Donnerstag, 26. November 2020

Sehnsucht


Am Todestag von Joseph von Eichendorff wollte ich ein Gedicht hier einstellen, nämlich das schöne Gedicht Sehnsucht, das neben der Mondnacht das wohl bekannteste Gedicht von Eichendorff ist. Ich fischte mir den Text aus dem Internet und merkte, dass ich ein kleines Problem bekam. Denn Sehnsucht steht nicht in einer Sammlung von Gedichten von Eichendorff, es findet sich zum erstenmal in einem Roman (erst drei Jahre später findet es sich in seinen Gedichten), es ist ein funktionaler Teil des Romans. Kann man das Gedicht einfach so aus dem Text herausnehmen?

Der Roman heißt Dichter und ihre Gesellen, es ist ein weniger bekanntes Werk von Eichendorff. Was meine Poesie anbetrifft, so schreibe ich jetzt - außer einigen eintzelnen Gedichten für den nächsten 'Deutschen Musenalmanach' - an einem größeren Roman, der die verschiedenen Richtungen des Dichterlebens darstellen soll. Ob u. wann ich damit fertig werde, hängt von der Muse u. Muße ab, schreibt Eichendorff im April 1833 an seinen Freund Theodor von Schön. Muse und Muße sind ihm offenbar wohlgesonnen, denn Weihnachten 1834 erscheint der Roman. Es ist ein seltsamer Roman mit verschnörkelten Handlungen und Nebenhandlungen, auf beinahe jeder Seite wird ein Lied gesungen oder ein Gedicht deklamiert. Es ist ein romantischer Roman, wohl der letzte romantische Roman, der im 19. Jahrhundert geschrieben wird. Danach kommt in der Geschichte der deutschen Literatur der realistische Roman. Wilhelm Raabe und Theodor Fontane haben mit dieser Art Literatur nichts mehr zun tun.

Im siebten Kapitel des ersten Buches singt der Dichter Dryander ein Lied (er ergriff seine Geige und spielte und sang, daß es weit durch den Wald erschallte):

Mich brennt's an meinen Reiseschuh'n,
Fort mit der Zeit zu schreiten —
Was wollen wir agiren nun
Vor so viel klugen Leuten?

Es hebt das Dach sich von dem Haus
Und die Koulissen rühren
Und strecken sich zum Himmel raus,
Strom, Wälder musiziren!

Und aus den Wolken langt es sacht,
Stellt alles durcheinander,
Wie sich's kein Autor hat gedacht:
Volk, Fürsten und Dryander.

Da gehn die einen müde fort,
Die andern nah'n behende,
Das alte Stück, man spielt's ſo fort
Und kriegt es nie zu Ende.

Und keiner kennt den letzten Akt
Von allen die da spielen,
Nur der da droben schlägt den Takt,
Weiß, wo das hin will zielen.


Der Roman präsentiert uns ein theatrum mundi, alle sind da: Volk, Fürsten und Dryander. Wir haben einen Baron, einen Fürsten, einen Maler, einen italienischen Marchese (das zweite Buch des Romans spielt in Rom), den dichtenden und Geige spielenden Dr Dryander, einen Beamten, einen Philosophen namens Grundling und einen Tenor. Und noch viele mehr, es wimmelt von Personen in dem Roman, den der Verleger als Novelle deklarierte (Eichendorf selbst sprach immer von einem Roman). Frauen gibt es auch in dieser Welt, da ist die wildschöne, dämonische Gräfin Juanna und Fiametta, die Tochter des römischen Marchese. Der hat gerade bankerutt gemacht und muss seinen Palazzo verlassen, die kleine Fiametta ist heimatlos. 

Wenn unser Held, der Baron Fortunat, sie zum erstenmal erblickt, ist er in Rom: Er sah durchs Fenster und konnte bei dem Schein einer Fackel nur noch bemerken, wie eine schlanke Mädchengestalt aus der altmodischen Karosse behende in das Haus schlüpfte. Im andern Flügel des Palastes hörte man nun Türen auf- und zuwerfen, gehen und lachen, dann war plötzlich alles wieder still. – Bald darauf aber vernahm er im Garten einzelne, langgezogene Klänge einer weiblichen Stimme, wie eine Nachtigall, durch das Rauschen der Wipfel, durch welche die Glühwürmer leuchtend hinzogen. Der Mond trat eben hervor und verwandelte alles in Traum. Da öffnete Fortunat alle Flügeltüren, ergriff seine Gitarre und schritt durch die lange Reihe der Gemächer singend auf und nieder. Das geht es nicht anders, wenn Fiametta, die kleine Flamme, singt, muss auch er singen:

Es rauschen die Wipfel und schauern;
Als machten zu dieser Stund
Um die halb versunkenen Mauern
Die alten Götter die Rund.
Hier hinter den Myrtenbäumen
In heimlich dämmender Pracht,
Was sprichst du wirr, wie in Träumen,
Zu mir, phantastische Nacht?
Es funkeln auf mich alle Sterne
Mit glühendem Liebesblick,
Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem, großem Glück!


Das künftige, große Glück wird kommen, Fortunat und Fiametta finden zueinander, aber erst im dritten Buch, nach vielen Irrungen und Wirrungen. Es sind beinahe filmische Szenen, in denen Eichendorff seine Personen präsentiert, und es sind immer wieder Szenen mit Mandolinen und Mondschein: 

Nur Fortunat und Fiametta saßen noch vor der Haustür und hörten zu, wie die Mädchen unten im Dorfe vor dem Johannesbilde und die Heimchen von der fernen Wiese sangen. Fiametta saß zu seinen Füßen im Gras, sie hatte die Gitarre auf ihren Knien uns sah still in die mondbeschienene Gegend hinaus, er hatte sie noch nie so nachdenklich gesehen. – Da erklang auf einmal weiter oben ein Waldhorn. Es war der verliebte Förster, der den Herrschaften ein Ständchen blies. Und als nun allmählich Waldhorn und Johanneslieder verklangen und alles still geworden war im Hause und im Tal, da nahm Fiametta ihre Gitarre und sang:

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht
.

Wenn Fiametta das Lied gesungen hat, das wir als Sehnsucht kennen, weint sie bitterlich. Aber der Baron tröstet sie, 'Wir reisen wieder hin!' flüsterte ihr Fortunat zu. Da hob sie das Köpfchen und sah ihn groß an. 'Nein', sagte sie, 'betrüg mich nicht!' Er betrügt sie nicht, er hat mittlerweile den Palazzo in Rom zurückgekauft. Alles wird gut. Wir sind im 24. Kapitel des Romans, wir sind in Deutschland; Fiametta träumt mit dem Lied von ihrer Heimat Italien, dem Land, in dem in Goethes Mignon die Citronen blüh'n. Und mit Goethes vier Mignon Liedern und Eichendorffs Sehnsucht beginnt die deutsche Italiensehnsucht, die mit Borgwards Isabella (und Arabella) und Rudi Schurickes Capri Fischer endet.

Aber nicht alles wird gut in dieser Welt der Mondnächte, die vom Kosen und vom Flüstern sacht sind, bis daß die erste Lerche erwacht. Der lebenslustige Fürst wird wahnsinnig, der Maler Albert begeht Selbstmord und die Ehe des Dr Dryander, der so schön über die Liebe dichtet, wird eine Katastrophe. Er will auch nichts mehr vom Dichten und der Literatur wissen:

Dryander aber war an den Abhang des Gartens getreten und schaute in das dunkle Tal hinaus; man unterschied nur noch einzelne Massen von Wald, Feldern und Dörfern, durch die weite Stille kam der dumpfe Schlag eines Eisenhammers herüber. – »Das ist schön!« sagte er, »es ist mir, als hört' ich den Pendul der Zeit einförmig picken. – Ich bleibe hier«, wandte er sich schnell zu Manfred: »ich habe das wüste Treiben satt; Profession vom Dichten machen, das ist überhaupt lächerlich, als wenn einer beständig verliebt sein wollte und noch obendrein auf öffentlicher Straße – ich will hier bei Euch die Landwirtschaft lernen!« – »Sie?« – erwiderte Manfred erstaunt, »das gäbe eine schöne Wirtschaft!« – Aber Dryander hörte nicht darauf. »Ich will mich«, fuhr er fort, »ich will mich hier wie auf den Grund des Meeres versenken, daß ich von der Welt nichts mehr höre – aber Ihr müßt mir die Hand darauf geben, daß Ihr so lange kein Wort von Literatur mit mir reden wollt. Wenn Sie in dieser Idylle das Wort Eisenhammer stört, dann sollten Sie mal eben den Post Eisenhammer lesen.

Mit der wildschönen Gräfin Juanna nimmt es ein schreckliches Ende. Gerade noch hat ihr Lothario, der in Wirklichkeit der Graf Victor von Hohenheim ist, einen Heiratsantrag gemacht: Hier blitzte plötzlich eine furchtbare Ahnung durch Juannas Seele, sie konnte kein Wort hervorbringen, dem Unglaublichen finster nachsinnend, während Büsche, Täler und ferne Dörfer geheimnisvoll an ihnen vorüberflogen. Lothario war wie verwandelt. 'Juanna!' rief er aus Herzensgrunde zu, 'blick um dich, die Erde ist so still und schön wie eine Brautnacht! Frei sollst du wohnen auf hohem Schloß, wo die Rehe an den Abhängen einsam grasen, dort will ich unter deinem offenen Fenster ruhen in den Sommernächten und dich in Traum singen, bis die Sterne verlöschen und die erste Lerche mich ablöst hoch in der stillen Luft. Und fallen die Blätter und die Vögel ziehen fort und dich befällt Heimweh, wenn du vom Schloß über die einsamen Wälder siehst: ich führe dich weit über die Berge fort, du arme Fremde! Auf dem Meere wollen wir fahren an glänzenden Küsten vorüber, bis die Laute deiner Muttersprache gleich bunten Wundervögeln herschweifen und deine ernste, schöne Heimat emportaucht, duftige Gärten, Gebirge und maurische Schlösser in den trunkenen Fluten spiegelnd – o Juanna, mir ist's wie von einem hohen Berg ins Morgenrot zu sehen!'

Das Kapitel hat mit einem Lied Lotharios begonnen, das den Ton für alles, was jetzt kommt, angibt:

Und wo noch kein Wandrer gegangen,
Hoch über Jäger und Roß,
Die Felsen im Abendrot hangen
Als wie ein Wolkenschloß.
Dort zwischen den Zinnen und Spitzen,
Von wilden Nelken umblüht,
Die schönen Waldfrauen sitzen
Und singen im Wind ihr Lied.
Der Jäger schaut nach dem Schlosse:
Die droben, das ist mein Lieb!
Er sprang vom scheuenden Rosse,
Weiß keiner, wo er blieb.

Das erinnert nun stark an das Gedicht Waldgespräch, in dem ein Ritter in der Nacht im Wald der Hexe Lorelay begegnet (Eichendorff hatte das schon in seinem Roman Ahnung und Gegenwart hineingeschrieben); wenn Lothario die schöne Waldfrau besingt, dann ist das schlimme Ende nicht mehr fern, die wildschöne spanische Gräfin stürzt sich von einem Felsen in den Fluß. Lothario versucht noch, sie zu retten: So sprach er voll Freude, während sie ritten, Juanna war immerfort still, in der Tiefe neben ihnen rauschte ein Strom, sie horchte manchmal hinunter. Auf einmal blinkte das Wasser zwischen den dunklen Bäumen hinauf, da warf sie ihr Roß gewaltsam zur Seite, setzte die Sporen ein und schwang es mit sich in den Fluß hinab. Erschrocken stürzte Lothario nach, er sah sie mit dem weitaufgelösten Haar gleich einer Nixe in klarem Mondlicht über die Flut dahinschweben, sinken und wieder emportauchen. Endlich hatte er sie gefaßt, sie ruhte an seiner Schulter, ihre feuchten Locken verdunkelten ihm Stirn und Augen. So sank er mit seiner Beute erschöpft am jenseitigen Ufer auf den Rasen hin und lauschte in der entsetzlichen Stille kniend über ihr – aber sie atmete nicht mehr, stumm und bleich in strenger Todesschönheit.

Es schwimmen jetzt viele Frauen, die Undine oder ähnlich heißen, in Flüssen und Seen herum. Oder kämmen sich auf einem Felsen am Rhein ihre blonden Haare (lesen Sie mehr in dem Post Meerjungfrauen + Waldnixen), Eichendorff kann der Versuchung nicht widerstehen die wildschöne Juanna mit dem weitaufgelösten Haar gleich einer Nixe in klarem Mondlicht über die Flut dahinschweben zu lassen. Eichendorff weiß schon, dass alles, was er hier schreibt, nichts mit der Alltagswirklichkeit zu tun hat. In der wirklichen Welt ist er ein steifer preußischer Verwaltungsbeamter, ein rechtschaffener Oberpräsidialrat. Er ist viel gereist (und er wird viele Reise- und Wanderlieder schreiben), und er war schon einmal auf einer Bildungsreise in Paris, aber da verspürt er nur einen Heißhunger auf Deutschland. Er wird Paris wiedersehen, als junger Leutnant zieht er 1815 in das besiegte Frankreich ein.  

In Italien, das bei ihm immer wieder vorkommt, war er nie. Vielleicht ist das Lied Sehnsucht, das Fiametta singt, nicht nur die Sehnsucht der kleinen Italienierin, vielleicht ist es aucht die Sehnsucht des schlesischen Freiherrn: Alle diese Gedichte, wie meine ganze bisherige Poesie, könnten eben auch 'Sehnsucht' überschrieben werden. Aber dieß giebt mir Muth u. Stolz in meiner Demuth. Denn sezt nicht jede wahrhaftige treue unbezwingliche Sehnsucht eine Erfüllung voraus, wie unser ganzes irdisches Leben die Ewigkeit? Ich komme mir vor , wie in einer alten dunklen Kirche. Alle Fenster gehn nach Osten, drauß vor den Fenstern liegt Italia, schreibt er im Jahre 1808. Da ist er zwanzig und beginnt zu schreiben, dass draußen vor den Fenstern Italia liegt, das wird er nicht vergessen. Bevor er seinen Taugenichts nach Italien reisen läßt, bevor er Dichter und ihre Gesellen schreibt, schreibt er das Gedicht Täuschung:

Ich ruhte aus vom Wandern,
Der Mond ging eben auf,
Da sah ich fern im Lande
Der alten Tiber Lauf,
Im Walde lagen Trümmer,
Paläste auf stillen Höhn
Und Gärten im Mondesschimmer –
O Welschland, wie bist du schön!

Und als die Nacht vergangen,
Die Erde blitzte so weit,
Einen Hirten sah ich hangen
Am Fels in der Einsamkeit.
Den fragt ich ganz geblendet:
'Komm ich nach Rom noch heut?'
Er dehnt' sich halbgewendet:
'Ihr seid nicht recht gescheut!'
Eine Winzerin lacht' herüber,
Man sah sie vor Weinlaub kaum,
Mir aber ging's Herze über –
Es war ja alles nur Traum.

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