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Freitag, 25. September 2015

Maj Sjöwall


Die Leiche wurde am 8. Juli kurz nach 15 Uhr geborgen. Sie war ziemlich intakt und konnte noch nicht allzulange im Wasser gelegen haben - ein günstiger Zufall, der eigentlich alle Ermittlungsarbeit der Polizei hätte fördern müssen. Im Grunde war es ein Zufall, daß man die Leiche überhaupt fand. Unten vor der Schleusentreppe in Borenshult ist eine Mole, die die Einfahrt gegen See bei östlichen Winden schützt. Als im Frühjahr der Verkehr auf dem Kanal aufgenommen wurde, zeigte es sich, daß die Zufahrt wieder einmal zu verschlicken begonnen hatte. Die Schiffe hatten Schwierigkeiten beim Manövrieren, und ihre Schrauben rissen gelbgraue Modderwolken aus dem Schlamm des Kanalbetts. Es mußte etwas geschehen. Die Autoren dieses Kriminalromans haben Zeit, viel Zeit. Sie beschreiben detailliert die bürokratischen Schwierigkeiten. Kanalgesellschaft, Wege- und Wasserbauamt, Seefahrtsamt - wer ist zuständig? In der Zeit, die da vergeht, hat der Hamburger Kommissar Nick Tschiller alias Til Schweiger schon ein halbes Dutzend Bösewichte erschossen. Aber dann nimmt die Handlung des Romans doch ein wenig Fahrt auf:

So war der Stand der Dinge: Das Wetter war milde und schön, mit leichtem warmen Wind und spielerisch dahintreibenden Sommerwolken am Himmel. Auf der Mole und der Kanalböschung waren ziemlich viele Leute. Die meisten sonnten sich, einige angelten und zwei oder drei beobachten den Greifbagger. Die Schaufel hatte gerade wieder ein Maul voll Schlamm aufgenommen und begann sich zu heben. In seiner Kabine vollführte der Baggermaschinist mechanisch die gewohnten Handgriffe, der Baggermeister trank in seiner Kajüte eine Tasse Kaffee, der Decksmann stützte die Ellbogen auf die verschmutzte Reling und spuckte ins Wasser. Die Baggerschaufel bewegte sich aufwärts.
     Als sie sich über die Wasseroberfläche hob, sprang ein Mann auf der Kaimauer auf und machte ein paar hastige Schritte auf das Schiff zu. Er ruderte mit den Armen und rief etwas. Der Decksmann, der kein Wort verstanden hatte, richtete sich auf. "Da ist einer in der Schaufel! Anhalten! Da ist einer in der Schaufel!"
     Der Decksmann blickte verwirrt zuerst auf den Mann und dann auf die Baggerschaufel, die langsam über den Laderaum einschwenkte, um ihren Inhalt auszuspucken. Schmutziggraues Wasser floß aus der Schaufel, als der Maschinist sie über dem Laderaum zum Halten brachte. Und da sah der Decksmann, was der Mann auf der Mole schon vor ihm gesehen hatte: Über den Rand der Schaufel ragte ein weißer, nackter Arm. Die nächsten zehn Minuten waren lang und hektisch. Anweisungen wurden herausgebrüllt. Auf der Kaimauer stand ein Mann, der fortwährend wiederholte: "Es darf nichts angerührt werden. Alles muß bleiben, wie es ist, bis die Polizei kommt..."


Die Polizei kommt. In Gestalt des Ersten Kriminalassistenten (wenig später wird er Kommissar sein) bei der Stadtpolizei Stockholm. Er heißt Martin Beck. Den kennt heute die ganze Welt, vor einem halben Jahrhundert, als mit Roseanna (Die Tote im Götakanal) der erste Krimi des Autorenpaares Sjöwall und Wahlöö erschien, war er noch ein Unbekannter. 

Die schwedische Schriftstellerin Maj Sjöwall wird heute achtzig. Sie ist nicht reich geworden mit den Romanen, die sie damals mit Per Wahlöö schrieb. Sie hat manchmal Schwierigkeiten, ihre Miete zu bezahlen. Ein Auto kann sie sich nicht leisten. Auf die Frage, ob es sie ärgere, dass sie heute von allen imitiert wird, hat sie geantwortet: Nein, es ärgert mich nicht, aber es ist schon ein bisschen bitter, dass sie heute so viel Geld mit den Krimis verdienen. Unsere Verträge waren damals überhaupt nicht gut. Wenn Per Wahlöö, mit dem sie seit 1963 zusammenlebte, und sie an all dem finanziell beteiligt gewesen wären, was man aus ihren Romanen gemacht hat, wäre sie heute eine Multimillionärin. Denn ohne Sjöwall und Wahlöö gäbe es keinen Schwedenkrimi, kein Nordic Noir.

Per Wahlöö ist jetzt schon vierzig Jahre tot, Polismördaren (Der Polizistenmörder) und Terroristerna (Die Terroristen) waren die beiden letzten Romane des Duos. Im Gegensatz zu Maj Sjöwall ist Henning Mankell reich geworden, sehr reich. Sie mag ihn nicht besonders, aber er schickt ihr immer seine Bücher. Und bedankt sich für die Inspiration. Er hat keinen Humor, sagt Maj Sjöwall. Humor hatten Sjöwall und Wahlöö reichlich, auch wenn der manchmal ein wenig schwarz war. Vielleicht ist es auch schwarzer Humor, dass Knopf Doubleday vor fünf Jahren den ersten Roman unter dem Titel Roseanna: A Martin Beck Police Mystery mit einem Vorwort von ausgerechnet Henning Mankell herausbrachte. Aus dem man dann noch einige Mankellsche Sprachhülsen wie A modern classic. . . . Lively, stylistically taut . . . Sjöwall and Wahlöö changed the genre pickte und sie auf dem Cover plazierte.

Nach ihrem zweiten Krimi war für die beiden klar, es sollten zehn Romane werden: Wir beschlossen, eine Serie von insgesamt zehn Büchern zu schreiben – und kein einziges mehr. Finito. Die zehn Romane, die sie in zehn Jahren schrieben, haben im Original einen Untertitel: roman om en forbrydelse. Dieser Untertitel, der zeigen sollte, das alle zehn Romane zu einem Gesamtwerk gehörten, wurde nie unter die deutschen Titel gedruckt. Per Wahlöö hat zwei Jahre nach dem ersten Roman laut und deutlich Stellung zu der Konzeption des Werkes bezogen: Seine Grundidee besteht darin, in einem langen Roman von ca. dreitausend Seiten, der in sehr freistehende Teile, oder wenn man will Kapitel, aufgeteilt ist, einen Längsschnitt durch eine Gesellschaft von einer bestimmten aktuellen Struktur zu legen, die Kriminalität als soziale Funktion zu analysieren und ihre Relation zu der genannten Gesellschaft als auch den moralischen Lebensformen verschiedener Art, die sie umgeben, offenzulegen. Émile Zola hätte wahrscheinlich etwas Ähnliches gesagt. In den ersten beiden Romanen hielten sich die Autoren mit der Gesellschaftskritik noch ein wenig zurück (diesen Aspekt betont auch Rudi Kost in Bi-ba Bullenpack: Sjöwall/Wahlöös chronique scandaleuse der Klassengesellschaft). Sie begannen mehr oder weniger konventionell in dem Subgenre der Kriminalromans, dem man die Namen police procedural, oder police crime drama gegeben hat. In dem Punkt sind sie Ed McBain nicht unähnlich.

Der Amerikaner Ed McBain, den sie ins Schwedische übersetzt hatten, war allerdings für sie kein wirkliches Vorbild. Der hatte seinen 25. Roman geschrieben (insgesamt sind es über fünfzig geworden), als sie ihn trafen: Der Mann war so müde, er war die Sache leid, sagt Maj Sjöwall. Aber sie verdanken ihm viel, sie haben sein 87. Polizeirevier von New York nach Stockholm versetzt. Natürlich mussten aus Steve Carella, Meyer Meyer (und wie sie alle heißen) erst einmal mit Martin Beck und Gunvald Larson richtige Schweden werden, die Multikulti Formel, die McBain für sein Polizeirevier hatte, funktionierte in Stockholm nicht: When I started writing, most of the police department in New York City, especially above the rank of detective, were Irish, Irish-American. I thought it would be more interesting ... to use the actual ethnic background in New York City at the time.

Ed McBain hat unter vielen Namen geschrieben, häufig als Evan Hunter (Arno Schmidt hat ihn sogar mal in den fünfziger Jahren übersetzt). Unter dem Namen schrieb er auch The Blackboard Jungle, aus dem ein erfolgreicher Film wurde (lesen Sie mehr in dem Post Jugendkultur). Ed McBain hat wie Henning Mankell viel Geld verdient, aber er hat Qualität geliefert. Dass Krimis, wenn sie das Genre schon nicht transzendieren und zu wirklicher Literatur werden, einen gewissen qualitativen Standard einhalten sollten, hat Maj Swöwall, die für mehrere Verlage als Lektorin und Übersetzerin arbeitete, immer wieder gefordert: Momentan besteht die Gefahr der Abnutzung, weil so viele dasselbe Muster benutzen. Was ich mich frage, ist, ob die Autoren Krimis ungefähr so schreiben, wie man einen Kuchen backt: Man nimmt so und so viel Zucker, so viele Eier... Ich finde aber, der Kriminalroman muss einen bestimmten qualitativen Standard einhalten. Der massenmediale Mensch muss endlich anfangen, sein Hirn für etwas anderes zu gebrauchen. Diesen Gegensatz zwischen der Literaturform, wie wir, mein Mann und ich, sie anwendeten und der Gegenwart ist eklatant. Wir wollten die Form nutzen, um eine Gesellschaft zu beleuchten. Heute werden Krimis wie am Fließband produziert. Das muss sich ändern.

Ihr deutscher Verlag hieß in den sechziger Jahren Rowohlt, und die Krimireihe von Rowohlt (Sie können hier sehen, was es in der Reihe alles gab) hatte damals dank Richard K. Flesch einen guten Ruf. Denn zuerst ging es dem Mann, der in der Branche Leichen-Flesch genannt wurde, um Qualität, nicht um Quantität. Allerdings, das muss man leider sagen, gab man für die Übersetzer nicht viel Geld aus. Vielleicht etwas mehr als der alte Goldmann, der wirklich knauserig war, seinen Übersetzern spendierte. Rowohlt hat 2008 die ganze Reihe in einer neuen Übersetzung herausgebracht, aber Presse und Fans waren nicht wirklich überzeugt. Die alten Übersetzungen von Eckehard Schultz waren gar nicht so schlecht. Schultz hat auch die Übersetzung von Johannes Carstensen von Die Tote im Götakanal überarbeitet und ergänzt.

Richard K. Flesch taten natürlich in den sechziger Jahren die niedrigen Verkaufszahlen mancher Autoren weh. Da war zum Beispiel Edgar Box (von dem damals noch niemand in Deutschland wusste, dass es Gore Vidal war), da war Nicholas Blake (der englische poet laureate Cecil Day-Lewis) oder Thomas Sterling mit dem wunderbaren Der Fuchs von Venedig (verfilmt mit Rex Harrison als The Honey Pot). Der Fuchs von Venedig war ein Roman, den Richard K. Flesch selbst übersetzt hatte. Bevor er Verlagsleiter der Rowohlt Krimireihe wurde, hatte er als Übersetzer gearbeitet und Hemingway und Faulkner übersetzt. Auch die Franzosen wie Boileau-Narcejac gingen anfangs noch nicht gut (wurden aber schnell Bestseller). Sébastien Japrisot, der Salingers Catcher in the Rye ins Französische übersetzt hatte, ging auch nicht. Aber Mord im Fahrpreis inbegriffen brauchte ich mir nicht zu kaufen, das hatte ich im Kino gesehen. Yves Montand und viele Stars. Und wirklich spannend. Das Kino war so gut wie leer. Man hatte in dem Vorort keinen Sinn für Qualität.

Das war auch das Problem von Flesch bei seinem ambitionierten Programm, er war froh, als Autoren wie Harry Kemelman, Chester Himes und Sjöwall/Wahlöö endlich Geld brachten. Das heißt, über die Startauflage von 20.000 Exemplaren hinauskamen. Erstaunlicherweise gelang das eines Tages auch deutschen Autoren wie Hansjörg Martin, Werremeier oder -ky. Beinahe all diese Krimis waren sozialkritisch, das war damals der Geist der Zeit, auch im Kriminalroman. Die Émile Zola Variante des Krimis war keine Erfindung von Sjöwall/Wahlöö, auch Nicolas Freeling (der eine Menge mit den Schweden gemein hat) beherrschte die schon. Flesch war als Herausgeber ein klein wenig schizophren. So gibt es die wunderbare Unterhaltung mit Michael Molsner über dessen Krimi Rote Messe: ›Ein Marxist als Sympathieträger, das werde ich nicht zulassen.‹ – ›Mei, Richard, ich bin Marxist und ich bin doch sympathisch.‹ – ›Du bist erstens kein Marxist, zweitens hast du keine Ahnung, wovon du redest. Marxisten sind Leute, die Autos anzünden.‹ – ›Ich bin Marxist, aber ich zünde keine Autos an.‹ ›Du erzählst Scheiße, du weißt nicht, was du sagst. Ich bin verantwortlich für diese Reihe, und in dieser Reihe taucht kein Marxist als Sympathieträger auf..Michael Molsner wechselte den Verlag. Ich überlege immer noch, ob irgendjemand dem Flesch mal erzählt hat, dass Maj Sjöwall Marxistin war? Links ist sie heute immer noch.

Meine erste mehr oder weniger wissenschaftliche Beschäftigung mit Sjöwall und Wahlöö liegt beinahe fünfzig Jahre zurück. Ich war wissenschaftliche Hilfskraft und Ghostwriter eines Professors, der einen Vortrag über Sjöwall/Wahlöö halten wollte. Er brauchte mich, weil er wusste, dass ich mehr von dem Thema verstand als er. Was ich ihm nie erzählt habe, war, dass ich Jan BrobergHarald Mogensen und Tage la Cour kannte, die mich damals mit allem Wichtigen aus Schweden und Dänemark versorgten. Mein Professor hatte immer wunderbare Ideen, solche Ideen, die der Engländer als high-faluting bezeichnen würde. Aus der tiefschürfenden Interpretation allein eines Romantitels konnte er einen halbstündigen Vortrag machen. Dem gegenüber stand meist eine völlige Unkenntnis des Romans. Aber das interessierte niemanden, von einem Professor erwartete man großartig klingende Interpretationen.

Wir waren also am Schreiben, das heißt, er warf seine Ideen in den Raum und ich schrieb. Lassen Sie uns den Originaltitel betrachten, Jay, sagte er. Und nahm den Rowohlt Band von Und die Großen lässt man laufen in die Hand. Hier, das ist doch großartig: Polis, polis, potatismos! Diese Symbolik! Polis ist die Stadt und potatimos hat mit dem Potentaten zu tun... An dieser Stelle war meine Langmut, die ich mir in Gesprächen mit ihm angewöhnt hatte, zu Ende. Ich sagte ihm, dass polis auf Schwedisch Polizei heißt. Und potatimos nichts anderes als Kartoffelmus. Der Satz kommt übrigens aus der Szene, wo ein Dreijähriger die Polizisten mit polis, polis, potatimos verspottet (die deutsche Übersetzung hat an dieser Stelle Bi-ba-Bullenpack). Was zur Folge hat, dass die etwas bescheuerten Streifenpolizisten Kristiansson und Kvant den Täter entkommen lassen, um das Kind und dessen Vater zu verwarnen. Wir haben an dem Tag nicht weitergearbeitet. Ich habe den Vortrag geschrieben, und er hat dann seine Stilsauce drüber gegossen. Die Zusammenarbeit zwischen Maj Sjöwall und Per Wahlöö hat etwas anders ausgesehen.

Und bevor ich es vergesse: Grattis på födelsedagen Maj Sjöwall.

Es gibt natürlich in diesem Blog schon einen Post zu ➱Sjöwall Wahlöö. Und sie werden immer wieder erwähnt. Wie in ➱Precision Class, ➱Tatort, ➱Nicolas Freeling, ➱Englische Krimiserien, ➱Margery Allingham, ➱Henning Mankell, ➱Désirée.

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