Montag, 5. Juli 2021

Geistiges Bremen


In seinem luxuriös und geschmackvoll ausgestatteten Arbeitszimmer gesteht mir der emeritierte Bonner Ordinarius Helmut Papajewski, dass er 1930 beinahe nach Bremen gezogen wäre. Er hatte eine kleine Erbschaft gemacht, und Bremen sei ihm damals als das Zentrum des geistigen Lebens in Deutschland erschienen. Wir sind in Köln, in einem ruhigen vornehmen Vorort. Heinrich Böll wohnt um die Ecke. Hat sich furchtbar für den Bau des Hauses in dieser Gegend verschuldet, ist dann erstmal nach Irland abgehauen. Mit dem Erfolg vom Irischen Tagebuch war das Haus dann schuldenfrei. Papajewski teilt sich sein Haus mit dem emeritierten Romanistikprofessor Werner Beinhauer, der bei Leo Spitzer promoviert hat und gerade einen hohen spanischen Orden bekommen hat. Frau Beinhauer besorgt den Haushalt. Beinhauer ist ein reizender, hochgebildeter, feiner Mensch, der mir gesteht, dass er eigentlich Violinist werden wollte. Er ist auch in der Fachwelt und in Spanien berühmt, El Pais wird ihn nach seinem Tod 1983 mit einem Nachruf würdigen. Es ist 1969, draußen an den Unis tobt die Revolution. 

Das weiß Papajewski auch, er war letztes Jahr in Paris, mittendrin im Mai 1968. Hat damals eine kleine Picassographik (signiert) gekauft, von dem Honorar, das ihm Roger Asselineau noch schuldig war. Papajewski hat sich gerade bereit erklärt, seinen Ruhestand gegen eine Lehrstuhlvertretung in Kiel zu tauschen. Seine Bedingung war ein gebildeter Assistent, möglichst Kunsthistoriker, der ihn mit seinem Auto überall herumfahren kann. Das bin nun ich, mit Sondergenehmigung des Kultusministers (ich habe noch kein Examen), weil es offensichtlich im ganzen Englischen Seminar in Kiel keine gebildeten Kunsthistoriker mit Führerschein gibt. Unsere erste Fahrt führt uns mit seinem schon betagten milchkaffeefarbenen Käfer nach Bonn an seine alte Wirkungsstätte, er zeigt mir die Uni, showing off, grüßt leutselig Kollegen. Das da eben war Alewyn, sagt er zu mir. Ich sage ihm, dass ich Alewyns Buch über das Barocktheater gelesen hätte. Sie müssen nicht alles glauben, was er schreibt, sagt Papajewski. Er ist kein guter Lateiner und außerdem fährt er einen grünen DKW. Das ist offensichtlich das Schlimmste, was man in der Welt der Professoren tun kann, einen grünen DKW fahren.

Aber einem Bremer damit zu kommen, dass seine Heimatstadt ein Weimar des Nordens ist, das verblüfft mich schon. Ich ahne schon, worauf er hinaus will: Rudolf Alexander Schröder, Rilke, Kippenberg, Heymel, Marga Berck und Die Goldene Wolke, Worpswede und so weiter, dieses intellektuelle Idyll der Bremer Kulturpostkarte. Es läuft, wie ich es gefürchtet habe, darauf hinaus. Ich kann mit der Nennung von Namen und Werken mithalten. Aber außer Marga Berck und ihrem Ehemann Gustav Pauli, dem Bremer Kunsthallendirektor, interessiert mich die ganze Rudolf Alexander Schröder Clique überhaupt nicht. Das wird meinem Freund Peter in Hamburg wehtun, der mich schon mehrmals gefragt hat, warum ich nicht über RA Schröder schreibe.

Papajewski ist ein gebildeter Mann mit Stil, der großbürgerlich lebt. Er trägt Schneideranzüge, bezieht seinen Rotwein von Reidemeister & Ulrichs in Bremen und seine Marmelade von Fortnum & Mason in London. Er hat einen Leserausweis für den reading room des British Museum, da wo Karl Marx sein Kapital geschrieben hat. Er ist in den dreißiger Jahren lange in London gewesen, hat jahrelang für die Anglia den Brief aus London geschrieben. Ist während des Krieges in Italien eine Woche von der Truppe ausgebüchst, um Mario Praz in seinem Palazzo zu besuchen. Das imponiert mir wirklich, weil ich Praz (der im übrigen auch ein Kunsthistoriker von Rang ist) für den größten aller Anglisten halte. Papajewski konnte sich das erlauben, weil kein richtiger Soldat war, er war im Oberkommando der Wehrmacht für die Dolmetscherausbildung zuständig. Seinem von den Nazis amtsenthobenen Professor Theodor Spira hat er als unbezahlter Assistent die Treue gehalten. In seinen Schriften findet sich keine Spur des nationalsozialistischen Geistes. Es ist vielleicht passend, dass der auswärtige Gutachter bei seiner Habilitation, Johannes Hoops, ein Bremer ist. 

Papajewski und ich sind beide Produkte des Bürgertums, aber wir leben in Paralleluniversien. Sein London in diesen Jahren ist ein anderes als mein Swinging London, und Rudolf Alexander Schröder ist definitiv nicht meine Welt. Papajewski hätte wohl auch Probleme mit Otto Proksch. Er ist definitiv kein Arno Schmidt Leser. Wir werden uns sehr schnell fetzen. Assistenten sind für Ordinarien in dieser Zeit ja das Äquivalent von Haussklaven auf Südstaatenplantagen in der Antebellum Epoche. Nicht ich, ein steifer Bremer mit dem sturen westfälischen Kopp von Opa. Wir raufen uns aber auch schnell zusammen, jemanden wie mich hat Papajewski noch nie erlebt, ich nötige ihm einen gewissen Respekt ab. Wenn er mir eine Vergilpassage zum Übersetzen gibt (wo sind wir hier eigentlich? er will mich natürlich testen) nölt er, dass er schon mal bessere Hexameter gehört habe. Woraufhin ich beim Verlassen seines Büros den Anfang der Äneis aufsage, mit blütenrein akzentuierten Hexametern. Sowas nötigt ihm dann wieder Respekt ab. Wir werden für ein Jahr trotz unterschiedlicher politischer und kultureller Meinungen in diesen revolutionären Wirren ein gutes Team sein. Und uns noch in allen kommenden Jahren respektieren.

Und da bin ich wieder bei Rudolf Alexander Schröder und dem geistigen Bremen. Auf allen Photos trägt er einen sehr dunklen Westenanzug, ein weißes Hemd und einen silbernen Schlips. Bei Leuten wie ihm müßte das jetzt wohl Krawatte heißen. Er sieht immer aus wie ein deutscher T.S. Eliot, wie der ist er auch immer Christ. Das trägt Schröder beinahe ebenso laut vor sich her wie Manfred Hausmann, der immer durchgeistigter wird und der jetzt nicht mehr Nazi, sondern Laienprediger ist. Es ist chic in der Bremer Gesellschaft, zu seinen Weihnachtspredigten nach Farge zu fahren. War ich auch einmal, aber dann höre ich doch lieber den wunderbar polternden Pastor Hemmelgarn in Grohn. T.S. Eliot hat noch eine andere Seite, er kann witzig sein, wie man seinem Katzenbuch oder seinen Essays über die Kultur, Notes towards a definition of culture (1948), entnehmen kann. Dort definiert er die englische Kultur nicht als eine Hochkultur für Träger von schwarzen Anzügen und silbernen Schlipsen:

Es gehören dazu alle charakteristischen Betätigungen und Interessen eines Volkes: das Derby, die Henley Regatta, Cowes, der zwölfte August, eine Schlussrunde im Pokalwettkampf, die Hunderennen, der Groschen-Glücksautomat, das Wurfpfeilspiel, Wensleydale-Käse, Kohl, im ganzen gekocht und dann in Scheiben geschnitten, Rote Rüben in Essig, gotische Kirchen aus dem neunzehnten Jahrhundert und die Musik von Elgar. Und dann müssen wir mit dem seltsamen Gedanken Ernst machen, dass das, was ein Teil unserer Kultur ist, auch ein Teil unserer gelebten Religion ist.

Solche Sätze sind für die Gralshüter des geistigen Bremens sicherlich Ketzerei. Für die beginnt Bremer Kultur mit dem Gymnasium Illustre und geht dann über Otto Gildemeister bis zu RA Schröder. Dass Betty Gleim mit ihren pädagogischen Schriften und dem Bremer Kochbuch (1808) zur Kultur gehört, werden sie nicht glauben. Dass eines Tages jemand einen Doktortitel für eine Dissertation über die Kohl- und Pinkelfahrten bekommen wird, werden sie nie verstehen. T.S. Eliot hätte es verstanden.

Der Bremer Bürgermeister Johann Smidt, für viele der bedeutendste Bremer im 19. Jahrhundert, ist noch am Gymnasium Illustre gewesen, einer Institution, die es seit 1528 gibt. Zuerst eine Lateinschule, bekommt sie 1610 den Status einer städtischen Hochschule, allerdings ohne das Recht, akademische Grade verleihen zu dürfen. Der berühmte Baron Georges de Cuvier, dessen Name in goldenen Lettern am Eiffelturm steht, wird als Generalinspecteur des Bildungswesens 1811 den Vorschlag machen, diese Hochschule als Basis einer Universität zu nehmen. Es kommt nicht dazu, auf eine Uni wird Bremen noch 150 Jahre warten müssen. Das Gymnasium Illustre existiert nur noch auf dem Papier und wird dann zur Keimzelle des Alten Gymnasiums. 

Die Schüler dieser Bildungsanstalt, an die wir unsere hervorragende Kunstlehrerin Waltraud Otto verloren, werden sich in meiner Schulzeit allen anderen Gymnasiasten Bremens überlegen fühlen. Ohne jede Berechtigung. Der einzige Beitrag zur Kultur des Alten Gymnasiums wird Peter Zadeks Film Ich bin ein Elefant, Madame sein. Der Direktor des Bremer Staatsarchivs Friedrich Prüser wird in einem kleinen Büchlein, Das Bremer Gymnasium Illustre, die vergangene Bildung feiern. Nun hat ja jede Stadt, die etwas auf sich hält, eine Lateinschule mit Tradition, aber eine Schule wird es für eine kurze Zeit in Bremen geben, die es so nirgendwo gibt. Betty Gleim wird 1806 eine Lehranstalt für Mädchen gründen. Betty Gleim ist die Nichte des Dichters der Aufklärung Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Sie ist von Rousseau beeinflusst, na ja, vielleicht nicht von dessen Idee, die unehelichen Kinder im Findelhaus abzugeben. Sie wird eine Verehrerin Pestalozzis sein und wird dessen pädagogische Ideen auf die Erziehung des weiblichen Geschlechts (so der Titel ihres Hauptwerks) übertragen. Den Männern gefallen, ist zu wenig, wird ihre Devise sein, aber ihre Schule wird keine zehn Jahre überdauern, Bildung für Frauen ist für die Bremer in der Franzosenzeit kein Thema. Obgleich der Bremer Senat gerade die Amtstracht und die Perücken für Senatoren abgeschafft hat, so fortschrittlich ist er denn doch nicht. Ihr Bremer Kochbuch werden die Bremer dagegen lieben, es wird im 19. Jahrhundert dreizehn Auflagen erfahren. 

Doch Betty Gleim bleibt nicht ohne Echo, August Kippenberg wird ihre reformerischen Gedanken aufnehmen und eine Höhere Töchterschule und ein Lehrerinnenseminar gründen. Seine Söhne Anton und August zählen mit ihm zur vorzeigbaren Bremer Kulturelite, der eine durch die Gründung des Insel Verlags, der andere durch sein Wirken für das Kippenberg Gymnasium, das es immer noch gibt. Und vielleicht ist Tami Oelfken mit ihrem seltsamen Roman Maddo Clüver auch eine Seelenverwandte von Betty Gleim. 

Der Landwirt Hermann Allmers aus Rechtenfleth, der nebenbei Vogt und Deichgraf ist, hat keine Schule und keine Hochschule besucht. Sein Reichtum ermöglicht ihm private Studien und weite Reisen, Römische Schlendertage wird zum meistgelesenen Reisebuch des 19. Jahrhunderts. Er hat einen großen Freundeskreis, seine Korrespondenz umfasst mehr als 11.000 Briefe, der Allmershof wird im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem kulturellen Zentrum Norddeutschlands. Ich lasse Allmers an dieser Stelle weg, Sie könnten natürlich jetzt mal eben den Post Marschendichter vom 2. Mai lesen. Wir können Allmers sicher irgendwo oben bei der deutschen Literatur einsortieren. Vielleicht nicht ganz oben, aber doch in Augenhöhe. Wie auch Otto Gildemeister, und den vielleicht noch höher.

Der stammt aus einer Senatorenfamilie, schreibt jahrelang wunderbare Leitartikel für die neugründete Weser-Zeitung und wird auch mehrfach Bürgermeister von Bremen sein. Das würde für Bremer ausreichen, um auf ewig in der Heimatstadt angesehen zu sein. Der berühmte Ludwig Bamberger urteilt in einer kleinen Laudatio zu Gildemeisters siebzigstem Geburtstag in der Nation 1893 über ihn: Lebte und schriebe Gildemeister in Frankreich, so wäre er ohne Zweifel Mitglied der Akademie... Wäre Gildemeister in England geboren, so säße er wohl im Parlament und wäre mehrmals Minister gewesen. Wahrscheinlich hat sich Gildemeister über diesen Artikel mehr gefreut als über das Gelegenheitsgedicht, das ihm Arthur Fitger per Telegramm sendet. Er beantwortet es mit einem ebensolchen Gedicht, auch per Telegramm. Was er an Fitger gefunden hat, wird mir ewig schleierhaft bleiben. 

Schon als Pennäler übersetzt Gildemeister Literatur aus dem Griechischen und Lateinischen. Und das ist mir richtig unheimlich: ich habe mit achtzehn versucht, Walt Whitmans Leaves of Grass zu übersetzen (das kleine grüne Klebeschildchen von Otto & Sohn ist immer noch im Buch), habe aber nach zwanzig Seiten aufgegeben. Gildemeister wird in Berlin bei Ranke, Lachmann und Jacob Grimm studieren, ist ebenso wie Fontane Mitglied im Tunnel über der Spree. Seine Freunde bewegen ihn, sich von der literarischen Produktion abzuwenden und sich dem Übersetzen zu widmen. Und das wird er tun: zwölf Dramen von Shakespeare sowie alle Sonette, sechs Bände Lord Byron, Dantes Divina Commedia und Ariosts Orlando Furioso. Letzteres bietet sich in einer Stadt, die den Roland als Wahrzeichen hat, natürlich an. Allein dieses übersetzerische Werk sollte einem Ehrfurcht abnötigen. 

Und dann sind da noch neben seinen Briefen die Essays, über die der Autor 1860 sagt: Das Genre des Essays steht und fällt mit einer gewissen formellen Vollendung. Otto Gildemeister, der manchmal unter dem Pseudonym ‚Giotto’ schreibt, beherrscht diese formelle Vollendung, die sich an den Engländern geschult hat. Die Essays sind keine Sprachspielereien, obgleich der Autor an Witz und Ironie einiges zu bieten hat, sie haben eine moralische Komponente. Der liberale Gildemeister, der auch als Politiker eher an der Seite der Linken zu finden ist, hat nichts von dem retrospektiven patriotischen Ingrimm der Bismarckzeit. In einer Rezension zu einer Napoleon Biographie im Jahre 1893 schreibt er: Wir haben in unserer Geschichte keinen Napoleon, aber an Beispielen unkritischer Heroenverehrung fehlt es auch bei uns zulande nicht. Der Satz hat noch heute seine Gültigkeit. Den gefährlichsten Text dieser Zeit, Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher, mit seiner völkischen Innerlichkeit erledigt er im Vorbeigehen, wenn er Gustav Wustmanns Allerhand Sprachdummheiten bespricht: Nicht Rembrandt, sondern Dr. Gustav Wustmann heißt der Erzieher der Deutschen. Dieser Stadtbibliothekar und Archivdirektor in Leipzig hat unter dem Titel 'Allerhand Sprachdummheiten' ein Büchlein ausgehen lassen, dessen Wert sich zu dem Pseudo-Rembrandt, obwohl es wie dieser nur zwei Mark kostet, ungefähr so verhält wie der Nutzen eines Leuchtturm zu dem eines Feuerwerks.

Obgleich er mit Wustmann, wie er in vielen Artikeln zeigen wird, in der Kritik an der Gegenwartssprache (und darin ist Wustmann ein Vorläufer von Eduard Engel und Ludwig Reiners) übereinstimmt, lässt er dem Verfasser dessen antijüdische Haltung niemals durchgehen. Gegen das schlechte Deutsch, das Wustmann in der Sprache der jüdischen Journalisten festmacht, schützt weder Taufwasser noch germanische Abstammung. Und er wird weiter sagen, dass nämlich wenige Juden gut, die meisten schlecht schreiben und dass es bei den Christen sich ebenso verhält. In Bremen wird der Bürgermeister Smidt, angeblich der bedeutendste Bremer, verhindern, dass Juden das Bürgerrecht bekommen. In Bremen ist man stolz darauf, dass man keinen jüdischen Abgeordneten zur Frankfurter Nationalversammlung delegiert hat. Hamburg hat das getan. Gildemeister wird für Toleranz und Gleichstellung eintreten. Aber wir wissen, dass seine Haltung sich nicht durchsetzen wird. Rembrandt als Erzieher wird mehr als achtzig Auflagen erleben. Die schöne Ausgabe der Essays von Gildemeister, die Rütten & Loening 1991 unter dem Titel Allerhand Nörgeleien herausgebracht haben, wird zurzeit im modernen Antiquariat verramscht.

Wir haben im 19. Jahrhundert noch einen bedeutenden Dichter in Bremen, von dem allerdings niemand weiß. Das wird nicht verwundern, er ist kein Bremer, nicht mal ein Deutscher. Er ist ein Schwede, der seine Heimat verlassen hat, weil er eines Giftmordanschlags verdächtigt wurde. Er geht nach Amerika, aber aus seinem amerikanischen Traum wird nichts. Er lebt in bitterer Armut, kratzt mal gerade das Geld für eine Schiffpassage nach Bremen zusammen. Dort wird er noch ein Jahr bis zu seinem Tode unter dem angenommenen Namen Professor C. Westermann leben. Sein wirklicher Name ist Carl Jonas Love Almqvist, er gilt als einer der Begründer der modernen schwedischen Literatur. Sein Roman Die Woche mit Sara aus dem Jahre 1839 ist immer noch aufregend neu.

Eine fünfundsechzigjährige Dame, ihr Mann ist gerade gestorben, zwei ihrer Kinder haben in dem letzten Jahrzehnt Selbstmord begangen, findet in einem Koffer ein Bündel Briefe, beinahe ein halbes Jahrhundert alt. Es sind die Briefe an ihre beste Freundin, die bald darauf gestorben ist. Und Briefe an ihre erste große Liebe, den Mann, den sie nicht heiraten darf. Nach langem Zögern wird sie die Briefe, redigiert von einem Freund ihres Mannes für eine Publikation vorbereiten. Ihr letzter Sohn fällt im Kriege. Als das Buch erscheint, ist sie fünfundsiebzig. Das Buch wird ein Bestseller. Courths-Mahler? Rosamunde Pilcher? Nein, es ist das wirkliche Leben der Magdalena Melchers, einer Bremer Kaufmannstochter, die ihren englischen Cousin Percy Rösing nicht heiraten darf. Sie wird den Sohn des Bremer Bürgermeisters Dr Alfred Pauli, den Kunsthallendirektor Gustav Pauli, heiraten. Ihre große Liebe wird in Amerika Selbstmord begehen. Hätte Theodor Fontane dieses Leben gekannt, er hätte es ohne Zögern in einen Roman geschrieben, so wie er es schon mit Effi Briest und Graf Petöfy getan hat. Uns bleibt der Briefroman Sommer in Lesmona. 1951 unter dem Pseudonym Marga Berck bei Christians in Hamburger erschienen, ediert von dem Hamburger Senator Hans Harder Biermann-Ratjen (den die Nazis 1936 als Vorstand des Kunstvereins abgesetzt hatten). Kurz darauf wird der Roman bei Rowohlt als Taschenbuch erscheinen. Marga Berck hat ihrem Roman ein Gedicht von Lamartine vorangestellt:

Le livre de la vie est le livre suprême
Qu’on ne peut ni relire, ni fermer à son choix.
La fatal feuillet se tourne de lui-même
Et le passage adoré ne se lit pas deux foix.


Ein Gedicht, das seine Sentenzenhaftigkeit angesichts der wahren Geschichte verliert. Wenig später wird die Autorin einen weiteren Band Jugenderinnerungen, Die goldene Wolke: Eine verklungene Bremer Melodie, folgen lassen. Mit diesem Buch erinnert sie an eine Vereinigung junger Bremer Kaufleute, Juristen und Schriftsteller, die um die Jahrhundertwende das geistige Niveau der Gesellschaft heben wollten.

Und damit sind wir wieder bei Helmut Papajewskis Bremen-Bild, denn das Wirken der Goldenen Wolke ist ja um 1930 noch Gegenwart, keine Vergangenheit. Rudolf Alexander Schröder (für Marga Berck damals noch Rudi), sein Cousin Alfred von Heymel und Gustav Pauli bilden die Kernzelle, ständige Gäste werden Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt, Eberhard von Bodenhausen und Harry Graf Kessler sein. Dies ist das Bremer Äquivalent zu den Souls, der Gruppe um Duff Cooper und Lady Diana Manners oder der späteren Brideshead Generation. Und sicherlich ein höherer Beitrag zur Kultur als Arthur Fitger. Den erwähnt man in diesen Kreisen überhaupt nicht mehr, man hat sich eher den Worpswedern zugewandt. Ein halbes Jahrhundert nach der Gründung der Gruppe wird sich ein kleiner Rest von Überlebenden im Bremer Essighaus treffen, Rudi Schröder wird die Festrede in Form eines Gedichts halten.

Mein Opa hat sich auch einem Worpsweder zugewandt, obgleich er nicht zur Welt der goldenen Wolke gehört. Aber der Maler Fritz Overbeck ist von Worpswede nach Vegesack gezogen. Ich bin doch nicht sentimental, hat er lakonisch gesagt, als man ihn fragte, ob er Worpswede nicht vermisse. Na ja, es ist nicht ganz Vegesack. Etwas außerhalb, Bröcken heißt die Straße heute nach dem kleinen Hügel, auf dem Overbecks Villa Sechslinden steht (die Straßen daneben heißen neuerdings Overbeckstraße und Overbecks Garten). Overbeck kauft die Villa 1905, nicht zuletzt wegen der schönen Lage mit großem Garten und kleinem Wäldchen. 

Sein Sohn Fritz Theodor wird sie in seinen Büchern Eine Kindheit in Worpswede und Kattenhorns Pferd: Fabeleien um das alte Worpswede (zwei Bestseller in Bremen) beschreiben. Opa und Overbeck gehen jetzt manchmal sonntags zusammen spazieren, der junge Lehrer und der Maler. Ich vermute mal, dass die beiden sich in Opas Loge Schlaraffia kennengelernt haben. Meine Mutter wird in den fünfziger Jahren noch jede Woche mit einem großen Topf Eintopf bei Overbecks Tochter (für meine Mutter immer das Fräulein Overbeck) vorbeifahren, die wohnt einsam in dem großen Haus, in dem ihr Vater gestorben ist, umgeben von hunderten von Bildern ihres Vaters (und ihrer Mutter Hermine, die auch eine begabte Malerin war), die nicht zuende gemalt worden sind. Die Farbe bröckelt ab. Worpsweder sind für den Kunstmarkt in dieser Zeit kein Thema. 

Sommer in Lesmona ist in den fünziger Jahren Pflichtlektüre in Bremen, man kann immer noch auf den Spuren der Hauptfiguren durch St Magnus wandern, die Villen und Gärten an der Lesum sind größtenteils erhalten. Aber bevor wir in Nostalgie mit dieser bittersüssen love story der jeunesse dorée ersaufen, sollten wir auf einen anderen Briefroman blicken. 1982 schickt mir meine Freundin Heidi, die auch aus dem Bremer Großbürgertum mit Haus in Sankt Magnus kommt aber gerade ihre kommunistische Phase hat, einen Paperback aus dem Pahl-Rugenstein Verlag. Wenn irgendein Verlag 1982 links ist, dann ist es Pahl-Rugenstein. Es trägt Heidis handschriftliche Widmung dem Bremer ein wichtiges Sachbuch. Es sind die Briefe des Bremer Maurers Robert Pöhland an seine Ehefrau Anna, von 1915 bis zum Tode Robert Pöhlands 1916 in Courcelles. Beide sind überzeugte Sozialdemokraten und sind aktiv in der Gewerkschaftsbewegung. Dort kämpft Anna Pöhland an der Seite von Fräulein Helene Schweida, die wenig später Wilhelm Kaisen heiraten wird. Die Pöhlands im Krieg, so der Titel des Buches, steht bei mir im Regal neben Sommer in Lesmona. Eigentlich war es ein Zufall, dass ich das Buch da hingestellt habe, aber jetzt erscheint es mir schon symbolisch für Bremen zu sein.

Es ist eine andere Welt als die der Millionärskinder aus der bremischen High Society, aber vielleicht ist diese Welt wichtiger als der Schwanengesang einer elitären Kultur. Nachdem Gottfried Benn Gustav Paulis Lebenserinnerungen aus sieben Jahrzehnten gelesen hat, wird er in einem Brief an seinen Bremer Freund und Mäzen Friedrich Wilhelm Oelze urteilen: Seltsame Welt, - das Ganze! Und er fügt hinzu: Es muss eine sehr verbindende, Ketten schmiedende Welt gewesen sein, die kaum jemanden losliess, der sich nicht mit sehr elementaren Kräften von ihr trennte. Was wäre Benn ohne den Bremer Großhandelskaufmann Oelze geworden? Ihr Briefwechsel geht über ein Vierteljahrhundert vom Anfang der dreißiger Jahre bis zu Benns Tod. Lassen wir die Geschenke und die Geldzuwendungen einmal außer acht, mit denen die Synthese aus Oxford und Athen ihren Schützling unterstützt, in dieser Zeit ist Oelze der einzige, mit dem Benn auf Augenhöhe kommunizieren kann. Und der wird nebenbei auch noch Rudolf Borchardt unterstützen, der ist ja beinahe schon Bremer, auch wenn er in der Toskana lebt. Er ist befreundet mit Schröder, Mitbegründer der Bremer Presse und hat die Tochter eines Miglieds der Goldenen Wolke geheiratet. Wenn wir diese Bremer Millionäre nicht hätten, die nebenbei die Kultur finanzieren, was hätten wir dann?

Uns fehlen die Juden, sagt eine Romanfigur in Josef Kasteins Melchior: Ein hanseatischer Kaufmannsroman: 'Bremen ist eine Stadt, die noch wächst.' 'Lass dir gesagt sein, Vater sie wächst nicht. Nicht mehr. Sie kann Geld und Ware, vielleicht auch Kultur stapeln und diese und jene Industrie bekommen. Das ist alles. Der Teig ist fertig geknetet. Aber er geht nicht auf. Es fehlt die Hefe dafür.' 'Was meinst du mit Hefe?' 'Die Juden meine ich.' 'Gott soll uns bewahren!' rief Albert Krämer entsetzt. 'Amen,' fügte der Sohn trocken hinzu. 'Warum ist Hamburg größer geworden als Bremen? Nicht nur, weil es näher am Meer liegt.'

Bei den Krämers, die Arbeiter und Sozialdemokraten sind, prallen die Generationen aufeinander, bei den Melchiors in der Contrescarpe auch. Die Melchiors sind kaum verhüllt die Kaufmannsfamilie Melchers (die auch in der Contrescarpe wohnt), aus der die Autorin von Sommer in Lesmona stammt. Der Roman Melchior: Ein hanseatischer Kaufmannsroman zeigt das upstairs, downstairs von Bremen. Es ist ein bremisches Sittenbild, aber eines, das nicht nur von der Welt der Villen lebt. Es ist kein großer Roman, er reicht als Literatur nicht an die Buddenbrooks heran, aber als Ideenroman bietet er einiges. Wenn der Roman 1927 in Bremen erscheint, wird Dr Julius Katzenstein (so der Geburtsname des Schriftstellers) seine Anwaltskanzlei schließen und nach Ascona ziehen, der Anteil der jüdischen Bürger macht da gerade 0.4% der Bremer Bevölkerung aus. Er wird ein unstetes Leben führen, 1935 nach Palästina übersiedeln, aber dort auch nicht glücklich werden. Er wird bedeutende zionistische Bücher schreiben, die bei dem Bremer Ernst Rowohlt und später bei Löwit in Wien erscheinen, bis beide Verlage geschlossen werden. 1942 wird in Haifa sein letztes deutschsprachiges Werk, Eine palästinensische Novelle erscheinen, im gleichen Jahr stirbt seine Mutter im KZ Theresienstadt. Siebzig Jahre nach der Erstpublikation wird der Johann Heinrich Döll Verlag in Bremen den Roman Melchior wieder auflegen.

Der Roman taucht im Literaturverzeichnis eines Buches mit dem Titel Bremen im Spiegel der Literatur von Johann-Günther König unter der Rubrik Heimatromane von literaturhistorisch zumeist geringer Relevanz, die nicht berücksichtigt wurden auf. Dagegen ist Wilhelm Buschs Fipps der Affe dem Verfasser ein ganzes Kapitel wert. Dieses Kompilationswerk wendet sich journalistisch parlierend an einen an Bremen interessierten Leser und serviert kleine Literaturhäppchen. So weit, so nett. Aber mit einem anspruchsvollen wissenschaftlichen Apparat versucht der Verfasser, der kein Literaturwissenschaftler ist (er schreibt ansonsten Bücher über alle Themen, von Irish Pubs bis zur Wirtschaftskriminalität), dieser Blütenlese den Schein der Wissenschaftlichkeit zu geben. Und da wird es eben peinlich. Zumal Leute wie Allmers oder Gildemeister bei ihm nicht mal erwähnt werden. Gerd-Peter Eigners Roman Brandig kennt er auch nicht.

Und erst recht nicht den Lehrer Dr Konrad Weichberger, der auch lange vor ihm die erste Anthologie von Erwähnungen Bremens in der Literatur (Das Bremer Gastbett 1908 bei Leuwer) herausgebracht hatte. Und der mit seiner leider viel zu kurzlebigen Literaturzeitschrift Die Welle in den zwanziger Jahren die deutsche Literatur bereichert hat. Wenn es nicht 1990 bei einem Bremer Verlag namens Der Stint den Versuch einer Gesamtausgabe und eine Biographie von Jan Osmers gegeben hätte, wäre er wohl völlig vergessen. Na, nicht ganz. Ein kurzes Gedicht hat dank Kurt Tucholskys Lob die Zeiten überdauert, auf jeden Fall die erste Strophe: Laß Du doch das Klavier in Ruhe Das hat Dir nichts getan Nimm lieber Deine Gummischuhe Und bringe mich zur Bahn. Es ist natürlich wieder einmal der Grabbelkasten vom Antiquariat Eschenburg gewesen, in dem ich Die Welle gefunden habe, die ich inzwischen schon (einschließlich der Werbung) beinahe auswendig kann. 

Ich habe meine Schwierigkeiten, den ordinierten Laienprediger Manfred Hausmann im Anschluß an Josef Kastein zu erwähnen, aber sie schreiben zur gleichen Zeit. Hausmann hat ja in meiner Jugend in Bremen seine Anhänger, wir alle sind mit Lampioon: Abenteuer eines Wanderers und Abel mit der Mundharmonika großgeworden. Der Besitzer des besten Kieler Antiquariats, Harald Eschenburg, hält offensichtlich nicht so viel von Hausmann, er zeichnet die Erstausgaben von Abel mit der Mundharmonika immer mit einer Mark aus. Kaufe ich immer, verschenke ich an Bremer mit dem Zusatz Erstausgabe. Wenn man mit den Eltern auf dem Sonntagsspaziergang in Rönnebeck spazieren geht, muß man immer ganze leise sein, wenn man an seinem Haus vorbeikommt, da wohnen zwei Dichter nebeneinander, Alma Rogge und Manfred Hausmann, und die dichten, die darf man nicht stören. Es ist erstaunlich, dass jemand, der sich immer wieder den Nazis angedient hat und während des zweiten Weltkriegs für eine Vielzahl von Naziorganen geschrieben hat, sich plötzlich 1945 zum Zentrum der Inneren Emigration erklärt. In der Olympia-Zeitung von 1936 hatte er noch über den schwarzen amerikanischen Olympiasieger im Hochsprung geschrieben: Wissen und Ahnen. Leben aus dem Kopf und Leben aus dem Blut... Die Vollendung des Wissenden, der Allwissende, ist der Gott. Und die Vollendung des Ahnenden, das Instinktwesen, ist das Tier. Klingt auch ein bisschen wie Ernst Jünger. Gott gibt es nur für Weiße, nicht für schwarze Tiere. Nach dem Krieg wird Hausmann als erstes den Emigranten Thomas Mann attackieren und Lügen über ihn verbreiten. Aber man darf ja nichts gegen Hausmann sagen, weil der schon einen Heiligenschein trägt (obgleich das mit dem schwarzen Tier eigentlich nicht so ganz in das Menschenbild der evangelischen Kirche passen kann). 

Er wird als Jurymitglied verhindern, dass Günter Grass für die Blechtrommel den Bremer Literaturpreis bekommt. Immer wieder tritt die Erzählung in jene verbotene Sphäre ein, wo sich Ekel und Sexualität, Tod und Blasphemie begegnen, hieß es in der Begründung der Ablehnung. Mit dem Argument kann man viele Bücher verbieten, Ekel und Sexualität, Tod und Blasphemie finden sich auch in der Bibel. Ich habe Hausmann, den ich zweimal erlebt habe, instinktiv nie gemocht. Ich bin auch nie damit glücklich gewesen, dass das Bürgertum der Adenauerzeit ihn und Schröder zu den Lordsiegelbewahrern der Bremer Kultur erhoben hat. Und immer, wenn ich Zweifel habe, dass ich ungerecht gegenüber diesem Mann bin, greife ich zu einem unscheinbaren Pappbändchen. Es heißt Museum-Heute und ist 1948 bei Trüjen in Bremen (dem Verlag von Trude Wehe) erschienen, die erste Publikation der Kunsthalle nach dem Krieg. Darin ist eine Interpretation des Rembrandtbildes vom Apostel Paulus von Manfred Hausmann. Und wenn man die gelesen hat, dann ist einem richtig schlecht. Egal, ob man Kunstgeschichte studiert hat oder nicht. Das Bild ist ein Geschenk vom Pariser Bankier John Harjes aus dem Jahre 1911. Es ist kein Rembrandt, es ist von Jan Lievens. Aber zu der Zeit, als Günter Busch Direktor war, blieb diese falsche Zuschreibung unter dem Bild. Irgendwie hat Busch kein glückliches Händchen mit seinen Rembrandts.

Ein Bremen-Roman läuft in den fünfziger Jahren völlig an den Bremern vorbei, wahrscheinlich, weil sie den als eine Art Netzbeschmuzung empfunden haben. Es ist Rudolf Lorenzens Alles andere als ein Held, 1959 bei Ullstein erschienen und dann 1982 für die Taschenbuchausgabe 1982 vom Autor überarbeitet. Sebastian Haffner war sich 1965 nicht sicher, ob Alles andere als ein Held nicht der beste Roman irgendeines heute lebenden deutschschreibenden Autors ist, Petra Kipphoff fühlt sich in der Zeit an Thomas Mann erinnert, die internationale Presse feiert den Autor. 1961 erscheint in London eine englische Ausgabe, kurz darauf eine in den USA. Und in Bremen verkündet die Bremer Nachrichten ihren Ekel gegen die miserable, undiskutierbare Lebensschilderung eines Jammerkerls, der um sich die Namen bremischer Tradition versammelt, ohne dass je von hanseatischer Würde die Rede ist.

Allenthalben Ekel, die Sprache der Rezensenten klingt ein wenig wie aus einer anderen Zeit. Was in Bremen leider nicht so sehr verwundert. Wenn ein Drehbuchautor von Nazipropagandafilmen Chefredakteur des Weser Kurier wird und der leitende Kulturbeamte Bremens Dr Eberhard Lutze heißt. Die größte Leistung dieses Kunsthistorikers war es, den Veit Stoß Altar in Krakau (da wo er überall die Verpolung und Verjudung zu beklagen hat) abzubauen und in den geplanten Staatsdom der Stadt der Reichsparteitage zu überführen. Der Spiegel holt 1968, als Lutze den Vertrag von Kurt Hübner nicht verlängern will, noch einmal die ganze Nazivergangenheit von Lutze heraus, aber das interessiert in Bremen nicht. Dieser Mann, der in seiner Entnazifizierungsakte als an sich schwacher Charakter, der sich der Macht anschließt, um Geltung zu bekommen beschrieben wurde, bestimmt zwanzig Jahre lang die offizielle Bremer Kultur. Alle Parteien mögen diesen Opportunisten. Und die Bremer tun so, als sei er der reinkarnierte Friedrich Althoff. Erst Ende 1969 wird man ein wenig nachdenklich. Da hat man Lutze gerade zum Vorstandsvorsitzenden der von Günter Busch initiierten Gerhard Marcks Stiftung gemacht. Der Bildhauer, von den Nazis mit dem Stempel Entartete Kunst versehen, erhebt Einspruch. Wie kann einer, der den Nazis als Kunsthistoriker willig gedient hat, solch ein Amt bekommen? Wie kann er es annehmen? Darüber sich jetzt zu unterhalten, das geht zu weit, lässt er den Spiegel wissen. Am 16. Dezember 1969 tritt er von seinem Amt als Vorsitzender der Gerhard Marcks Gesellschaft zurück. Auf seiner Stelle als Leitender Regierungsdirektor bleibt er bis zur Pensionierung.

Wir werden in Volksschule und Gymnasium zur Demokratie erzogen, diese politische Bildung unserer Schulen ist erstklassig, unser Gymnasium wird überdurchschnittlich viele Politiker aller Parteien produzieren (auf manche bin ich nicht stolz). Man bringt uns in der Schule bei, dass sich die jahrhundertealten hanseatischen Werte auch gegen das Dritte Reich behauptet hätten, aber das ist vielleicht ein wenig blauäugig. Was wäre aus der Stadt geworden, wenn wir jemanden wie Friedrich Althoff gehabt hätten? Mein Feld ist die Welt, hat ein Hamburger gesagt, kein Bremer. Das Wort vom Rom des Nordens ist seit 1060 nicht mehr gebraucht worden. Von Otto Gildemeisters schönem Spruch am Schütting buten und binnen, wagen und winnen, gilt nur noch das binnen, die Bremer sind zu selbstgefälligen Pfahlbauern geworden. Albert Krämers Sohn in Kasteins Roman Melchior hat mit seiner Analyse Recht. Wenn es nach Opa ginge, dann liegt die ganze kulturelle Misere in Willy Dehnkamp begründet, der 1951 Kultussenator wird und das für fünfzehn lange Jahre bleibt. Wenn es ein bête noir für Opa gibt, dann ist das der Nietenklopper Dehnkamp vom Vulkan, es ist die Verachtung des konservativen Bildungsbürgertums gegenüber dem sozialdemokratischen Arbeiter. Da kommen noch die Reste der zwanziger Jahre bei Opa durch, wo der Lehrer und Stahlhelmführer sonntags zur Machtdemonstration mit seinen Frontsoldaten durch Bremer Arbeiterviertel marschiert ist. Um zu zeigen, wem die Straße gehört. Das ist in der Phase, bevor der Stahlhelm jede Macht verliert. Und die SA Leute in den Bremer Kneipen singen Und kommt der Stahlhelm ins Lokal, tritt ihn ins Arschloch noch einmal. Dass die Gestapo Dehnkamp für Jahre ins Gefängnis gebracht hat, kümmert Opa nicht sonderlich. 

Willy Dehnkamp ist sicherlich eine ehrliche Haut, und er wäre in einem anderen Ressort als dem der Kultur vielleicht auch erfolgreich gewesen. Oder glücklich. Er ist ja gutwillig, zum Beispiel in Fragen der Schulreform, er scheitert am Parteiengezänk, beziehungsweise dem Gezänk seiner eigenen Partei. Denn wenn irgendeine Partei gut darin ist, ihre eigenen Leute zu demontieren, dann ist es die Partei, die irgendwo das Wort Solidarität in ihrem Programm hatte. Er wird den Eklat bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises an Ernst Jünger mit einer freundlichen Rede zu entschärfen versuchen, aber der arrogante Geistesmensch geht nicht auf den Arbeiter ein. Obgleich er in den dreißiger Jahren über den Arbeiter an sich philosophiert hat. Dehnkamp wird zu einer Spottfigur, selbst für die eigene Partei. Und nicht einmal der große Wilhelm Kaisen wird sich in seinem Spott zurückhalten: Ischa to’n Lachen, dass een, de sin Lewen lang Nieten auffen Vulkan gekloppt hat, sich nu aafspeelt as’n Geheimroot.

Das plattdeutsche Bonmot mit dem Nietenklopper wird zwar umgehend aus der Senatspressestelle dementiert, aber es ist schon rum in Bremen. Geht schnell, Bremen ist klein. Bevor er seine Amtsgeschäfte als Bremer Bürgermeister an Dehnkamp übergibt, sagt Kaisen seinem Senat: Nun spitzt mal schön eure Bleistifte! Dehnkamp hat immer schön gespitzte Bleistifte, der Länge nach geordnet, auf seinem Schreibtisch. Das ist wichtig für einen Kultursenator. Er ist eine tragische Figur. Die Tragik für Bremen ist, dass Dehnkamps Schwäche die Stärke des Leitenden Regierungsdirektors Dr Lutze wird. Ich habe einmal in den Kammerspielen in der Böttcherstraße hinter dem Ehepaar Dehnkamp gesessen, als dort Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? gegeben wurde. In der Pause sagte Frau Dehnkamp zu ihrem Mann: Ischa bis jetzt nich viel Sinn inn. Eigentlich ist das schon wieder rührend.

Wenn die Bremer Stil gehabt hätten, dann hätten sie Rudolf Lorenzen den Bremer Literaturpreis verliehen. Robert Mohnwinkel, der sicher auch autobiographische 'Held' des Romans, ist ein wenig ein Schlemihl, der sich durch die Zeiten hindurchmogelt. Der wie der Abbé Sièyes, als man ihn fragt, wie er den terreur überlebt habe, sagen kann: J’ai survécu. Der Roman besticht durch die realistische Beschreibung des Lebens in Bremen von 1933 bis in den Anfang der fünfziger Jahre, vielleicht ist es zu realistisch. Den Bremer Literaturpreis bekommt er nicht, den soll Günter Grass bekommen. Aber er bekommt ihn nicht. Bremen hat seinen ersten Literaturskandal. Na ja, vielleicht seinen zweiten, die Verleihung des Preises an Ernst Jünger, der zu Preisverleihung demonstrativ seinen Pour le Mérite Orden trug, war auch schon etwas skandalös. Geistiges Bremen? Zyniker sagen, dass wir eine Buchhandlung namens Geist haben. Aber wenn wir einmal in einem offiziellen Senatsbericht die Nutzungszahlen der Zentralbibliothek (in Relation zu vergleichbaren Großstädten) anschauen, dann sollten wir lieber nicht mehr davon reden. 

Dennoch gibt es den Geist, es gibt seit 1924 die Wittheit zu Bremen, meine Eltern sind da Mitglieder. Deren Vortragende sprechen auch häufig als Gäste in unserer Aula. So komme ich in den Genuß des Vortrags des Anglistikprofessors Arno Esch, der als Kernstelle von Hamlet den Satz there’s a special providence in the fall of a sparrow ansieht. Ein Gedanke, den ich ihm sofort klaue (ich bin neunzehn, da tut man sowas) und in der Zukunft als meine eigene Hamlet Interpretation verkaufe. Es gibt die Wittheit immer noch und immer noch Mäzene und eine Vielzahl kleinerer Vereine, die sich im Stillen dem Kulturschaffen widmen. Dass wir einen verdienstvollen Mann wie Alfred Faust gehabt haben, weiß heute kaum jemand mehr. Die von ihm 1960 herausgegebene Bestandsaufnahme Geistiges Bremen zeigt eine erstaunliche kulturelle Breite, aber beinahe alles in diesem Band ist Vergangenheit.

Einen Autor haben wir in Bremen aber doch noch, der in das Regal mit der wirklichen Literatur gehört, obgleich sein Gesamtwerk so schmal ist, dass es in einen Rowohltband passt und er ausserhalb Bremens kaum gelesen wird. Es hat nicht so viel genützt, dass sich Hesse, Andersch und Koeppen für Friedo Lampe eingesetzt haben und uns versichert haben, dass Am Rande der Nacht und Septembergewitter große Literatur sind. Es ist eine große Tragik, dass dieser stille Mann, dessen erstes Buch von den Nazis verboten wurde, in den letzten Kriegstagen von den Russen für einen SS-Mann gehalten und erschossen wird. Aber es gibt das Gesamtwerk heute noch – sogar das schwer erhältliche Ratten und Schwäne von 1949 ist wieder aufgelegt - auch dank der Bemühungen des Wallstein Verlages, die auch Rudolf Lorenzen verlegten (meinen Post über Lorenzen 2013 hat der Autor noch mit Gefallen gelesen).

Wenn wir keine Literatur haben, so haben wir doch einen Bremer Literaturpreis, der zum 75. Geburtstag des Bremer Geistesriesen Rudolf Alexander Schröder ins Leben gerufen wurde. Der brachte damals 5.000 Mark. Heute lobt das ärmste Land der Bundesrepublik mit 20.000 Euro die höchste Summe von allen deutschen Literaturpreisen aus. Bis auf den ersten Preisträger, Heinrich Schmidt-Barrien, haben die alle nichts mit Bremen zu tun. Bremen prämiert den jungen Thomas Bernhard, der am Anfang seiner Karriere vor dem existentiellen Aus steht. Fünf Minuten vor Beginn seiner Dankesrede weiß er noch nicht, was er sagen soll. Dann wird er um den Satz Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu die kürzeste aller Dankesreden halten. Und ewig schlecht über Bremen reden. Dankbarkeit? Nicht bei Thomas Bernhard. Von dem Geld hat er sich als erstes in Wien bei Don Gil einen sauteuren Anzug gekauft.

Da hätte man lieber rückwirkend Heinrich Albert Oppermann den Preis verleihen sollen, für die schöne und dramatische Schilderung des Eisgangs auf der Weser bei Hoya in seinem Roman Hundert Jahre. Meine Empfehlung an die Bremer Kommission wäre, den Preis in Otto Gildemeister Preis umzubenennen. Und nur zu verleihen, wenn der Preisträger das intellektuelle Niveau von Otto Gildemeister erreicht. Damit könnte Bremen viel Geld sparen. Man macht sich heute in Bremen Gedanken, ob der Preis wirklich noch den Namen von Rudolf Alexander Schröder tragen muss. Gut, das Kampflied der Nazis, in dem sich Zeilen wie Die Zeit ist reif und reif die Saat. Ihr deutschen Schnitter, auf zur Mahd: Der Führer hat gerufen finden, hat er schon 1914 geschrieben, aber der Mann, der auch den inneren Widerstand erfand, stand den Nationalsozialisten doch näher, als man damals glauben wollte.

1875 brachte Julius Graefe die Anthologie Bremer Dichter des neunzehnten Jahrhunderts heraus, die mit Gedichten von Hermann Allmers begann (Gedichte von Julius Graefe sind da auch drin). Hundert Jahre später erschien Bremer Autoren: Texte und Biographien von Detlef Michelers und Helmut Hornig, das ich für zwei Mark im Antiquariat fand. Von den achtundzwanzig Autoren kenne ich nur Gerd-Peter Eigner und Heinrich Hannover. Der ist in dem Band, weil er Kinderbücher und plattdeutsche Geschichten schreibt. Alle andere kenne ich nicht. Muß ich die kennen? Ich glaube, ich lese erst einmal Anna Karenina zuende, ich bin schon ziemlich weit. Aber ich brauche mich nicht zu beeilen, wie es ausgeht, weiß ich schon.


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