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Sonntag, 30. Juni 2013

Friedrich Theodor Vischer


Dies ermutigte mich, ihn zu fragen, woher er komme. »Vom Rigi herunter,« war die Antwort. »Wie? in der kurzen Zeit?« – »Will nicht viel heißen; gestern abend hinauf, in der schönen Mondnacht herunter.« – »Wie war's? Schön, nicht wahr? Es war ja ein prächtiger Abend.« – »Wohl, wohl! Nur viel Bildungsvolk oben! Werden die Berge bald vollends wegätzen. Fehlt ein Abschreckungs-Bädeker, daß es wieder einsam würde und stille Menschen ein vertrautes Wort mit der Natur reden könnten oder von ihr anhören. Dieser wunderbare Gedanke mit dem Abschreckungs-Bädecker findet sich gleich am Anfang des Romans Auch einer: Eine Reisebekanntschaft von Friedrich Theodor Vischer. Ich streiche ja selten etwas in meinen Büchern an, aber diese Stelle hat in meiner Ausgabe doch einen zarten Bleistiftstrich bekommen. Wenn man auf der Suche nach wunderbaren Gedanken und Aphorismen ist, kann man in Auch einer eine Menge Bleistiftstriche machen. Wenige Seiten nach dem obigen Zitat wird die Tücke des Objekts bestimmt eine Markierung bekommen. Und Eine Welt, wo so viel gelacht wird, kann so schlecht nicht sein sowieso. Das Moralische versteht sich doch immer von selbst.

Es ist ein seltsamer Roman, der eher in das achtzehnte als das neunzehnte Jahrhundert gehört. Der ein wenig nach Laurence Sterne und Jean Paul schmeckt, kurzum, ein Roman, der vertrackt und mit Hindernissen erzählt wird. Und der zum Ende hin immer mehr zerfieselt. So wird Richard Weltrich in seinem Lexikonartikel in der ➱Allgemeinen Deutschen Biographie schreiben: das dem Durchschnittspublicum freilich schwerverständliche Werk gießt einen mächtigen Strom von Gedanken, von Lebensweisheit und von Humor aus.

In einem ➱Festvortrag über Friedrich Theodor Vischer (wegen der Schreibweise seines Namens auch manchmal V-Vischer genannt) sagte ➱Hermann BausingerDas Wort Festvortrag klingt nicht nur bedenklich abendfüllend, es passt auch schlecht zu Friedrich Theodor Vischer. Eine angemessene Hommage an Friedrich Theodor Vischer müsste man eigentlich präsentieren als ein Art Happening, als Capriccio (um ein Lieblingswort Vischers zu verwenden), als buntes und provozierendes Spiel. Ein Redner, gewiss, aber einer, der schon auf dem Weg zum Pult stolpert, der vom Katarrh geschüttelt wird, dessen erste Worte von gewaltigem Niesen unterbrochen werden und der bei den nächsten Sätzen plötzlich stockt, verstummt, dem das Wort im Halse steckenbleibt (Vischer hat diesen Alptraum mehrfach geschildert). An seiner Stelle könnte eine Gruppe kleiner Teufel auf die Bühne tanzen, zuständig für die unübersehbaren Mängel unseres banalen Daseins... Dieser Beginn seiner Rede beschreibt eigentlich schön den Roman Auch einer, seinen Helden A.E. und Vischer selbst. Denn dieser 'Roman' ist auch ein Stück Autobiographie und Selbstanalyse.

Friedrich Theodor Vischer hat Theologie studiert, sich danach aber in Deutscher Literatur habilitiert. Er erhielt in Tübingen einen Lehrstuhl für Ästhetik und deutsche Literatur, wurde aber gleich nach der Antrittsvorlesung wegen seines Bekenntnisse zum Pantheismus suspendiert (allerdings mit vollen Bezügen). Der Anhänger des Vormärz hat im Paulskirchenparlament gesessen, die Ideale des Vormärz haben ihn nie verlassen. Er war, so klein er körperlich war, ein Großer in der Geisteswelt. Ein Meister der Essayistik, der gegen Tierquälerei und die Auswüchse der ➱Mode zu Feld zog. Wahrscheinlich wäre er heute Blogger. Dann könnte er als Namen jenen Namen verwenden, den er manchmal als Pseudonym führte: Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky.

Friedrich Theodor Vischer fügte Goethes Faust einen dritten ➱Teil hinzu, versuchte (leider vergeblich), Hebbel davon abzuhalten Die Nibelungen zu schreiben und brachte seinen Freund Gottfried Keller dazu, den Grünen Heinrich umzuschreiben. Mit ➱Wilhelm Raabe konnte er nicht viel anfangen. Dabei ist der ihm doch ein klein wenig verwandt. Aber mit einem anderen Schriftsteller ist er gut ausgekommen: 'Darf ich ...', 'Mein Name ist Vischer'. 'Ah, der V- Vischer', rief ich überrascht. Er lächelte: 'Ja, der bin ich.' Ich sagte ihm nun, wie er in dem Berliner Kreise, in dem ich lebte, ein Gegenstand unsrer aller Verehrung sei, was er freundlich aufnahm. Die beiden Herren teilen sich 1871 zwischen Straßburg und Vitry ein Eisenbahncoupé, sie haben sich sehr gut verstanden. Wir können es in Theodor Fontanes Aus den Tagen der Okkupation nachlesen.

Friedrich Theodor Vischer wurde am 30. Juni 1807 geboren. Ich dachte mir, ich sollte mal an diesen seltsamen Roman erinnern, der ein Stück Philosophie und ein Stück Kauzigkeit ist. Ich besitze eine dreibändige Werkausgabe von Vischer, aber am liebsten ist mir die Insel Ausgabe, die da oben abgebildet ist. Was die germanistische ➱Literaturwissenschaft heute von Vischer hält, weiß ich nicht. Interessiert mich auch nicht wirklich. Neulich hat mir jemand erzählt, dass eine junge Germanistikprofessorin in einer Vorlesung gesagt habe, sie hätte ein bestimmtes Buch nicht lesen können, weil das in Frakturschrift gedruckt sei. Dahin werden wir kommen. Wir bekamen in der Volksschule noch die Grundlagen der deutschen Kurrentschrift vermittelt. In Kindlers Literatur Lexikon geht Harald Landry nicht sehr nett mit dem Roman um. Für ihn war es bis lange nach dem Ersten Weltkrieg ein Lieblingsbuch professoraler und anderer gebildeter Kreise in Deutschland. Kurt-Ingo Flessau hat in seinem Artikel für Auch einer in Gero von Wilperts Lexikon der Weltliteratur sehr viel mehr Sympathie für den Roman übrig. Aber lassen wir die Germanistik sein wie sie ist, kümmern wir uns nicht um die Meinungen von Leuten, die eh keine Bücher mehr lesen. Leser wird es immer geben. Und es wird immer Leser für einen krausen Roman wie Auch einer geben. Und wenn wir eine Bedienungsanleitung für die Lektüre von Friedrich Theodor Vischer suchen, bitte, hier ist sie:

Du hoffst von der Dichtung Lust und Behagen
Und pflegst nach dem Sinn erst lange zu fragen?
Laß dem innern Auge das Bild sich zeigen,
So wird auch der Sinn von selber dir eigen;
Erspar' dir, Guter, die Mühe; der Sinn,
Er ist nicht dahinter, er ist darin.

Ein Kunstfreund, dem ein Gemälde man brächte:
Wie wär's, wenn er so an den Sinn nur dächte,
Daß er's nähme, die Rückwand vorwärts drehte
Und auf dem Brett, auf der Pappe spähte,
Ob nirgends darauf eine Glosse steh',
Woraus er des Bildes Sinn erseh'?

Fragst du nach der Dinge Begriff und Wesen,
Greife nach Büchern, leg' dich auf's Lesen,
Und hast du gelesen, so magst du fragen:
Wie hab' ich den Geistgewinn anzuschlagen?
Kannst du nicht schauen, so ist die Kunst,
Gesteh' es nur immer, dir eitel Dunst.

Freitag, 28. Juni 2013

Versailles


Hier in Versailles ist das Deutsche Kaiserreich 1871 ausgerufen worden. Und hier ist es untergegangen. Am 28. Juni 1919. Vielleicht ist hier damals auch das sogenannte Dritte Reich begründet worden; viele Historiker sind der Meinung, dass der Versailler Vertrag mit seinen Auswirkungen den Aufstieg der Nazis erst möglich gemacht. Weil das ja kein Friedensvertrag war, sondern ein Schandfrieden. Seit der Gallier Brennus in Rom angeblich vae victis gesagt hat, diktiert der Sieger.

Was dann auf dem Bild Brennus und sein Anteil an der Kriegsbeute von Paul Jamin verdeutlicht wird. Geschichte ist immer schön, wenn sie in Bildern erzählt wird. Es kommt nur darauf an, wer sie erzählt. Und weshalb. Erobert man Rom für eine Handvoll nackter Frauen? Oder ist der der französische ➱Orientalismus in verzweifelter Suche nach neuen Themen, um nackte Frauen auf der Leinwand zu zeigen? Reichten die lebensgroßen nackten Frauen auf Delacroix' Bild Der Tod des Sardanapal den Franzosen nicht aus? Ich bleibe mal eben bei dem vae victis des Brennus und komme damit auf Versailles zurück: Clemenceau dachte gar nicht daran, sich die Siegesfreude verderben zu lassen oder die Welt wieder aufzubauen. Wie sein Vorfahre Brennus hatte er nur einen Gedanken, nämlich 'Vae victis'. Er trägt daher auch in erster Linie die Schuld, wenn wir heute noch in einer verrückten Welt leben. Seit Versailles hat sich kein Staatsmann gefunden, der die Dame Europa aus den Gleisen Clemenceaus herausführte. Diese Dame hatte bekanntlich schon als 'mythologische Frau' einen üblen Ruf, da sie sich von einem Ochsen entführen ließ.

Der Mann, der hier so despektierlich über das uns heute heilige Europa redet, ist kein Geringerer als derjenige, der für Deutschland den Versailler Vertrag unterzeichnet hat. Nach einer schon bald nach dem Friedensschluss kursierenden Anekdote soll der Graf von Brockdorff-Rantzau für seine Unterschrift weiße Handschuhe angezogen haben, die er danach auf dem Tisch liegen ließ (oder in den Kamin warf). Cool. Ist etwas an der Geschichte dran? Sie begleitet mich seit meiner Kindheit, mein Opa liebte diese Geschichte. Seit 1936 gab es die Story auch in Buchform, weil ein gewisser Wilhelm Schäfer Die Handschuhe des Grafen von Brockdorff-Rantzau veröffentlicht hatte. Danach stand die Geschichte in jedem Lesebuch der Volksschulen. Und Schäfer beginnt seine Erzählung natürlich mit dem Gallier:

Wehe den Besiegten! höhnte Brennus, der gallische König, und warf sein Schwert in die Waage, als sich die Römer über falsches Gewicht beklagten; so mussten sie den tausend Pfund, die sie als Lösegeld gaben, das Gewicht des Schwertes hinzuwiegen, um die gallischen Horden aus dem geplünderten Rom wegzubringen. Der Sieger ist nicht zivilisiert wie wir, das sind gallische Horden. Die Verträge mit dem Gewicht des Schwertes machen. Dem kann man natürlich nur mit einem symbolischen Akt entgegentreten: Dann freilich, als er sich zu seiner ganzen Länge erhob, die Handschuhe abstreifte und auf den Tisch legte, mit einer gemessenen Verbeugung das Tribunal zu verlassen, war keiner der Ankläger mehr ungewiss, was diese Handlung bedeuten sollte. Sie sahen das weiße Leder vor dem leeren Platz des Grafen auf dem Tisch von Versailles liegen; und die Sonne, die aus der verstaubten Königspracht schräge Bahnen gegen die Fenster zog, die Anwälte der Siegermächte nach ihrem Belieben zu belichten und zu beschatten; die Sonne hatte sich leise verschoben, daß auf die weißen Handschuhe ein spöttischer Strahl fiel...

Ach, ist das ergreifend. Der Autor ist zu Recht von Hitler in die Gottbegnadeten-Liste aufgenommen worden. Als ich das damals las, war ich sieben oder acht. Damals las ich auch Ritterromane. Mir gefielen die großen Gesten, also diese Sachen wie Walter Raleigh, der seinen Mantel über die Pfütze wirft, damit seine Königin trockenen Fußes darüber schreiten kann. Oder wie es so schön in Sir Walter Scotts Kenilworth heißt: The night had been rainy, and just where the young gentleman stood a small quantity of mud interrupted the Queen's passage. As she hesitated to pass on, the gallant, throwing his cloak from his shoulders, laid it on the miry spot, so as to ensure her stepping over it dry-shod. Elizabeth looked at the young man, who accompanied this act of devoted courtesy with a profound reverence, and a blush that overspread his whole countenance. The Queen was confused, and blushed in her turn, nodded her head, hastily passed on, and embarked in her barge without saying a word.
"Come along, Sir Coxcomb," said Blount; "your gay cloak will need the brush to-day, I wot. Nay, if you had meant to make a footcloth of your mantle, better have kept Tracy's old drab-debure, which despises all colours."
"This cloak," said the youth, taking it up and folding it, "shall never be brushed while in my possession."


Wenn man in der Phase ist, in der man Sir Walter Scott liest, hat man immer ein offenes Auge für Pfützen und Königinnen. Aber eines Tages liest man ➱Mark Twain, und der sagt uns, dass das alles nicht wahr ist. Die Lektüre des Connecticut Yankee versaut einem jede Ritterromanze. Und je älter man wird, desto mehr muss man feststellen, dass so viele Dinge, an die man glaubte, nicht der Wahrheit entsprechen. Und so viele Bilder ein gefälschtes Bild der Geschichte präsentieren. Die Kaiserproklamation im Spiegelsaal hat wahrscheinlich nicht so ausgesehen wie auf dem Bild von Anton von Werner. Und vielleicht hat der Graf von Brockdorff-Rantzau bei seiner Vertragsunterschrift keine Handschuhe getragen, sondern so ausgesehen wie auf dem Photo oben. Natürlich ohne Ziggi.

Donnerstag, 27. Juni 2013

Dettingen


Da fliehen die Franzosen über den Main, viele ersaufen elendiglich. Heute vor 270 Jahren fand die Schlacht von Dettingen statt. Der englische König George II führte seine Truppen an... nein, das ist nicht ganz richtig. Sagen wir: er war irgendwo dabei. Zum letzten Mal in der englischen Geschichte ist ein Monarch in einer Schlacht dabei. Kann sich zu Hause malen lassen und sich Händels Dettinger Te Deum anhören. Können Sie ➱hier auch.

Die wahre Ursache ihrer Niederlage war ein unkluges Manöver von Harcourt und Grammont, die mit der französischen Gardebrigade auf dem rechten Flügel des Heeres standen. Sie verließen ohne Befehl ihre Stellung in der Absicht, dem linken Flügel der Verbündeten, der sich zum Main hinüberzog, in die Flanke zu fallen. Dadurch hinderten sie ihre eignen Batterien, die jenseits des Maines standen und den Verbündeten sehr unbequem waren, am Feuern. Die französische Garde hielt nicht einmal die erste Salve der Österreicher aus. Sie ergriff schimpflich die Flucht und stürzte sich in den Main, wo sie ertrank. Nun verbreiteten sich Mutlosigkeit und Schrecken im ganzen Heere. Prinz Ludwig von Braunschweig, der in der österreichischen Armee diente, konnte den König nur mit größter Mühe bewegen, Befehl zum Vorrücken seiner Engländer zu geben. Und doch waren sie es, die die Franzosen zur Umkehr und zum Rückzug über den Rhein zwangen.

Die Franzosen scherzten über ihren Rückzug. Man nannte diese Schlacht den 'Tag der verunglückten Stäbe', weil Harcourt und Grammont ihren Angriff nur in der Hoffnung unternommen hatten, zum Lohn ihrer Tapferkeit den Marschallsstab zu erhalten. Der französischen Garde gab man den Spottnamen 'Main-Enten'. An Noailles' Wohnung hängte man einen Degen mit der Inschrift auf: 'Du sollst nicht töten'. Freilich hätte der Marschall nicht bei seinen Batterien am andern Mainufer bleiben dürfen. Wäre er beim Heere gewesen, so hätte er der französischen Garde niemals erlaubt, so zur Unzeit anzugreifen; und hätten die Truppen ihre Stellung nicht verlassen, so hätten die Verbündeten sie niemals daraus vertreiben können.

Dem König von England trug die Schlacht bei Dettingen weiter nichts ein als Lebensmittel für seine Truppen. Die hannöversche Artillerie wurde gut bedient. Einige hannöversche und österreichische Regimenter, besonders das Regiment Styrum, zeichneten sich aus. Den größten Anteil am Siege hatte Neipperg; Prinz Ludwig von Braunschweig unterstützte ihn trefflich. Von diesem Prinzen, der Augenzeuge gewesen war, weiß ich, daß der König von England während der ganzen Schlacht zu Fuß vor seinem hannöverschen Bataillon stand, den linken Fuß zurückgesetzt, den rechten Arm mit dem Degen in der Hand ausgestreckt, etwa wie ein Fechtmeister, der einen Quartstoß ausführen will. Er gab Beweise von Tapferkeit, aber keinen Befehl für die Schlacht.


Ein Schlachtbericht, der besser als jeder Wikipedia Artikel ist. Der Verfasser ist Friedrich II, derjenige der den Österreichischen Erbfolgekrieg erst in Gang gebracht hat, als er Schlesien besetzte. Vielleicht ist er deshalb doch nicht der beste Chronist. Auch der Poet Thomas Martin, dessen Poem on the Late Action at Dettingen man damals für sechs Schilling kaufen konnte, ist niemand, der wirklich etwas über die Schlacht weiß. Man liest den Anfang: Ye Sacred Nine, your Aid once more Impart, Assist the Dictates of a British Heart ; Great George's Acts I sing my Breast inspire With Numbers lofty as those Acts require und verzichtet dankbar auf den ➱Rest. Wenn Sie glauben, das sei schon schlimm, dann lesen Sie ➱hier doch das Lob- und Heldengedicht des holländischen redlichen Patrioten Wilhelm von Haaren auf Se. Kön. Großbritt. Majestät.

Ertrinkende Franzosen, denen man den Spottnamen Main-Enten gibt, ein Schlachtfeld voller Toter. Und ein heldenhafter König. Und alles nur wegen der Lebensmittel für seine Truppen. Der englische König hat übrigens, kaum dass die Schlacht zu Ende war, auf dem Schlachtfeld opulent getafelt.

They say it was a shocking sight
After the field was won—
For many thousand bodies here
Lay rotting in the sun;
But things like that, you know, must be
After a famous victory.


Das ist aus dem vielleicht berühmtesten englischen Antikriegsgedicht, ➱After Blenheim, das Robert Southey in seiner revolutionären Phase geschrieben hat. Es handelt zwar von der Schlacht von ➱Blenheim und nicht der von Dettingen, aber das Gedicht passt immer. Vor allem die letzten Zeilen:

'But what good came of it at last?'
Quoth little Peterkin.
'Why that I cannot tell,' said he,
'But 'twas a famous victory.'

Mehr zu der Schlacht von Dettingen in dem Post ➱Hastenbeck.

Mittwoch, 26. Juni 2013

George Whiting Flagg


Der amerikanische Maler George Whiting Flagg wurde heute vor 197 Jahren geboren. Wenn Sie ihn nicht kennen, haben Sie nichts verpasst. Es gibt auch im 19. Jahrhundert interessante amerikanische Maler, dieser Historien- und Genremaler gehört allerdings nicht dazu. Und die anderen Flaggs auch nicht, es ist erstaunlich, wie viele aus dieser Familie gemalt haben. An einen wird man sich wegen seines Portraits von ➱Mark Twain erinnern. George Whiting Flagg bekommt hier auch nur eine kurze Erwähnung, weil dieses herzzerreißende Bild The Match Girl (da müssen wir doch gleich an Andersens Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen denken) inzwischen ein zweites Leben bekommen hat.

Es ist jetzt nämlich auf dem Buchdeckel von John Baileys The Lost German Slave Girl (vor zehn Jahren bei Macmillan erschienen) verewigt, und da passt es auch hervorragend. Wenn Sie mich jetzt fragen, was dieser Titel bedeuten soll, muss ich Ihnen sagen, dass es wirklich dieses lost German slave girl gegeben hat. Es ist die Geschichte von ➱Sally Miller, einer Frau, deren Leben amerikanische Rechtsgeschichte geschrieben hat. Die ja so häufig eine Unrechtsgeschichte ist. Die Story selbst, die im Untertitel The Extraordinary True Story of Sally Miller and Her Fight for Freedom in Old New Orleans heißt, ist nichts sensationell Neues, schon im 19. Jahrhundert hatten sich amerikanische Schriftsteller des Themas angenommen. George Washington Cable erwähnt den Gerichtsfall in seinem Buch ➱Strange True Stories of Louisiana. Aber manche Geschichten müssen immer mal wieder erzählt werden.

Der Australier ➱John Bailey ist Lehrer und Rechtsanwalt gewesen, bis er den Mut gefasst hat, sich völlig dem Schreiben zu widmen. Inzwischen hat er sechs Bücher geschrieben, von denen die letzten drei Sachbücher The Lost German Slave Girl, Mr Stuartís Track (über John McDouall Stuart, der als erster Australien durchquerte) und Into the Unknown (über den preußischen Entdecker Ludwig Leichhardt) wohl die besten sind. John Bailey hat seine eigenen Ziele beim Schreiben: My purpose in writing is to get people interested in what I am interested in. For example, the law of slavery, like all law, is complex and some would say, tedious. However, if the injustice and illogicality of slave law is exemplified in an individual case, then it becomes interesting and vital. My intended audience is the general public, the average reader. Thus in all my books, I make detours to expand on bare historical sources to inject a sense of the times and to reflect upon the thoughts of the persons involved. All historians do this; I do it more than most. Academics claim they never do it. This is not to say that I have let fancy fly. My books are not works of fiction. They are as true as I can make them, as I understand the truth of what happened.

Gut, das alles ist nicht ganz neu. Seit Thomas Babington Macaulay seinen Zunftgenossen empfohlen hat, so wie Sir Walter Scott zu schreiben, haben viele englische und amerikanische Historiker begriffen, dass eine Geschichtsschreibung auch einen guten Erzähler braucht. Und das können ja viele auch, von Christopher Hibbert bis Simon Schama. Zu deutschen Historikern fällt mir da gerade niemand ein. Was aber auch daran liegen könnte, dass ich die meisten gar nicht erst lese. Meine Idealvorstellung wäre, dass wir ganz viele Wolfgang Schivelbuschs hätten, aber das haben wir leider nicht. Was mir zur Zeit am besten gefällt, sind solche Bücher wie Julia Blackburns The Emperor's Last Island: A Journey to St Helena (das ich noch einmal las, als ich St Helena in dem Post ➱scrimshaw erwähnte) und diese Bücher, die ich in dem Post ➱Biographien vorgestellt habe.

Von daher gesehen, ist ein Autor wie John Bailey sicher interessant. Leider ist er kein wirklich guter Erzähler, zu dem ihn manche Rezensenten emporschreiben wollen. Manchmal hat man bei The Lost German Slave Girl das Gefühl, dass man in einem Illustriertenroman ist: This much we know: that on a bright, spring morning in 1843, Madame Carl Rouff left her timber-framed house in Lafayette to travel across New Orleans to visit a friend who lived in the Faubourg Marigny. It was a distance of four miles, following the bend of the Mississippi as it turned abruptly on itself in its winding course to the Gulf. She caught the mule-driven omnibus along Tchoupitoulas Street to the city, a journey of an hour and a quarter, swaying gently as she watched the unloading of the keelboats, skiffs, and packets anchored alongside the levee. She had allowed herself plenty of time, so it was without urgency that she alighted and crossed the expanse of Canal Street to enter the Vieux Carré. She had only a vague idea of how the streets fit together in the narrow grid at the back of the Place d'Armes, so doggedly she followed Bourbon Street, hoping eventually to run into Esplanade Avenue, which would guide her to her destination....

Soweit, so gut. Straßennamen und ein wenig Atmosphäre in das literarische Potpurri hinzuwerfen, macht sich immer gut. Und der ganze sentimentale Ton passt auch hervorragend zu dem Cover mit dem Bild von George Whiting Flagg (Sentimentalität hat Carol Wilson nicht nötig, die kurz nach Bailey ein ➱Buch über Sally Miller herausbringt). Aber nachdem wir von Bailey leicht sentimental und leicht atmosphärisch eingestimmt sind, meldet sich, die Erzählillusion durchbrechend, abrupt ein zweiter Erzähler zu Wort: Over a century ago, two Louisiana writers, J. Hanno Deiler (a professor at Tulane University in New Orleans) and George W. Cable, working independently of each other, told the story of the Lost German Slave Girl. Deiler's article appeared as a pamphlet in a German-language newspaper in New Orleans in 1888. Cable's version appeared in The Century Magazine of 1889 and was later included as a chapter in his Strange True Tales of Louisiana. Since neither spoke to either Madame Carl or Mary Miller, their reports of the conversation between the two women were clearly imaginative creations, derived from hand-me-down renditions supplied by relatives. The version presented here is adapted from both these sources and from the notes of evidence of the trial when Salom Mller sought her freedom in the First District Court of Louisiana in 1844. Da klappert die Mechanik des Erzählens doch arg, unser australischer Autor muss stilistisch wohl noch etwas üben. Vielleicht sollte er einmal The French Lieutenant's Woman lesen, in dem John Fowles uns zeigt, wie man so etwas macht.

Das Bild vom Bayou in New Orleans weiter oben ist nicht von George Whiting Flagg, das ist von William Henry Buck, der ab 1860 in Louisisana malte. Was für jemanden, der in Norwegen geboren wurde, eigentlich eine erstaunliche Sache ist. Ein Bild von George Whiting Flagg hätte ich dann doch noch. Wenige Jahre, bevor Sally Miller ihren ersten Prozess führt, malt Flagg dieses Bild, das den Titel The Chess Players: Checkmate hat. Achten Sie auf die Person im Hintergrund. Da gehört sie hin, in den Hintergrund. Wo kommen wir da hin, wenn Sklaven  - schwarz oder weiß - in Amerika vor Gericht klagen wollen?

Dienstag, 25. Juni 2013

Gisela von Stoltzenberg


Immer wieder bekomme ich Anfragen von Lesern, die nach der Lektüre eines Post, in dem auf das work in progress mit dem Titel Bremensien hingewiesen wurde, anfragen, wann das Buch denn erscheint. Sie müssen noch etwas warten, es ist erst einmal auf Eis gelegt, im Augenblick gefällt mir meine Tätigkeit als Blogger besser. Viel besser. Aber ich bin von Zeit zu Zeit versucht, kleine Teile aus den Bremensien hier zu veröffentlichen. Und da ich gerade die Freiin Gisela von Stoltzenberg in dem Post Bloomsday erwähnt habe und weil die Welt, die ich in Familiengeschichte schilderte, so zu ihrer Welt passte, dachte ich mir, dass diese kleine Erinnerung an eine außergewöhnliche Frau hier ganz schön sein würde.

Im Vorwort zu seinem Buch Das heutige Englisch wird Professor Ernst Leisi der Freiin Gisela von Stoltzenberg danken. Er wird diese Widmung vier Jahrzehnte später in einem anderen Buch wiederholen, das er mit seiner Frau Ilse verfasst hat. Er dankt ihr, dass sie ihm den rechten ‘Benimm‘ - in sprachlichen und anderen Dingen – nicht vordoziert, wohl aber vorgelebt hat; vieles an unserem Buch wäre ohne sie nicht möglich gewesen. Peter Zadek wird ihr nicht danken, obgleich er ihr etwas verdankt. Als er Intendant in Hamburg ist, wird er sie aufsuchen, weil er gehört hat, dass in Trittau hinter dem kleinen Mühlenteich Deutschlands bedeutendste Shakespearekennerin lebt.

Nach einem Abend bei ihr wird er beim Verlassen des Landhauses Sonnenhof (Bild) draußen Schafe sehen und die Baronin fragen, ob sie ihm für seinen Winter's Tale einige Schafe leihen würde. Er bekommt die Schafe, aber Frau von Stoltzenberg macht sich doch Sorgen. Es ist die berühmte Aufführung von 1978, bei der Zadek die ganze Bühne mit zwei Tonnen grünem, glibberigem slime überzogen hat, die Baronin macht sich da schon Gedanken, wie sich die beiden Schafe fühlen mögen. Die Schafe kommen in allen Besprechungen vor, auch in der Zeit, die in ihrer Besprechung schreibt: Slime heißt die Kanaille, eigentlich jüngster Hit auf dem Spielzeugmarkt. Ein Freund hatte Zadek eines Tages eine Dose davon auf den Tisch gestellt und der hat's dann gleich tonnenweise bestellt. Jetzt schwabbelt es über den Bühnenboden, tropft auch in Fäden und Fladen aus dem Theaterhimmel. Ein teurer Gag? Oder Ferment eines Kunstvorgangs, wie die beiden höchst lebendigen Schafe, deren unprogrammierbares 'Bäh' den Schauspielern gelegentlich in den Text fährt? Die Engländer finden Zadek nicht so witzig: Zadek’s dreadful Winter’s Tale in Hamburg, with a provincial prose text...stage covered in green ’slime‘, live sheep, and so on.

Dass jemand am Wochenende bei Frau von Stoltzenberg vorbeischaut, um sich alles über Shakespeare erzählen zu lassen, ist kein Einzelfall, eine Vielzahl von Publikationen von deutschen Wissenschaftlern enthält im Vorwort ihren Namen. Das klingt dann so: for a number of details I am indebted to Gisela Freiin von Stoltzenberg who pointed them out in private conversations many years ago. Diese privaten Gespräche mit ihr wirken noch Jahre nach. Manche kommen auch verstohlen und heimlich vorbei, damit die Kollegen es nicht erfahren. Sie hat nicht sehr viel veröffentlicht, aber wenn es galt, eine Frau wie Elida Maria Szarota zu ehren, dann war sie in deren Festschrift natürlich mit einem Beitrag vertreten.

Sie hat niemals eine Professur für Anglistik gehabt, und doch akzeptiert sie jeder als Autorität. Wahrscheinlich liegt das daran, dass sie das Oxford English Dictionary auswendig kann (ihr Französisch ist auch perfekt). Gut, das OED kann niemand auswendig, aber wenn irgendjemand nahe daran kommt, dann ist sie es. Als ich ihr erzähle, dass ich meine Doktorarbeit nun doch nicht über englische Lyrik und Landschaftsmalerei im 18. Jahrhundert schreiben werde, sondern über den englischen Spionageroman, sagt sie mir: Der Ian, der kommt ja aus einer guten Familie. Der Ian ist natürlich Ian Fleming, und natürlich kennt sie seine Familie. Witzigerweise bekomme ich bei diesem Gespräch heraus, dass sie Graham Greene (der natürlich in meiner Arbeit auftauchen wird) überhaupt nicht ausstehen kann. Die Entschiedenheit, mit der sie sein Werk ablehnt, erstaunt mich. Wir reden nicht weiter über dieses Thema.

Vielleicht hätte ich Sir Hugh Greene, der seinem Bruder eines Tages das Graham Greene Kapitel meines Buches übersetzt, mal fragen sollen, ob sein Bruder und die Baronin sich kannten. Aber wahrscheinlich ist es seine Hinwendung zum Katholizismus, die der entschiedenen Protestantin nicht gefällt. Beinahe jeden Schriftsteller, der in den dreißiger Jahren in Paris war (und das ist die halbe Literatur des 20. Jahrhunderts), kennt sie persönlich. Von 1929 bis 1939 ist sie Wissenschaftliche Assistentin im Sekretariat des Völkerbundes in Genf. Deshalb kennt sie auch Eamon de Valera. Sie hat mir einmal ein Photo von James Joyce geschenkt. Das habe ich dann so gut weggepackt, dass ich es bis heute nicht wieder gefunden habe. Sonst habe ich noch alles, was sie mir geschenkt hat: die Bücher aus dem 18. Jahrhundert, den gläsernen Aschenbecher und den Einblick in Demut und Bescheidenheit bei der größten vorstellbaren Bildung. 

Vielleicht muss man dafür adlig sein, um diesen Stil zu haben. Seit Friedrich Heinrich, der Markgraf von Brandenburg-Schwedt, seine Geliebte Marie Magdalena Kramann zur Freifrau von Stoltzenberg gemacht hat, gibt es diese Familie. Diese Namenswahl war nicht zufällig, Stoltzenberg ist der Name seines Stammschlosses. Diese Stoltzenbergs gehören zum Haus Preußen, wenn auch nur in einer Nebenlinie. Das hat sie nie erzählt, noblesse oblige. Als ich nach Kiel komme und sofort in ihrem Proseminar über James Joyces Dubliners lande, ist sie schon weit jenseits der Pensionsgrenze. Das weiß aber niemand von uns, keiner ahnt, wie alt sie ist. Eigentlich ist sie völlig zeitlos. Sie trägt Kleider, die nur für sie geschneidert werden, eine Mischung von englischem gown und einem Überkleid. Häufig in schottischen Tartanmustern, die ihre kleine, etwas rundliche Figur elegant umhüllen. Ihre grauen Haare trägt sie in einer Pagenfrisur, sie wirkt wie aus einer anderen Epoche. Als sie geboren wurde, lebte die Königin Victoria noch. Dabei lebt die Freiin trotz ihres Alters völlig quirlig im hic et nunc. Auf alten Schwarzweißphotos wirkt ihr Gesicht jugendlich, für ihr Lachen fällt mir nur das englische Wort impish ein. 

Sie ist auf vielen studentischen Demos zu finden, ihr Name steht 1966 zusammen mit der crème de la crème der deutschen Intelligenz in der Zeit unter einer Anzeige gegen den Vietnamkrieg, sie hat eine vollständige Sammlung der Platten der Pilzköpfe aus Liverpool. Sie soll an der Sorbonne studiert haben. Hinter ihrem Doktortitel steht sc.pol. nicht phil., das ist außergewöhnlich (sie hat 1945 über Probleme der Wirtschaftsplanung im kolonialen Afrika promoviert). Ihre ganze Laufbahn ist außergewöhnlich. Sie hat Jura studiert, muss aber auch irgendwann Malerei studiert haben, sie malt gerne, schätzt ihr Talent aber gering ein. Obgleich eine Vielzahl von Malern und Malerinnen in der Familie sind. Nach ihrer Zeit beim Völkerbund ist sie 1940 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Weltwirtschaft in Kiel gewesen, hat ab dem Sommersemester 1943 englische Sprachkurse gegeben und wurde am 1. November 1946 Lektorin für englische Sprache und Geschichte.

In den dreißiger Jahren war ihr Vater, wie viele kaisertreue Adlige, im Stahlhelm und anderen Kriegervereinen. Dort wird der ehemalige königlich preußische Oberst im Großen Generalstab im Jahre 1933 bei einer Versammlung sagen Wir brauchen uns daher weder um Partei noch Parteipolitik zu kümmern. Unsere Politik heißt ’Soldatentum‘. Das würde mein Opa genau so gesehen haben. Der macht in diesem Jahr noch einen verzweifelten Versuch, seinen Frontsoldatenbund aus der Gleichschaltung zu befreien. Er fährt in seiner Stahlhelmuniform nach Berlin, um in einem Ministerium vorzusprechen, Onkel Karl kann sich noch daran erinnern, wie Opa plötzlich in Uniform beim Bruder Carl auftauchte. In der Parteileitung des Kreises Stormarn hört man die Sätze des preußischen Barons aus Trittau nicht so gerne. Und wenn er die neuen NSDAP Bürgermeister als Dorf-Mussolinis bezeichnet, hat er die Gestapo als Hals. Dies Bild zeigt die Freiwillige Feuerwehr von Trittau bei einem Konzert im Garten des Stoltzenbergschen Landsitzes, der Oberst ist selbstverständlich ein Mitglied der Feuerwehr.

Der Rechtsritter des Johanniterordens Max von Stoltzenberg ist auch Kirchenältester (er wird die Glasfenster der Kirche in Trittau spenden). Die Autorität des kaiserlichen Obristen, der einmal Militärattaché an der deutschen Botschaft in Madrid gewesen ist, wird im Ort nicht angetastet. Auch nicht in der Familie. Als seine Tochter ihre große Liebe, ihren langjährigen englischen Freund heiraten will, kommt aus seinem Mund ein schroffes Nein. Ein Engländer, der noch dazu Jude ist, das geht für den Freiherrn nicht. Wie alle wissen, opferte Tante Gila ihre Liebe der Liebe zu ihren Eltern, was für uns Heutige in Zeiten von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung nur schwer nachvollziehbar ist, resümiert ihr Neffe in seinen Lebenserinnerungen. Gisela von Stoltzenberg ist Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen, Dietrich Bonhoeffer war für sie ein Vorbild. Eugen Gerstenmaier auf keinen Fall. Der soll Kirchengelder veruntreut haben, was nicht bekannt geworden sei. Sie will aber nicht darüber sprechen. Sie ist über jedes Tagesgeschehen bestens informiert. Das Gespräch über Gerstenmaier haben wir 1969 vor dem Hintergrund der Gerstenmaier Affäre, bei der dem Bundestagspräsidenten auf Grund eines Gesetzes, an dessen Entstehung er selbst beteiligt war, 281.107 DM für eine entgangene eventuelle professorale Tätigkeit zugesprochen werden. Viele Hochschullehrer, die von den Nazis aus dem Amt vertrieben werden, erhalten keinen Pfennig. 

Viele Ungerechtigkeiten können sie aufregen. Eigentlich ist diese Frau, die damals weit über siebzig ist, eine echte 68erin. Die Texte für ihre Seminare tippt sie selbst mit mehreren Lagen hauchdünnen Durchschlagpapiers, das Institut besitzt noch keinen Photokopierer. Ihre Seminare sind klein, aber deshalb bin ich ja nach Kiel gegangen. Mit 150 Studenten im Hebbelsaal in einem Proseminar über Thomas Manns Erzählungen zu sitzen, bringt unterm Strich nichts. Mit acht Leuten in ihrem W.H. Auden Seminar zu sein, das bringt schon etwas - es wird mir eines Tages noch mehr bringen als ich ahne. Obgleich es manchmal demoralisierend ist: als ich gerade eine schöne Interpretation eines Gedichtes von Auden vorgetragen habe, bricht sie in ihr berühmtes Kichern aus. Nein, daran hätte Auden nicht gedacht. Sie sei zufälligerweise dabei gewesen, als Auden in Paris dieses Gedicht in einem Straßencafe konzipiert hätte. Obgleich das eine interessante Sichtweise sei, die ich da hätte. Aber sie zeigt mir die Schwächen meiner Argumentationskette aus dem Text heraus. Sie beherrscht die englische Sprache mit allen Nuancen wie niemand sonst. Als ich ihr meine erste Publikation über Edgar Allan Poe zusende, wird sie mir in einem langen Brief beweisen, dass ich mit einer Bemerkung über den Prosastil von Poe und Cooper absolut falsch läge; sie zitiert auch gleich ein halbes Dutzend Belegstellen, die ihr Argument unterstützen. Wahrscheinlich aus dem Gedächtnis.

Sie ist eine der wenigen, die ich in meinem Literaturstudium kennenlerne, die die Literatur wirklich liebt. Als T.S. Eliot starb, hat sie ihm Hörsaal geweint. Es ist leider in der Anglistik heute völlig aus der Mode gekommen, dass man die Literatur liebt, die Texte kennt oder im Hörsaal weint. Es ist auch leider vor meiner Zeit in Kiel gewesen, dass sie eine Vorlesung über Faulkner gehalten hat, das hat mir Peter Nicolaisen erzählt, der das Vorlesungsmanuskript besitzt. Wenn ihre Seminare ansonsten glücklicherweise nicht überlaufen sind, ihre Shakespeare Mittelseminare sind immer knüppeldicke voll. Das ist ein Pflichtkurs, ohne den kommt man nicht ins Hauptstudium. Da muss man ein Referat halten oder eine dreistündige Klausur schreiben, und diese Klausur hat es in sich. Man ist gut beraten, wenn man die Bücher von Rosamund Tuve, G. Wilson Knight und E.M.W.Tillyard kennt. Das Niveau wäre heute weit oberhalb der Staatsexamensklausuren, woran man wieder den Substanzverlust des Faches ablesen kann. Ich bin auch in ihrem Seminar über Miltons kleinere Dichtungen gewesen, was mir eines Tages, obgleich ich Milton eigentlich nicht ausstehen kann, eine schöne Substanz für meine Tätigkeit als Assistent bei Helmut Papajewski geben wird. Der wird nämlich ein Semester lang nichts als Milton machen und immer über meine Kenntnisse staunen.

Man legt ihr irgendwann den Abschied nahe, da muss sie schon beinahe achtzig sein. Sie wird ihren Lieblingsstudenten schöne Buchgeschenke machen. Eigentlich hätten wir ihr etwas Tolles schenken sollen. Sie bietet dem Englischen Seminar G. C. Lichtenberg’s ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, mit verkleinerten aber vollständigen Copien derselben von E. L. Riepenhausen (mit dem Tafelband von Riepenhausen) zum Kauf an. Das Paket liegt Monate bei Professor X auf dem Schrank und setzt schon Staub an. Irgendwann frage ich sie, was es kosten soll. Ob sie es mir verkaufen würde? Für 150 Mark (was für mich damals sehr viel Geld ist) gehören mir seitdem die gesamten Originallieferungen und der Tafelband, in dem Riepenhausen Hogarths Kupferstiche kopiert hat. Diese Geschichte zeigt aber auch, dass die Seminarleitung nur aus Banausen besteht. Einen originalen Lichtenberg nicht für die Bibliothek zu kaufen! Die Baronin wird in ihrer Wohnung im Dachgeschoß des Hauses, in dem unten die Buchhandlung Dawartz ist, eine Abschiedsparty geben, bevor sie sich auf den Familiensitz nach Trittau zurückzieht. Die kleine Gesellschaft besteht aus ausgewählten Angehörigen des Englischen Seminars, Freundinnen von ihr, die aussehen, als seien sie Malerinnen oder Bildhauerinnen (was sie wahrscheinlich auch sind) und einem jungen Schauspieler in einem wunderbar farbigen Hemd. Sieht aus, als käme es aus der Carnaby Street oder von Gucci.

Der geschäftsführende Direktor X tritt natürlich wieder in jedes gesellschaftliche Fettnäpfchen, dafür ist er berühmt. Der Picasso Druck hängt bei uns zuhause auch in der Küche, trompetet er heraus. Ja, nur ist dies ein von Picasso signiertes Original. Als X irgendwann mit einer gesellschaftlichen Ungeschicktheit (es ist erstaunlich, wie wenige Professoren sich damals gesellschaftlich benehmen können) ein kleines Gelächter verursacht, setzt er sich in eine Ecke und schmollt. Peter Nicolaisen muss eine Viertelstunde auf ihn einreden, damit er seine Abschiedsrede hält. Aber dann erleben wir die Verwandlung von Hyde zu Jekyll, er wird eine sehr erstaunliche, anrührende Rede halten. Hätte ihm eine Viertelstunde zuvor keiner zugetraut.

Ich werde die Baronin häufig in Trittau besuchen (hier eine Ecke des Gutshauses Sonnenhof). Viele ihrer Studenten werden sie noch besuchen. Ich schicke ihr alle meine Publikationen, wenn man noch jung in der wissenschaftlichen Welt ist, ist man ja auf jede Veröffentlichung stolz. Sie wird loben und tadeln, und ich nehme das ernst. Ich werde einmal beim Abendessen in Trittau einen wunderbaren faux pas begehen, wenn ich in Anwesenheit ihres Neffen, der gerade zu Besuch ist, gehässige Bemerkungen über Porsche Cabrio Fahrer in van Laack Hemden mache. Es sind bei mir immer wieder Reste aus einer revolutionären Phase vorhanden (obgleich ich selbst Hemden dieser Firma trage). Der adlige Neffe sagt mir, dass das Hemd unter seinem gelben Pullover auch von der Firma van Laack sei (wenn man adlig ist, muss man wahrscheinlich Hemden mit dem Krönchen tragen). Und sein Auto draußen auf dem Kies sei ein Porsche. Touché. Meine Frau weiß nicht, wohin sie gucken soll. Aber die Baronin bricht in ein solch ansteckendes Kichern aus, dass wir alle zu lachen anfangen. 

Der Neffe, Jobst von Nordheim, ist (obgleich er Porschefahrer ist) ein ganz reizender und gebildeter Mann. Er wird im Alter ein kleines Buch mit dem Titel Verlorene Jahre darüber schreiben, wie der Krieg und die Nazis ihm einen Teil seines Lebens geraubt haben. Der junge von Nordheim gehörte - wie der Rest seiner Familie - zur Bekennenden Kirche, Helmut Gollwitzer hatte ihn konfirmiert. Er wird Fahnenjunker im Infanterie Regiment 17 weil er glaubt, sich so allen Nazi Organisationen entziehen zu können. Es musste für ihn diese Einheit sein, die als Nachfolger der braunschweigischen Husaren ein Totenkopf Emblem tragen. Nur mit Mühe wird er in der Gefangenschaft einen jungen russischen Leutnant davon überzeugen können, dass dieses Symbol nichts mit der Totenkopf SS zu tun hat. Der Leutnant der Roten Armee spricht perfekt Deutsch, er hat vor dem Krieg in München Germanistik studiert. Kurz vor seinem Tode reicht Jobst von Nordheim noch einen Entwurf bei dem Wettbewerb für das Berliner Holocaust Mahnmal ein.

Als er noch ein kleiner Junge war, träumte Jobst von Nordheim davon, Förster in der Hanheide, den großen Wäldern von Trittau, zu werden. Ein anderer, den er eines Tages kennenlernen wird, wird diesen Traum leben. Der heißt Bernd Heinrich und ist ein weltberühmter Biologe. In seinen Memoiren The Snoring Bird: My Family’s Journey Through a Century of Biology wird Heinrich in dem Kapitel In the Enchanted Forest darüber schreiben, wie seine Familie auf der Flucht 1945 zu dem Oberst von Stoltzenberg nach Trittau gelangte. Das sind jetzt die Tage, in denen der halbe Adel des deutschen Ostens nach Schleswig-Holstein kommt. Heinrichs Vater Gerd, hatte von seinem Freund, dem Hobbyornithologen Hans von Nordheim, den Rat bekommen, zur Familie seines Schwiegervaters zu gehen. Aber der Oberst von Stoltzenberg hat das Haus schon voll mit Flüchtlingen und kann der Familie Heinrich als Provisorium nur eine Waldhütte anbieten. Dort wird der kleine Bernd Heinrich die nächsten fünf Jahre leben. Heute ist das für ihn a dreamlike fairyland in my memory. Heute lebt der emeritierte Professor in einer Blockhütte im Wald von Maine. Der Mann, der kein Förster wurde und der andere Mann, dessen Fähigkeiten zur Beobachtung der Natur im Wald von Trittau geschult wurden, haben sich übrigens eines Tages getroffen: Around 1990, when I was starting to pursue my father's roots, I received a letter from Jobst von Nordheim of Trittau, our destination after the war. Jobst had just read my book 'Ravens in Winter', and he wondered if I might possibly be Gerd's son because 'all tracks in the raven book I just read lead to Trittau and the Hahnheide and the years of the Flüchtlinge'.

Das Landhaus Sonnenhof gehört der Familie seit Ende des Ersten Weltkriegs, es hat innen schon beinahe museale Züge, alles was eine Adelsfamilie über die Jahrhunderte angehäuft hat, hat irgendwo seinen Platz. Hier ist nie etwas weggeworfen worden. Es ist auch 1945 nicht geplündert worden, die Baronin hat den englischen Truppen sehr energisch in blütenreinem Oberklassenenglisch eine kleine Rede gehalten, woraufhin die abzogen. Jeder Hamburger Antiquitätenhändler würde hier nach fünf Minuten einen Herzinfarkt bekommen, wenn er diese Ansammlung von Kunstwerken und Antiquitäten zu Gesicht bekäme. Hier gibt es blaue Spode ware aus dem 18. Jahrhundert, mindestens fünfzig Gedecke. Und überall Chinoiserien (ihr Vater ist als Offizier bei den deutschen Truppen zur Niederschlagung des Boxeraufstands gewesen).

Dies alles hat nichts von einer neureichen Inszenierung aus Schöner Wohnen, alles ist an seinem Platz, an dem es schon seit Jahrzehnten ist. Ich versuche, ein auf Holz gemaltes Ölbild, das genialisch lieblos an eine Tür genagelt wurde, zu datieren. Sie stimmt der Datierung zu Das war die Luzie, sie ist dann und dann ins Kloster gegangen, das muss also noch vorher gemalt sein. Die Luzie ist nicht gestern ins Kloster gegangen, sondern vor einigen hundert Jahren, aber es klingt bei ihr, als wäre diese junge Frau in Öl immer noch Teil der Familie. Einen Leipziger Tischbein gibt es auch, nicht weil es ein Tischbein ist, sondern weil Verwandte auf dem Bild sind. Es sind überall identifizierbare Verwandte auf den Bildern. Wenn es einmal Landschaftsbilder gibt, dann sind die von einem Mitglied der Familie wie Leo von König, bei dem seine Cousine Mary Freiin Knigge in Berlin Mal- und Zeichenunterricht gehabt hat. Die Cousine der Baronin wird heute dem Kreis der Berliner Secession zugerechnet.

1989 wird mir der Bruder, Max-Ulrich Freiherr von Stoltzenberg, mitteilen, dass seine geliebte letzte Schwester gestorben ist. Sie ist beinahe 95 Jahre alt geworden. Die Handschrift von ihrem Bruder, der neben seiner Tätigkeit als Amtsgerichtsrat in Schleswig ein renommierter Fontaneforscher gewesen ist, sieht beinahe aus wie ihre Handschrift. Ich treffe Monate später auf der Holstenstraße in Kiel G., mit der ich studiert habe. Sie fragt mich, ob ich noch Bücher aus dem Nachlass haben wolle, der Neffe habe mit ihr telephoniert. Ich weiß nicht, wo der Porschefahrer die Telephonnummer von G. her hat. Aber ich habe schon so viel von der Baronin bekommen, dass ich das großzügige Angebot ausschlage. G., die vom Kommunismus bis zum Feminismus jeden Trend mitgemacht hat, ist eine treue Seele und hat nie den Kontakt zu ihrer alten Dozentin abreißen lassen. Sie hat aber nie zu diesen elitären Intellektuellen und heimlichen Dichtern gehört, die die Baronin magisch anzog. Wie Bernhard Glienke, der für den Band Makrelen für Kalliope die einzigen wirklich guten Gedichte beisteuern. Er wird Professor in Cambridge werden und leider früh sterben. Dichter sterben immer früh.

Ihre Briefe sind über die Jahre noch immer voll von dem, was sie in einem Kommentar zu meinem Ian Fleming Kapitel als die beiden wichtigsten ’saving graces’ von Ian Fleming beschreibt: nämlich der völlige Unernst und der gute Stil. Auch sie kann herzerfrischend komisch sein, sie bewahrt sich auch im Alter ein manchmal kindliches Vergnügen an vielen Dingen. Und wenn jemand einen guten Stil schreibt, dann ist sie es. Die Villa Sonnenhof steht heute unter Denkmalschutz. Der Architekt Jobst von Nordheim hat in dem Buch eines Lokalhistorikers eine kleine, liebevolle Geschichte des Sonnenhofs geschrieben. Die Tätigkeit der Baronin ist von der Universität Kiel nie gewürdigt worden. Die Universität von Pittsburgh allerdings hat nach ihrem Tode einen Bibliotheksraum nach ihr benannt.

Es ist auch eine untergegangene Welt, die die Baronin verkörperte. Es ist eher die Welt des Hamburger Großbürgertums, wie sie Ascan Klée Gobert (der Vater von Boy Gobert) in seinen autobiographischen Skizzen so einfühlsam beschrieben hat. Es hat eher etwas von dieser Englandbegeisterung, die die Deutsch-Engländerin Gertrude von Sanden-Toussainen (die als M.B. Kennicott schrieb) in ihrem Roman Die Geschichte der Tilmansöhne heraufbeschworen hat. Ludwig Renn (der eigentlich Arnold Vieth von Golßenau hieß) hat über sein Buch Adel im Untergang gesagt: Man sollte mein Buch auch als historisches Dokument sehen, das einfach festhält, was bald niemand mehr von nahem erlebt haben wird. Wenn ich sie fragte Warum schreiben Sie das alles nicht einmal auf?, brachte ich sie damit in Verlegenheit, es gab nicht einmal ihr berühmtes Kichern. Ich glaube, sie hat in ihrer Bescheidenheit niemals ihre eigene wirkliche Größe wahrhaben wollen.

Sonntag, 23. Juni 2013

Kieler Woche


Früher war die Kieler Woche noch schön. Als Heinrich Lübke noch Bundespräsident war. Da ging die halbe Uni zur Eröffnung der Kieler Woche, weil seine Reden so wunderbar waren. Einmal sprach er nicht vom Balkon des Rathauses, sondern vom Balkon des Kultusministeriums an der Kieler Förde. Es waren beinahe nur Studenten als Zuhörer da. Seine Rede wurde von denen ständig kommentiert. Damals wurde noch viel kommentiert, vor allem im Kino. Was da alles in den Eddie Constantine Filmen in der Nachtvorstellung im Regina gesagt wurde - man hätte es mitschneiden sollen. Heinrich Lübke hat man mitgeschnitten, gab es auf einer Platte die ➱Redet für Deutschland heißt.

An jenem Tag, als Lübke an der Kieler Förde sprach, blieb ihm die studentische Unruhe nicht verborgen. Die Sitte des Kommentierens  war ihm wohl fremd, er ist wahrscheinlich auch nie in der Nachtvorstellung des Regina gewesen, um zum zehnten Mal Zum Nachtisch blaue Bohnen zu sehen. Das Staatsoberhaupt war leicht pikiert, und er sprach die schrecklichste Drohung aus, die ein Bundespräsident ausstoßen konnte: Wenn Sie weiter so ungezogen sind, dann erzähle ich Ihnen nichts mehr von der Kwiiin! Das sind Sätze, die man nie vergisst. Es erinnerte mich ein wenig an die Schwärmerei des Generalinspekteurs de Maiziere über die Königin ➱Sirikit wenige Jahre vorher.

Die Kieler Woche war auch noch schön, als Gustav Heinemann Präsident war. Ich bin ihm einmal am Abend auf dem Bellevue Fähranleger begegnet. Es waren vielleicht zwanzig Leute auf der Anlegerbrücke, die völlig überrascht waren, dass plötzlich der Bundespräsident vom Fährschiff kam. Ohne großes Gefolge. Die Leute traten verlegen zur Seite, einige klatschten. Neben mir war ein besoffener Prolli, der herumpöbelte: Ihr werdet doch alle von Pankow bezahlt, wenn ihr für den klatscht. Ich drohte ihm mit schnarrenden Offizierston an (den hatte ich noch drauf, weil ich damals in den Semesterferien häufig die Uniform zu Wehrübungen anzog), dass ich ihn in die Förde werfen würde, wenn er nicht sofort ruhig sei. Und plötzlich stand ein kleiner Mann in einem hellbraunen Anzug neben mir, der eine ovale Messingmarke aus der Hosentasche zog und fragte, was hier los sei. Ich sagte ihm, dass der besoffene Typ neben mir gerade den Bundespräsidenten beleidigt hätte. Und schwupps, hatte er den Prolli am Arm und führte ihn eine Seitentreppe des Anlegers hinunter. Eddie Constantine hätte das nicht besser gekonnt. Gustav Heinemann hat nichts davon gemerkt.

Betrunkene Prollis waren damals auf der Kieler Woche noch nicht die Regel. Heute schon. Damals war es noch eine Veranstaltung für Segler mit ein wenig kulturellem Beiprogramm. Ich beherbergte die Woche über immer Segler aus meinem Heimatort, die mir regelmäßig alle Alkoholvorräte wegtranken, mich aber immer mal auf ihrer Yacht mitnahmen. Das waren zuerst noch schöne Mahagoniboote, später wurden Rennziegen daraus. Also diese Dinger, wo unter Deck nichts ist, als eine Nähmaschine zum Segel nähen. Mit dem kulturellen Beiprogramm wurde es mehr, als ➱Dieter Opper Leiter des Kieler Kulturamts wurde. Der war freier Künstler, später ist er Kunstlehrer an der Kieler Gelehrtenschule geworden. Hier auf diesem alten Photo steht er rechts außen. Der kleine Typ links neben ihm ist Markus Lüpertz (mit dem Opper die Gruppe Großgörschen 35 gründete), der fährt heute Rolls Royce und trägt Maßanzüge. Dieter Opper ist leider schon tot, aber so wie Lüpertz ist er nie herumgelaufen. Er trug immer Cordjacketts und Cordanzüge, hatte die Haare schulterlang, anstelle eines ➱Schlipses baumelte ihm selbstgemachte Kunst auf der Brust.

Er hat in den acht Jahren in Kiel als Leiter des Kulturamts sehr viel bewegt (er hat sicher in Bremen, wo den Rang eines Staatssekretärs bekam, auch viel bewegt, aber glücklich war er da nicht). Und er hat die Spiellinie auf der Kiellinie erfunden. Kilometerlange kostenlose Kreativität auf der Kieler Woche. Das war toll. Es gab von Opper auch ein bisschen Theorie dazu, die von gesellschaftlich notwendige Entwicklung kreativer Fähigkeiten, die Herausbildung bewußter Wahrnehmung und die damit verbundene Befähigung zur Auseinandersetzung mit Lebensbedingungen und ihrer möglichen Veränderung sprach. Theorie musste damals sein. Spielen ohne Theorie geht nicht. Ich habe eine englische Straßentheatergruppe mit dem schönen Namen Sheer Madness nicht vergessen, die da einen Hamlet in fünfzehn Minuten aufführten. Mit Gesangseinlagen. Da war Zadeks ➱Hamlet in Bremen nichts dagegen. Die Gruppe war von einer Frau namens ➱Minnie Marx gegründet worden (die auch beinahe alle Hauptrollen spielte), und Sheer Madness waren wirklich gut. Ohne alle Theorie. Heute gibt es immer noch eine Spiellinie, aber mit der Kreativität ist es dahin, da herrscht der Kommerz. Und die Bierbuden und der Schwenkgrill. Dicht an dicht. Und dazwischen Millionen von Besuchern, weil dies das größte Volksfest Europas sein soll. Heute definieren sich Volksfeste durch die Besucherzahlen. Und die Zahl der Bierbuden, Schwenkgrills und der Dixie Klos.

Gesegelt wird auch noch irgendwo, weit draußen in der Förde, aber das scheint niemanden mehr zu interessieren. Die Zeit, da Albert Einstein auf der Kieler Förde segelte, ist unwiederbringlich vorbei. Die Tage, in denen Theodor Fontane die Förde mit Gelb wird das Laub, es rötet sich die Frucht, In blauer Stille liegt die Kieler Bucht, Es schweigt der Wind, die Fläche zittert kaum, Und nur die Möwen sind wie Wellenschaum bedichtete, sind auch passé. Jetzt ist Ballermann angesagt, Lotto King Karl kommt auch. Und bekannte Stars aus Verbotene Liebe und anderen Vorabendserien. Wenn das nichts ist.

Viele Kieler meiden jetzt die Stadt und das Fördeufer. Dieser Blogger auch. Ich war am Donnerstag zu letzten Mal in der Stadt, um mir eine Dose Tabak zu kaufen. Der Händler sagte mir, eigentlich könnte er seinen Laden jetzt dichtmachen. Die dreihunderttausend Besucher pro Tag verirren sich nie in die Nebenstraßen, und die Kunden kommen sowieso nicht mehr in die City, weil die abgesperrt ist. Auch die großen Läden entlang der Holstenstraße klagen regelmäßig über Besucherschwund. Wer sich von Bierbude zu Bierbude und Schwenkgrill zu Schwenkgrill bewegt, kauft nicht noch bei P&C oder Anson's ein. Die Stadt Kiel klagt auch, weil die Kieler Woche für sie jedes Jahr ein Zusatzgeschäft ist. Aber sie haben ja einen solventen Sponsor, einen Premiumpartner, der HSH Nordbank heißt. Das ist diese Bank, die immer hart an der Pleite segelt (um mal in der maritimen Bildlichkeit zu bleiben).

Ich habe am Donnerstag nicht nur Tabak gekauft, ich bin noch bei ➱Kellys reingehuscht, um Herrn Rieckhof Tschüs zu sagen. Und da war dieser nette Vertreter der Firma Dinkelacker, hatte drei Koffer voll mit den Modellen der laufenden Kollektion. Da musste ich natürlich etwas bleiben. Habe auch einen Katalog bekommen, obgleich er eigentlich keinen mehr hatte. Im Schwäbischen würde man dazu sagen, dass ich ihm den aus dem Kreuz geleiert hätte, sagte er augenzwinkernd. Wenn Sie jetzt keinen Katalog haben, klicken Sie einfach ➱hier. Oder lesen Sie den netten Post, der ➱Dinkelacker heißt. Ich habe jedes Jahr zur Kiel Woche meinen Heuschnupfen, dafür kann die Kieler Woche zwar nichts, aber ich bin dann immer mit entzündeten Augen und laufender Nase etwas misslaunig. Und deshalb bete ich immer zum Wettergott, dass er uns eine Woche Regen bescheren möchte. Wenn es regnet, fliegen die Pollen nicht. Und die drei Millionen Touristen werden klatschnass. Die ersten beiden Tage der Kieler Woche hat mich der Wettergott jetzt schon erhört.

Noch mehr zur Kieler Förde finden Sie hier unter ➱Max Oertz und ➱Cutty Sark. Cutty Sark ist witzig, dies hier heute ist eher traurig.

Freitag, 21. Juni 2013

Tischbein


Johann Friedrich August Tischbein, den man auch den Leipziger Tischbein nennt, ist heute vor 201 Jahren gestorben. Seinem Onkel, dem Kasseler Tischbein, habe ich hier vor einiger Zeit schon einen langen ➱Post gegönnt. Obgleich ich ihn ja nicht so sehr mag. Aber den Leipziger Tischbein finde ich eigentlich ganz charmant. Der Herr auf diesem 1791 gemalten Bild heißt Nicolas Châtelain. Er ist ist gerade einundzwanzig Jahre alt und ist das, was man vor hundert Jahren einen Elegant genannt hätte. Das Wort steht natürlich noch in Heyses Fremdwörterlexikon von 1903, das ich von meinem Opa geerbt habe. Mit der schönen Definition: ein Stutzer, Modeherrchen. Das Wort Modeherrchen gefällt mir ganz besonders. Es ist leider ein wenig aus der Mode gekommen, wie all diese schönen Synonyme für den ➱Stutzer: Geck, Fant, Zierbengel, homo elegans, Prunkebold, Modeherrchen, Zierling, Monsieur Alamod, Damoiseau und gallant. In Zeiten, in denen ein Kapuzenshirt und eine Basecap modische Highlights sind, nimmt das nicht wunder.

Monsieur Chatâtelain hat keine Lust, ins heimatliche Frankreich zu reisen, da beginnt jetzt die Revolution. Er lebt lieber in Rolle im Kanton Waadt (wo er im Alter von 87 Jahren auch sterben wird). Und was tut er den ganzen Tag? Er schreibt. Nichts Originales, er imitiert andere Schriftsteller wie zum Beispiel Voltaire oder Madame de Sevigny. Aber so perfekt, dass man seine Werke für das Original hält. Man kann sie heute noch kaufen Pastiches: Ou, Imitations Libres Du Style De Quelques Écrivains Des Xviie Et Xviiie Siècles ist bei Amazon noch lieferbar. Er will sich bei seiner Tätigkeit auch nicht mit fremden Federn schmücken, er heißt nicht ➱Guttenberg. Er ist ein Kleinmeister des Pastiche, und er macht das zu seinem eigenen Vergnügen. Und viele seiner Zeitgenossen goutieren das.

Nicolas Châtelain hat diesen schönen französischen Namen, aber er ist in Rotterdam geboren, wo sein Vater Daniel Zacharias Châtelain Pastor war. Und seine Mutter, und das überrascht dann doch ein wenig, heißt Johanna Jacoba Smidt und kommt aus Bremen. Na, da können wir Butenbremer den eleganten Nicolas Châtelain ja beinahe als einen von uns betrachten. Die Châtelains waren natürlich einmal Franzosen, aber wie so viele hugenottische Glaubensbrüder haben sie Zuflucht in den Niederlanden gefunden. Ein Zacharias Châtelain ist Buchhändler und Verleger in Amsterdam gewesen und hat 1705 den berühmten ➱Atlas Historique verlegt. Wahrscheinlich ermöglicht der Reichtum der fleißigen Hugenotten es unserem jungen Dandy Nicolas, ein sorgenfreies Leben in der Schweiz zu führen. Und sich von dem Leipziger Tischbein malen zu lassen.

Der wirklich manchmal große Momente hat. Wie auf diesem Bild des Leipziger Kaufmanns Jacob Ferdinand Dufour Feronce. Und natürlich auf dem Bild mit unserem Dandy Châtelain. Beide Bilder haben einen Hauch von der englischen Portraitmalerei - gut, er kommt nicht an ➱Gainsborough, ➱Reynolds oder ➱Raeburn heran, das weiß ich auch. Solch Gedanke wurde offensichtlich auch in dem Leipziger Katalog 3 x Tischbein und die europäische Malerei um 1800 geäußert. Was aber Richard Hüttel hier geschrieben hatte, konnte den Rezensenten von ➱Sehepunkte nicht überzeugen: Johann Friedrich August Tischbein hat endlich in der Gattung Porträt einen späten, aber dafür glanzvollen Auftritt und die hier in unvermuteter Fülle aufgeführten Vergleichsbeispiele der englischen Bildnismalerei (Reynolds, Gainsborough, Romney) dienen vor allem der kunsthistorischen Einordnung seines Œuvres. Die genauere Bestimmung dieses Einflussverhältnisses bleibt indessen unklar. So legt die These, Johann Friedrich August Tischbein sei von Gainsboroughs Technik sichtbarer Farbschraffuren ("hatchings") beeinflusst worden (Kat.-Nr. 68), eine intime, historisch nur schwer zu rekonstruierende Kenntnis von dessen Werk nahe (Gainsborough hat England nie verlassen, Johann Friedrich August Tischbein hat es nie betreten). Soweit zu sehen, hat der als Porträtist viel beschäftigte 'Leipziger Tischbein' seinen Auftraggebern nirgendwo einen derart kühnen, leicht als 'unfertig' misszuverstehenden Farbduktus zugemutet.

Ach, ich weiß nicht. Auch wenn Gainsborough England nie verlassen hat, Johann Friedrich August Tischbein es nie betreten hat, es gibt jetzt im 18. Jahrhundert alle Sorten von Stichen. Und so weit wie der Leipziger Tischbein gereist ist, wird er bestimmt auch mal den einen oder anderen Engländer an der Wand einer Sammlung gesehen haben. Wenn irgendetwas im 18. Jahrhundert international ist, dann ist das die Malerei. Johann Friedrich August Tischbein ist über Jahrhunderte der unterschätzteste der Tischbeins gewesen. Das kann man noch heute bei dem musée imaginaire sehen, das Google unter seinen Bildern anbietet. Dürftig, dürftig.

Ich finde das Bild vom Künstler mit seiner Familie ganz reizend. Zwischen dem Familienbild und dem Bild der Töchter als Allegorien von Malerei und Musik (Caroline ist ja auch Künstlerin geworden) liegen einige Jahre. Die Töchter sind groß geworden. Haben sie wirklich so sexy ausgesehen wie auf dem Bild da unten? Oder ist das alles nur schöner Schein? Wie dieses Familienbild, das die jüngste Tochter später radikal beschneiden ließ. Und eine Übermalung des Vaters im Hintergrund verlangte (der ist erst durch eine Restaurierung nach langer Zeit zum Vorschein gekommen): Der Ausdruck ihres Vaters, der ein sehr heftiger, jähzorniger Mann gewesen war, rief so viele Jugenderinnerungen in ihr wach, die ihr nicht angenehm waren. Schein und Realität. Oder wie ➱Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit sagt: Und damit kommen wir zum innersten Kern des Rokokos: es war eine Welt des Theaters. Niemals vorher oder nachher hat es eine solche Passion für geistreiche Maskerade, schöne Täuschung, schillernde Komödie gegeben wie im Rokoko. Aber wollen wir wirklich wissen, wie es hinter den Kulissen aussieht? Wir lassen lieber Nicolas Châtelain in seiner schönen Pose stehen, lassen die Familie des Malers heil und die Töchter schön und sexy.