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Donnerstag, 11. Februar 2016

Capriccio


Was war das? Das gehörte doch gar nicht dahin. Ich hörte plötzlich auf der CD etwas, was ich noch nie gehört zu haben glaubte. Ich ging zum CD Player zurück und schaute mir die CD Hülle an. Die CD hatte ich eingelegt, weil J.S. Bach Partitas drauf stand. Die ➱Partitas höre ich im Augenblick gerne (sie helfen ebenso wie ➱Mozart gegen den Tinnitus). Ich bin durch Igor Levit auf den Geschmack gekommen, höre im Augenblick aber lieber den New Yorker Richard Goode. Der ja noch von Mieczysław Horszowski unterrichtet wurde. Sie können ihn ➱hier hören, der ➱Frack passt ihm an keiner Stelle, aber das macht nichts.

Was gerade im CD Player lag, war Wolfgang Rübsam. Niedrigpreisangebot von Naxos. Rübsam (der eine Meisterprüfung als Friseur abgelegt hat und in Amerika einen barbershop besitzt) sieht zwar mit seiner Haartracht etwas seltsam aus, aber er spielt einen wunderbaren Bach. Ohne Einschränkung zum Kauf empfohlen. Und das, was mich hatte aufhorchen lassen, ist auf dieser abgebildeten CD mit drauf. Sozusagen als Beigabe zu den Partitas No 1 und No 2. Ein Musikstück, das etwa zehn Minuten lang und ganz erstaunlich ist. Es hat einen langen italienischen Titel: Capriccio sopra la lontananza de il fratro dilettissimo, was auf deutsch soviel wie Capriccio über die Abreise des sehr beliebten Bruders.

Das Capriccio hat die Nummer 992 des BWV. Und es hat einen Wikipedia Artikel von schöner Klarheit. In dem wir erfahren, dass wir nicht sehr viel über dies Capriccio wissen. Nicht einmal, was mit der Abreise des sehr beliebten Bruders gemeint ist. Das erstaunliche an diesem Stück sind die programmatischen Titel der einzelnen Sätze. Wie Ist ein allgemeines Lamento der Freunde oder Ist eine Schmeichelung der Freunde, um denselben von seiner Reise abzuhalten. So etwas hat Bach nie wieder gemacht.

Das Capriccio ist sehr klangschön, geradezu romantisch. Ich bin sentimental, mich haut eine schöne Melodie um. Das habe ich schon über ➱I skovens dybe stille ro (einem meiner ersten Posts) oder ➱Visa i backa gesagt. Nicht alle Pianisten haben das Capriccio 992 gespielt; und die, die es spielen, spielen es alle ein wenig anders. ➱Svjatoslav Richter spielt es anders als ➱Rosalyn Tureck. Glenn Gould hat es nicht gespielt. Es stand auf der Liste der Bach Kompositionen, die er noch spielen musste, wenn er das Gesamtwerk einspielen wollte. Sein Vertrag mit Columbia lief noch bis 1983, die hofften natürlich, dass es noch der ganze Bach werden würde. Sein ➱Haydn Projekt hatte er abgeschlossen, mit Bruno Monsaigneon hatte er eine dreiteilige Reihe Glenn Gould plays Bach verabredet. Dann spielte er die Goldberg Variationen noch einmal ein. Langsamer als in den fünfziger und sechziger Jahren. Dann kam der Tod. Keine Zeit mehr für das Capriccio. Den Welterfolg der Goldberg Variationen hat er nicht mehr erlebt.

Aus den vielen Aufnahmen des Capriccio, die sich bei YouTube finden, habe ich heute die von Galila Rübner (oder Galila Izreeli-Rübner) ausgesucht. Sie können sie ➱hier hören. Man kann das nicht kaufen, man kann (wenn ich es recht sehe) überhaupt keine Aufnahmen von der 84-jährigen in Israel geborenen Pianistin kaufen. Aber wenn man ihren Namen bei YouTube eingibt, dann wird man überrascht sein, was man da alles von ihr hören kann. Es ist das Schicksal von Galila Rübner, dass sie ein wenig das Anhängsel ihres Gatten ist, denn der in Preßburg geborene Tuvia Rübner, der 1941 nach Palestina emigrierte, ist ein berühmter Dichter.

Er ist in Deutschland nicht so bekannt, obgleich er 1999 den Paul Celan Preis erhalten hat. Und in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen wurde. Sie können auf dieser ➱Seite eine schöne Würdigung seines Werkes lesen. Tuvia Rübner (hier mit seiner Gattin Galila) ist gerade zweiundneunzig geworden. So alt wird mein Onkel Karl (der manchmal auch Gedichte schreibt) am Ende dieses Monats übrigens auch. Der ➱Post, den ich ihm zum neunzigsten Geburtstag schrieb, hat ihn ein wenig berühmter gemacht. Vielleicht macht dieser Post ja ➱Galila und Tuvia Rübner hierzulande etwas berühmter. Das wäre schön. Und vielleicht fangen Sie jeden Tag mit dem Arioso des Capriccio 992 an. Sie brauchen nur ➱hier zu klicken. Machen Sie sich doch einfach ein Lesezeichen.

Bis 1954 hat Tuvia Rübner seine Gedichte auf deutsch geschrieben, danach auf hebräisch. Seine neuesten Gedichte (und beinahe alle seine Werke) sind beim Rimbaud Verlag erschienen, diese ➱Seite sollten Sie unbedingt einmal anklicken. Wunderbarer Wahn sei sein letztes Buch, hat er vor zwei Jahren gesagt. Aber man weiß ja nie. Ich habe den Verlag von Bernhard Albers schon in dem Post über den deutschen Dichter ➱Gerhard Neumann hervorgehoben, was aber leider die ➱Auflagezahlen von Gerhard Neumann nicht wesentlich angehoben hat (hat mir Herr Albers geschrieben). Man kann die deutschen Kleinverlage ja nicht genügend loben, weil man sonst das Gefühl bekommt, die deutsche Kultur bestände nur aus Til Schweiger, Dieter Bohlen und Helene Fischer.

Inzwischen ist ➱Tuvia Hübner auch von den Engländern und Amerikanern entdeckt worden, ich hätte ➱hier eine interessante Seite des jüdischen Kulturmagazins Tablet. Und auf einer englischen Seite fand ich ein Gedicht von Rübner, das mir sehr gefallen hat. Es heißt Postcard from Vienna:

A raised arm may be lowered
a salute – withdrawn.
A mouth filled with shrieks is also capable of speaking.
Wild shouts may turn into laughter.
It isn’t absolutely necessary to clean sidewalks with toothbrushes.
Yet Vienna is beautiful, a spotlessly clean city
with a rich past. Many musicians
lived there, actors, a lot of authors.
A city with much to be proud of.
On the Heldenplatz the sparrows chatter,
the traffic hums.
A hangman doesn’t have to be ashamed because he was
a hangman. And the Danube
is not really blue.
In a certain sense goodness is boring, Kafka wrote,
without consolations. Be seeing you.

Letztes Jahr war ein Bachjahr, der 330. Geburtstag des Komponisten. Leider von mir im Blog unbemerkt. Feiertage sind mir egal, Bach gehört bei mir zum Alltag und liegt eh immer im ➱CD Player. Und die Noten vom Capriccio habe ich mir auch schon gekauft. Komme aber über die erste Seite, die Schmeichelung der Freunde, um denselben von seiner Reise abzuhalten, noch nicht hinaus. In diesem Blog gibt es viel Johann Sebastian Bach, und wenn Ihnen der Sinn danach steht, könnten Sie noch lesen: Bach: Partitas, Glenn Gould, Gouldberg Variations, Linkshänder, Play Bach, Andante ma non troppo, Bachs Cellosuiten, Myra Hess, Friedrich Gulda, Gulda, Arturo Benedetti Michelangeli, Hans Matthison-Hansen

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