moy drug Ivan Lapshin schreiben wollte. Habe ich es getan? Ich sollte nicht so viel Versprechungen machen.

Was ich alles von der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts nicht kenne, wurde mir vor Augen geführt, als ich das gerade frisch erschienene Buch Russische Literatur des 20. Jahrhunderts in deutschsprachigen Übersetzungen: Eine kommentierte Bibliographie von Friedrich Hübner in den Händen hatte. 666 Seiten stark, ein Jahrhundert der russischen Literatur, vom kometenhaft Aufstieg Maxim Gorkis im Jahre 1900 bis zum Jahre 1990. Bibliographien sind normalerweise keine Werke, die man zur Lektüre empfiehlt. Sie entstehen in jahrelanger, oft jahrzehntelanger Arbeit. Und dann sind ganze Generationen von Forschern demjenigen dankbar, der diese Arbeit auf sich genommen hat. Der Computer kann heute helfen, aber häufig wiederum auch nicht: sehr vieles in diesem Buch ist niemals digitalisiert worden. Und man muss die Titel in der Hand gehabt haben, die Travestie der Wissenschaft, die Guttenbergsche copy&paste-Methode hilft einem nicht weiter. Da hilft nur jahrelanges Sammeln, viele Zettelkästen und der Besuch vieler russischer Bibliotheken. Und man muss natürlich Bücher und die Literatur lieben, anders geht das nicht. Und das dauert dann Jahrzehnte, bis man auf den Buchrücken schreiben kann:

In dieser Bibliographie werden die deutschsprachigen Buchausgaben mit Erst- und Neu-Übersetzungen russischer Autoren des 20. Jahrhunderts für die Jahre 1900-1990 vollständig erfasst. Auch die außerhalb der deutschsprachigen Länder in der Sowjetunion und in Exilverlagen erschienenen Übersetzungen sind aufgenommen. Die einzelnen Kapitel des annalistisch aufgebauten Titelverzeichnisses sind mit Kommentaren versehen, in denen die rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die Arbeit einzelner Verlage, die Rolle wichtiger Vermittler und Publikationen einzelner Autoren behandelt werden. Neben der Bibliographie enthält das Buch damit einen Beitrag zu Aspekten der Rezeptionsgeschichte russischer Literatur in deutscher Sprache, die bisher unbeachtet geblieben sind.

Es ist nicht nur eine Bibliographie, es ist eine kommentierte Bibliographie. Der Kommentar zu den jeweiligen chronologisch präsentierten Zeiträumen macht mehr als ein Drittel des Buches aus. Und hier wird das Buch zu einer Literaturgeschichte, einer Geschichte der Verlage und Verleger und einer Geschichte der Übersetzer. Es beantwortet die W-Fragen: Wer übersetzt oder publiziert wann und wo welche Texte und unter welchen Rahmenbedingungen? Es wird so zu einer Rezeptionsgeschichte der russischen Literatur im deutschsprachigen Bereich. Faszinierend. Und geradezu erschreckend in den Detailkenntnissen. In dieses Buch ist die Arbeit eines halben Lebens gegangen, und ich finde es sehr beruhigend, dass die seriöse Philologie noch irgendwo lebt. Auch wenn wir heute mehr über die Guttenbergs und Schavans (und wie sie alle heißen) reden, und wenn uns die Schriften von Herrn Precht als Philosophie verkauft werden. Große Kommentarleistungen zeichnen sich darüber hinaus durch die Qualität intensiven und umsichtigen Erschließens aus, so daß sie der Forschung eine dauerhafte Plattform bereitstellen. Ich wollte, das wäre mein Satz gewesen. Aber ich habe ihn mir aus einem Text geklaut, in dem die Forschungsgstelle Nietzsche-Kommentar sich selbst beschreibt. Doch dennoch: der Satz gilt auch für dieses Buch.

Die literarische Vorlage zu dem Film Moy drug Ivan Lapshin von Aleksei Yuryevich German (eine Erzählung seines Vaters Yuri German) ist natürlich auch in Russische Literatur des 20. Jahrhunderts in deutschsprachigen Übersetzungen verzeichnet. Wie auch der wunderbare kleine Krimi Uhren für Mr Kelly des Autorengespanns Georgi Alexandrowitsch Wainer und Arkadi Alexandrowitsch Wainer, in dem es um den Diebstahl von Unruhwellen geht. Der Roman hat mir als Uhrensammler besonders gefallen. Brillant geschrieben. Und von Harry Burck sehr gut übersetzt. 1974 in der DDR erschienen, aber Richard K. Flesch bei Rowohlt wäre gut beraten gewesen, wenn er diesen exzellenten Krimi in die Rowohlt Reihe aufgenommen hätte. Der Background, Moskau in den sechziger Jahren, erscheint heute schon wieder exotisch und reizvoll.

Das Buch Russische Literatur des 20. Jahrhunderts in deutschsprachigen Übersetzungen: Eine kommentierte Bibliographie ist eine riesige Fundgrube, in der man die erstaunlichsten Dinge finden kann. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass im Malik Verlag, dem bedeutendsten Verlag für sowjetische Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre, nicht Gorki oder Ehrenburg die höchsten Auflagen bringen, sondern der Amerikaner Upton Sinclair. Ich lerne beim Lesen ständig dazu. Und was kann man von Büchern Besseres erwarten? Vielleicht lese ich ja doch noch einmal die Hauptwerke der sowjetischen Literatur. Und da ich bei guten Vorsätzen bin, über den Film Moy drug Ivan Lapshin schreibe ich wirklich demnächst (und hier ist es).

In dem Kapitel Städtische Vergnügungen beschreibt Andrej Bolotow im ersten Band seiner Memoiren, wie er als junger Leutnant in Königsberg mit einer vollen Geldkatze Bücher kaufen geht. Als er mit einer leeren Geldkatze und vielen Büchern wieder zurück ins Quartier kommt, muss er von einem Gebildeten erfahren, dass er ziemlich sinnlos gekauft hat. Der Mann ordnet die Bücher zu drei Stapeln. Die einen, die ihr Geld wert sind, die anderen, die weder gut noch böse sind. Und die Bücher auf dem letzten Stapel, sie sind alle nichts wert und das Geld für sie geradezu hinausgeworfen. Andrej Bolotows redet schonungslos von seinen Fehlern. Seine Memoiren sind auch eine Art Entwicklungsroman, ehrlicher und unterhaltsamer als die Bekenntnisse von Rousseau. Und Friedrich Hübners Buch würde natürlich ganz oben auf den Stapel der wertvollen Bücher gehören.

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