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Sonntag, 11. Oktober 2015

Französisch


1964. Ich bin wieder in Frankreich, diesmal in Uniform. Mein Französisch ist inzwischen besser als es damals in Paris war. Dank Oberstudienrat Bruno Ewald. Unser Gymnasium hatte eine Reform der gymnasialen Oberstufe eingeführt, ein Vorläufer des Buxtehuder Modells, einmalig in Bremen. Das bedeutet ungeahnte Wahlmöglichkeiten, ich verzichte auf den Chemieunterricht und wähle Französisch (und Kunst und Laienspiel). Da nur wenige im Lateinzweig Französisch wählen (auch Spanisch und Russisch stehen bei uns im Programm), ist unsere Gruppe sehr klein. Und drei Jahre mit Bruno Ewald in einer kleinen Gruppe bedeuten, dass man fit für Frankreich wird. Vor allem, wenn man vorher jahrelang Latein gehabt hat. Ich beschließe, die französische Literatur nur noch im Original zu lesen.

Il y avait déjà bien des années que, de Combray, tout ce qui n’était pas le théâtre et le drame de mon coucher, n’existait plus pour moi, quand un jour d’hiver, comme je rentrais à la maison, ma mère, voyant que j’avais froid, me proposa de me faire prendre, contre mon habitude, un peu de thé. Je refusai d’abord et, je ne sais pourquoi, me ravisai. Elle envoya chercher un de ces gâteaux courts et dodus appelés Petites Madeleines qui semblent avoir été moulés dans la valve rainurée d’une coquille de Saint-Jacques. Et bientôt, machinalement, accablé par la morne journée et la perspective d’un triste lendemain, je portai à mes lèvres une cuillerée du thé où j’avais laissé s’amollir un morceau de madeleine.

Zugegeben, den größten Teil von Proust habe ich auf Deutsch gelesen, aber Célines Voyage au bout de la nuit habe ich auf Französisch gelesen. Das ist schon eine sprachliche Herausforderung. Ich kämpfe mich durch. Ich lerne alle die Chansons von Jacques Prévert auswendig, die Juliette Gréco singt (Oh! Je voudrais tant, que tu te souviennes des jours heureux où nous étions amis). Mein Originaltextwahn treibt seltsame Blüten: im Gare du Nord kaufe ich 1963 für die Rückreise mit dem Nordexpress (der morgens um acht in Bremen sein wird) den Roman L’Auberge de la Jamaique von einer Daphne du Maurier, in dem das Wortfeld Nebel sehr strapaziert wird. Jahre später erfahre ich, dass die Frau mit dem französischen Namen eine Engländerin ist und dass der Originaltitel des Romans Jamaica Inn ist. 

Mein Opa, der im Ersten Weltkrieg als Hauptmann in Frankreich war, konnte Französisch, aber er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als zuzugeben, dass er die Sprache des Landes beherrschte, das für ihn immer noch der Erbfeind war. Solche Rekapitulation stärkt einen immer historisch und patriotisch und unser Etappenfranzösisch kommt auch wieder zu Kräften, sagt der alte Dubslav an einer Stelle von Fontanes Der Stechlin. Zu Fontanes Zeit war das Französische noch die Sprache des gebildeten Bürgertums. Mein Vater konnte dieses Etappenfranzösisch (und noch viele Wörter, die Fontane auch noch gebrauchte). Meine Mutter wird noch mit achtzig alle unregelmäßigen Verben des Französischen aufsagen können. Der Hamburger Verwandte WF ist idiomatisch beinahe zweisprachig. Er sammelt das ganze Jahr über Überstunden, um seinen Jahresurlaub vier Wochen im Stück in Südfrankreich nehmen zu können, jedes Jahr an der gleichen Stelle. Picasso wohnt da, oder macht da Urlaub. Die beiden kennen sich inzwischen, trinken auch mal einen Cassis zusammen. Bist Du total bescheuert? frage ich ihn, warum lässt Du Dir nicht mal ‘nen Bierdeckel signieren oder nimmst eine von ihm bekritzelte Papiertischdecke mit? 

Ich lerne Gedichte auswendig, die ich noch heute jederzeit aufsagen könnte. Vor Jahren, im Sommer, schlendert ein Mädchen in der Einkaufsstraße von Kiel vor mir her, deren T-Shirt bedruckt ist mit Baudelaires Albatros: Souvent pour s’amuser les hommes d’équipage prennent l’albatros, vastes oiseaux des mers.... Das ist von Baudelaire, sage ich, als die junge Frau an der nächsten Ampel neben mir steht. Nein, sagt sie, von Diesel. In diesem Augenblick wird mir klar, dass wir heute ein wirkliches Kulturproblem zwischen zwei Generationen haben.

Meine Begeisterung für die französische Literatur kommt nicht allein von Bruno Ewalds sicher gutem Unterricht, ich habe gerade, wie viele in meiner Klasse, eine Phase, in der wir Exis sind. Der Existentialismus schwappt von Frankreich auch nach Bremen. Schwarze Rollkragenpullover, abgeschabte Tweedjacketts, einen roten Rowohlt Band mit den Werken von Sartre oder Camus unter dem Arm, daran erkennt man den Exi. Aber es ist nicht nur das Äußerliche, wir lesen das auch, was wir da demonstrativ unter dem Arm tragen. Kaufen Juliette Gréco Platten (definitiv nicht Georges Brassens, das ist etwas für die Generation von WF). Hören Jazz und sehen nur noch französische Filme. Am besten französische Filme mit Jazz Soundtrack wie Ascenseur pour l’échafaud

1962 in Berlin kratze ich mein ganzes Taschengeld zusammen, um eine Karte für das erste Konzert von der Muse des Existentialismus zu kaufen. Sie hat Deutschland bisher gemieden; was man verstehen kann, wenn Mutter und Schwester ins das KZ Ravensbrück verschleppt werden. Unglücklicherweise sitze ich (Komödie Kurfürstendamm Reihe 12 Parkett links, Sitz Nr. 141) hinter Deutschlands schönstem Mann, dem Filmschauspieler Paul Hubschmid. Der ist ein Sitzriese, und ich versuche das ganze Konzert an seinem linken oder rechten Ohr vorbei einen Blick auf das sich katzenartig bewegende Geschöpf im schwarzen Kleid zu werfen, das von einer kleinen Combo begleitet da vorne singt. Die Eintrittskarte bewahre ich wie eine Reliquie auf.

Meine Begeisterung für das Französische ist auch aus einem gewissen Zwang geboren. Alle jungen Frauen, die ich kenne (tous les filles de mon âge), schreiben jetzt Briefe auf Französisch, es ist wie eine Manie. Hat mit Renate angefangen, damals in Ailly, als sie je t'aime beaucoup schrieb, und ich nicht wusste, was beaucoup heißt. Und dann gehen sie auch noch für ein Jahr nach Frankreich, Ute nach Paris, Ingrid nach Lyon. Peter studiert Romanistik, in den Semesterferien lese ich mit ihm Altfranzösisch, Chanson de Roland. Das ist sicher schön, passend für Bremer, die einen Roland haben, aber man kann es für französische Zitate in Liebesbriefen wenig gebrauchen. Denn das ist es doch, worauf es jetzt ankommt. Le plus grand bonheur que puisse donner l'amour, c'est le premier serrement de main d'une femme qu'on aime.

Alle Menschen sind dem Wesen nach gleich, nichts verbindet sie als die Sprache. Aber wenn sie jetzt in fremden Zungen reden, was meinen sie mit diesen Wörtern? Man muss jetzt gut Französisch können, um die Frauen zu verstehen, wenn sie von l’amour reden. Oder den Brief mit L'amour est un oiseau rebelle Que nul ne peut apprivoiser Et c'est bien en vain qu'on l'appelle S'il lui convient de refuser beenden.

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