Sonntag, 15. November 2020

Teufelsmoor


Teufelsmoor. Allein schon der Name. Wenn man sechs Jahre alt ist und die ganze Familie aus westfälischen Geschichtenerzählern besteht, in deren Geschichten der Teufel eine Person ist, die Opa, Onkel Gustav, Onkel Werner oder wem auch immer schon mehrfach begegnet ist, dann hat der Teufel schon eine Bedeutung. Zumal Pastor Hemmelgarn auch jeden Sonntag von der Kanzel herunter gegen den Teufel wettert. Aber irgendwie schien Pastor Hemmelgarns Teufel anders zu sein als der Teufel von Opa. Der Teufel von Opa erschien natürlich nicht, ohne eine schweflige Spur zu hinterlassen: die kannste da noch sehen, in Drebber (oder war es Hilter? oder Dissen? Bad Rothenfelde?). Die Spuren des Teufels waren für mich in meiner Vorstellung gleich neben der Brandspur des Feuerrades, das Opa mitternachts die ganze Dorfstraße herunter verfolgte und dem er nur durch einen Sprung in die Tenne von Vahlenkamps Bauernhaus entkommen konnte, und da an der Tür, da kannste die Brandspur noch sehen. Die Geschichten mit den übernatürlichen Erscheinungen spielten alle in der Heimat meines Großvaters, niemals in Bremen. Immer wenn wir von Bremen kommend die Dammer Berge am Horizont sahen, waren wir in einem Land, in dem sich Sagen, Märchen und familiäre Anekdoten übergangslos vermischten. Vorher hatten wir noch eine Pause eingelegt, bei der Opa im Wald verschwand. Erst Jahre später habe ich erfahren, dass dies keine normale Pinkelpause war: der Gang Opas in den Wald war ein Gang zu einem Albert Leo Schlageter Denkmal, dem Opa rituell seine militärische Reverenz erweisen musste.

Aber über den Teufel redete mein Opa an diesem Sonntag im Teufelsmoor nicht. Während die Familie, Bauern und einige Lohnarbeiter mit Torfstechen und Verladen beschäftigt war, klärte er uns über das Lebenswerk des Königlichen Moorkommissars Jürgen Christian Findorff auf, der dieses Moor der Natur abgerungen hatte und Vater aller Moorbauern genannt wurde. Diese zivilisatorische Leistung wurde verglichen mit Friedrich dem Großen und dem Oderbruch. Diejenigen, die den ganzen Tag gearbeitet und keine Maulaffen feilgehalten hatten, nahmen solche Belehrungen eher unwillig auf, auch wenn sie mit plattdeutschen Weisheiten wie Den ersten sien dood, den tweeten sien noot, den drütten sien broot gewürzt waren. Aber wahrscheinlich erwarteten sie von einem pensionierten Lehrer auch nichts anderes. Findorff kannte ich, ein Bremer Stadtviertel hieß nach ihm, und damals konnte man da auf einem Kanal auch noch die Halbhuntschiffe sehen, die den Torf aus dem Teufelsmoor zum Findorffer Torfhafen brachten. Dort war auch ein kleiner Markt mit Buden, das war immer aufregend. Das Oderbruch sagte mir nichts, ich war noch nicht bis zu Fontane vorgedrungen. Ich war ja auch erst sechs.

Der kleine Lastwagen von Onkel Gustav ist in der letzten Woche nicht gewaschen worden, Johnny Otten hatte strikte Anweisung von Onkel Gustav, nicht wie üblich morgens den Wasserschlauch zu nehmen. Es ist der gleiche Lastwagen, mit dem Mammi wenige Jahre zuvor ihre Schwiegermutter aus dem Feuersturm von Hamburg herausgeholt hat. Jetzt steht er staubüberzogen am Straßenrand, und man kann die blaue Schrift Färberei, Wäscherei, Chem. Reinigung nur ahnen. Camouflage, sagt Opa, und ich weiß nicht, was das ist. Meine Mutter und Tante Tilla tragen geblümte Baumwollkleider und Gummistiefel. Sie kochen Kaffee auf einem Karbidkocher, der noch aus Wehrmachtsbeständen stammt. Wir Kinder dürfen uns dem Karbidkocher nicht nähern. Zu gefährlich, verkündet Opa und erzählt Schauergeschichten von explodierenden Karbidöfen. Im Schauergeschichtenerzählen ist er gut. Oma strickt an einem Pullover, der bestimmt wieder aus dieser immer kratzigen Wolle meiner Kindheit sein wird.

Der Frühsommertag geht zu Ende, es wird langsam dunkel. Der Lastwagen ist mit Torf beladen. Alle sitzen auf der anderen Seite der Birkenallee, die eigentlich nur ein besserer Knüppeldamm ist, unter einer kleinen Baumgruppe. Es sind die einzigen Bäume weit und breit, die Birken zählt hier keiner als Bäume. Man kann hier ungehindert bis zum Horizont sehen. In der Ferne gibt es eine kleine Erhebung und etwas Wald, das muss der Weyerberg sein. Der Sage nach ist er entstanden, als der schlaue Fischer Dietrich den gefürchteten Riesen Hüklüt überredet hatte, sich den Sand der Bremer Düne in die Taschen zu stopfen. Woraufhin dieser prompt im Teufelsmoor versank, noch einmal in die Tasche griff und eine Handvoll Sand nach Dietrich schleuderte, und das ist nun der Weyerberg. Neben dem Berg muss Worpswede sein. Wo die Roten wohnen, sagt mein Opa. Ich weiß nicht, wer die Roten sind. Aber für meinen Großvater, den kaisertreuen Hauptmann des Ersten Weltkriegs, Träger des EK I und des weinroten Hanseatenkreuzes, sind sie überall. Ein weißes Bettlaken ist auf dem Heideboden ausgebreitet, darauf stehen Kaffeetassen und anderes Geschirr. Die Fahrräder sind an einen Baumstamm gelehnt. Unser Schäferhund Hasso liegt hechelnd im Schatten. Ein Kuchen wird angeschnitten, Gustav holt eine Flasche Doppelkorn aus dem Fahrerhaus.

Es wechselt kein Geld den Besitzer an diesem Sonntagnachmittag, Geld gibt es nicht, oder wenn es welches gibt, dann ist es nichts wert. Niemand weiß, was die Währungsreform demnächst bringt. Mein Vater, Onkel Gustav und die Moorbauern stehen in einer kleinen Gruppe zusammen und trinken Doppelkorn. Die Ladung Torf wird in Naturalien bezahlt werden. Gustav wird die Wäsche der Bauern waschen, Kleider und Mäntel umfärben. Und bei meinem Vater ist die nächste Zahnbehandlung umsonst. Die Währungsreform kommt wenige Wochen später, dann werde ich mit meiner Mutter in einer langen Schlange vor dem Backsteingebäude der Oberschule stehen. Später darf ich Oma und Opa ihr Geld nach oben bringen, Opa guckt die Scheine skeptisch an. Die Generationen, die in einem Deutschland geboren wurden, das noch einen Kaiser hatte, haben schon alle möglichen Geldscheine gesehen. Findorff fängt mit hundert Reichstalern an, wir fangen mit vierzig Mark an, jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Vor allem, wenn man noch Kind ist.

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