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Sonntag, 19. Juni 2016

Langeoog


Wenn man seine Kurtaxe bezahlt hat, darf man in Langeoog heutzutage täglich einmal umsonst ins Schwimmbad. Und auf den Wasserturm. Und man darf auch ganz umsonst mit der Bimmelbahn zum Hafen und zurück fahren. Langeoog tut etwas für seine Kurgäste, dafür sind sie aber auch Spitzenreiter bei der Kurtaxe. Das war vor Tagen der Inhalt eines Berichts auf N3. Ich erkannte bei all den bunten Bildern mein altes Langeoog nicht wieder. Am gleichen Tag, an dem ich den kleinen Film über Langeoog sah - den ich auch nur sah, weil ich den schlechten Fußball nicht sehen wollte - erhielt ich eine Mail von Ingbert Lindemann mit einem langen Anhang. Es war eine Geschichte der Evangelischen Jugend und des Gemeindelebens meines Heimatorts. Mit vielen Photos, auch von Langeoog. Pure Nostalgie.

Da waren sie alle wieder: Werner, der so gut Fußball spielen konnte; der lange Roder, der schon tot ist. Wolfgang, immer umsichtig und fleißig, Konny voller Dynamik. Und natürlich Ingrid, bei der mein Herz immer einen kleinen Hopser macht, wenn ich ein Bild von ihr sehe. Ingbert Lindemann hat Theologie studiert und ist Pastor geworden, deshalb ist er dazu prädestiniert, objektiv über die Gemeindearbeit zu schreiben. Er hat auch über die Geschichte seiner Aumunder Gemeinde geschrieben, so zum Beispiel in dem Buch Die H. ist Jüdin! Aus dem Leben von Aumunder Juden nach 1933, zu dem der ehemalige Bremer Bürgermeister Hans Koschnick ein Vorwort geschrieben hat.

Ich darf als Blogger subjektiver schreiben. Und Sie lieben mich natürlich für meine Subjektivität. Und für meinen Stil, der ja schon manchmal etwas Literarisches hat. Eine Leserin aus Dänemark schrieb mir zu dem Satz: In der Tiefgarage meines Herzens, wo die Autos stehen, von denen man träumt, wird immer ein dunkelblauer großer Jaguar Mark VII stehen (der sich in Des Königs Jaguar findet): Oh wie schön poetisch. I like. Der Satz ist an der Grenze des Kitsches, das weiß ich. Aber es ist irgendwie auch ein wahrer Satz, und ich mag ihn. Wie ich den ganzen Post mag, ich habe es nun mal mit der Nostalgie. Es reicht bei mir nicht für die Suche nach der verlorenen Zeit, aber manchmal sind meine Rückerinnerungen ein klein wenig davon. Memory Hold-the-Door hat John Buchan seine Lebenserinnerungen genannt, das ist ein wunderbarer Titel. Und da dachte ich mir, ich hole aus dem großen Worthort der Erinnerungen (sprich Bremensien) ein Kapitel heraus, das Langeoog heißt. Sie brauchen dafür auch keine Kurtaxe zu bezahlen.

Wir bekommen in den fünfziger Jahren in der Evangelischen Kirche Vegesack nicht nur ein neues Gemeindehaus, sondern auch einen Diakon für die Jugendarbeit namens Klaus Nebelung. Er wird zusammen mit seiner Frau Waltraut unser Leben verändern. Er wird eine Jugendarbeit auf die Beine stellen, die es in keiner Nachbargemeinde gibt. Und wahrscheinlich in ganz Bremen nicht. Unsere Volksschulklasse wandert beinahe geschlossen in die Eva, wie sie als Abkürzung für Evangelische Jugend schnell heißt. Wir tragen grüne Fahrtenhemden (manchmal, nicht immer, so chic sind die Sachen auch nicht) und ein schwarzes Halstuch, das wir durch einen Ring mit dem Kugelkreuz ziehen. In hoc signo vinces. Ich habe immer noch einen hellblauen Ausweis (ohne Ausweise geht es in Deutschland nicht) auf dem steht, dass ich berechtigt bin, das Zeichen der Evangelischen Jugend Deutschlands zu tragen. Datiert vom 14.6.1959 und unterschrieben von Klaus Nebelung. Auf der Rückseite steht unter dem Kugelkreuz Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.

Wir haben auch ein rotes Fähnlein mit dem Kugelkreuz, das wir überall hin mitnehmen. Sogar auf dem Rad bis Bornholm, was bei Wind ganz schön am Gepäckträger zerrt. Bei der Evangelischen Jugend gibt es jetzt in Frühjahr und Herbst eine Freizeit in Jugendherbergen, kirchlichen Heimen oder Zeltlagern. Und im Sommer eine große Freizeit oder eine Wanderfahrt. Wir haben ein kleines Gesangbuch namens Mundorgel, das 50 Pfennig kostet. Ein Kirchengesangbuch brauchen wir nicht. Ein dutzend Kirchenlieder können wir spätestens seit dem Konfirmandenunterricht auswendig. Und in der Mundorgel sind auch geistliche Lieder drin, schließlich ist sie vom CVJM herausgegeben. Natürlich sind hier auch Lieder drin, die die Hitlerjugend gesungen hat. Aber das liegt daran, dass sich die Nazis alle Lieder unter den Nagel gerissen haben, die schon viel älter waren und niemals Nazilieder gewesen sind. Auf eine eingängige Melodie kann man alles singen. Flamme empor kommt aus den Freiheitskriegen von 1814, nicht von den Nazis. Das Horst Wessel Lied ist ursprünglich eine Moritat zu einer Leierkastenmelodie aus dem 19. Jahrhundert. Und was ist nicht alles auf die Melodie von Prinz Eugen, der edle Ritter gesungen worden.

Ich habe ein selbst gemachtes Liederbüchlein aufgehoben, das 1936 datiert ist. Hier haben zwei Mitschülerinnen meiner Mutter aus der Vulkanstraße alle Lieder aufgeschrieben, die sie damals gesungen haben. Das meiste da drin ist unverfänglich und steht auch in der Mundorgel und ist vorher das Repertoire der Wandervogelbewegung gewesen: Wilde Gesellen, Jenseits des Tales, Der Wind streicht über Felder oder Hoch auf dem gelben Wagen. Aber dazwischen findet sich auch, in der gleichen Schrift und ohne zu zögern geschrieben, Brüder in Zechen und Gruben. Da ist in der zweiten Strophe die Rede von Börsengauner und Schieber knechten das Vaterland und dann kommt es:

Hitler ist unser Führer,
Ihn lohnt nicht goldner Sold,
der von den jüdischen Thronen
vor seine Füße rollt.


Dies ist einmal ein russisches Studentenlied gewesen, irgendwann hat jemand Brüder, zur Sonne, zur Freiheit dazu gedichtet. Und dann hat ein junger HJ Führer aus Wien namens Roman Hädelmayr, der noch mehr von solchen Texten auf dem Gewissen hat, diesen Text geschrieben. Die Hymne der Sozialisten wird zum Kampflied der SA, heute offiziell verboten nach § 86a des Strafgesetzbuches, aber mit Text und Musik im Internet überall erhältlich. Findet sich auf Seiten, die Deutsche Volkslieder heißen. Wir Deutschen haben ein seltsames Erbe. Hätten wir das damals gesungen?

Für meinen Opa, Hauptman im Ersten Weltkrieg, sind alle Jugendorganisationen gleich, solange es nicht die Roten Falken sind, die Jugendorganisation der Arbeiterjugend. Hauptsache, sie machen Geländespiele, was für ihn ein Teil der vormilitärischen Ertüchtigung ist. Für uns sind Geländespiele eher ein großes Programm, um die Natur besser kennenzulernen. Unser Diakon kennt sich, genau wie Opa, mit allem, was da kreucht und fleucht aus. Das Belehrungsprogramm für Flora und Fauna hört nie auf. Es wird aber auch immer ein kulturelles Programm geben, Besichtigungen von Kirchen und Museen und sonstigen Sehenswürdigkeiten. Das ähnelt in manchem einer Klassenfahrt, doch auf Klassenfahrten wird nicht gebetet, da gibt es keine Bibelarbeit. Das ist hier selbstverständlich, wir sind wahrscheinlich eine der letzten Generationen, die noch bibelfest ist. Heute gibt es Generationen von Jugendlichen, die die Bibel nicht kennen, aber darauf stolz sind, dass ihre Ideale Pornos und Komasaufen heißen. Das sind wirkliche Errungenschaften.

Klaus Nebelung hat mit uns keine großen pädagogischen Probleme, wir trinken nicht und rauchen nicht (na ja, nicht bevor wir achtzehn sind). Die einzigen Spannungen treten an einer ganz anderen Stelle auf, ich beobachte das mit einer gewissen Belustigung. Waltraut Nebelung, die immer als weibliche Betreuungsperson mit dabei ist, wenn wir als Gruppe mit Mädchen und Jungen unterwegs sind, hat manchmal mit atmosphärischen Störungen innerhalb der Gruppendynamik zu kämpfen. Sie sieht Annäherungsversuche von gut aussehenden achtzehnjährigen Gymnasiastinnen an ihren Ehemann nicht so gerne. Der ist ja noch nicht so alt und ist ein durchaus vorzeigbares Mannsbild. Und es sind immer wieder kleine Intrigantinnen dabei, die ihre Geduld auf die Probe stellen. Zickenkriege, würde man heute sagen. Ich bewundere sie, wie sie damit fertig wird.

Man kann ja über das Wandern in der Natur und das Schlafen in großen Pfadfinderzelten, die in der Mitte oben offen sind, und die Lagerfeuerromantik geteilter Meinung sein. Aber dies ist nicht die HJ, die hat nicht gebetet. Oder wenn, dann an den falschen österreichischen Gott. Um stille Feuer liegen, im Feld bei dunkler Nacht, wenn jemand eine Gitarre dabei hat, das ist schon schön. Mit all diesen Vorgängern seit der Wandervogelbewegung haben wir etwas gemeinsam: wir besitzen nicht viel. Die Fahrten mit der Eva sind für uns ein Besitz und ein Gewinn. Wir haben nicht, wie die heutige Jugend, Mobiltelephone, TV Geräte, Spielekonsolen, Computer, Hi-Fi Anlagen und all das, womit sich die Japaner sonst noch so nach dem verlorenen Krieg an der westlichen Welt rächen. Wir haben Lederhosen (wie Generationen vor uns), einen Anorak und ein Fahrrad. Wir haben eine Junghans Konfirmationsuhr, und das ist schon Luxus. Das Erlebnis von Städten und Landschaften außerhalb unseres kleinen Ortes ist für uns etwas Elementares. George Orwell fand in den dreißiger Jahren den Gedanken erschreckend, dass Menschen eines Tages auf die Idee kommen könnten, den ganzen Tag Radio zu hören. Wenn man 1956 im Zeltlager in Oerlinghausen ist, dann hört man 14 Tage kein Radio, und Fernsehen gibt es eh noch nicht. Die erfahrbare Welt des Teutoburger Waldes bedeutet einem mehr ohne die Segnungen der Technik. Und mit ein bisschen Losglück (das ich nicht habe), darf man sogar in einem Segelflugzeug mitfliegen.

Wir sind nicht die einzige Jugendorganisation in den fünfziger Jahren. Dies ist die große Zeit der konfessionellen, gewerkschaftlichen und anderen Jugendarbeit, man will eine Jugend, die mit demokratischen Zielen und Idealen aufwächst (die Jungen Pioniere lassen wir mal eben aus). Diese Ziele werden auch gefördert, wenn man sich die Geschichte der großen Jugendhöfe anschaut, wird man sehen, dass in den Fünfzigern sehr viel Geld für Neubauten oder eine neue Ausstattung aus amerikanischen Quellen fließt. Steinkimmen in Niedersachsen, wo Hannes Meyer (der zuvor bei uns das Jugendheim leitete) Leiter wird, wäre ein Beispiel. Hierhin gehen nicht nur Gelder von Bremen und Niedersachsen, sondern noch mehr Geld aus der McCloy-Stiftung. (Der hat hier in Berlin in einer ganz kleinen bescheidenen Villa gewohnt, sagt mir Jimmy). Und auch das moderne Berufsschulzentrum, das 1951 inmitten von Ruinentrümmern in Walle entsteht, ist mit zwei Millionen D-Mark von der McCloy Stiftung finanziert. Wir schwimmen immer noch auf einer von Amerika bezahlten Demokratisierungswelle. Das sind alles noch die Auswirkungen der Re-Education. Und das ist sicherlich ebenso wichtig, wie die Care Pakete ein Jahrzehnt vorher. Es sind andere Dimensionen als in den zwanziger Jahren, als mein Opa in Eggestedt ein Schullandheim gründete. Das hatte noch ein wenig mit der Wandervogelbewegung zu tun. Obgleich meine Mutter immer sagte, dass das nur als Heimat für seine alten Kumpels aus dem Stahlhelm gedacht gewesen sei.

Aber Geld und Ausstattung bedeutet gar nichts, solange die schönen Ideen nicht mit Leben erfüllt werden. Und dafür braucht man Pädagogen und wirkliche Menschen mit Ecken und Kanten. Wie Nebelung und seine tatkräftige Frau, die ein Glücksfall für die Gemeinde sind. Jahrzehnte nach der Gründung der Eva im Jahre 1956 gibt es ein Ehemaligentreffen im großen Saal des Gemeindehauses. Hier haben wir unsere Jugend verbracht, von hier aus haben wir halb Norddeutschland und halb Europa erobert. Es ist ein wichtiger Teil unseres Lebens gewesen. Und sicherlich hat das Ehepaar Nebelung durch sein Vorbild auch viele von uns geprägt. Ich, der ich mein ganzes Leben lang Schwierigkeiten mit dem Akzeptieren von Autoritäten habe, gebe das gerne zu. Vierzig Namen (plus Ehefrauen: manche haben sich hier kennen und lieben gelernt) stehen auf der Einladungsliste. We few, we happy few. Alte Dias von den schönsten Freizeiten werden gezeigt, glücklicherweise hat Klaus Nebelung immer photographiert.

Wir besaßen im Keller des Gemeindehauses sogar ein Photolabor. Dort habe ich mit anderen viele Stunden verbracht, bevor ich mir bei uns im Keller ein kleines Labor einrichten durfte. Wir alle haben immer photographiert, die Jugendarbeit der Gemeinde Vegesack ist besser dokumentiert als die Gemeindearbeit in dem halben Jahrhundert davor. Klaus Nebelung photographiert mit Diafilm und in Farbe (und das ist mit Blick auf zukünftige Dia Abende ja auch völlig richtig). Ich bin damals noch schwarz-weiß Purist. Mein gelungenstes Photo stammt aus Zetel im Frühjahr 1958. Ich habe Konny (auf dieser Bildversion abgeschnitten), Heidi und Ingrid in der schönen kleinen St. Martinskirche sorgfältig ausgewogen placiert und sie angehalten, jetzt gläubig zu gucken. Und das möglichst lange, ich muss mit meiner Werra lange belichten, available light photography. Aber es wird ein tolles Photo, diese chiaroscuro Schatten, die leichte Diagonale der Empore. Henri Cartier-Bresson wäre mit mir zufrieden. Und dann diese fromm guckende Dreiergruppe. Wenn man genau hinschaut, ist auf Ingrids gläubigem Gesicht ein leichtes ironisches Lächeln zu spüren. Sie kann eben nicht anders.

Die Ostfriesischen Inseln liegen für Bremer vor der Tür. Sylt nicht, das überlässt man den Hamburgern. Anfang der fünfziger Jahre wird meine Familie einige Sommer Urlaub auf Sylt machen, auf einem kleinen Zeltplatz südlich von Westerland. Damals hat Sylt noch gar nichts Fashionables an sich. Hinter dem Campingplatz in den Dünen ist ein FKK Badestrand, den meine Eltern bevorzugen. Das müssen bei ihnen noch die Reste der Freikörperkultur der zwanziger und dreißiger Jahre sein. Aber vom FKK Strand einmal abgesehen, geht Sylt für Bremer gar nicht.

Langeoog schon. Spiekeroog wiederum nicht (war ich auch nur ein einziges Mal), obgleich es da wirklich hübsch ist. Es gibt in Bremen eine Rangfolge der Vornehmheit der Inseln, die ich nie eingesehen habe. Norderney (wo Klaus Groth und der König von Hannover Urlaub machten) geht immer. Borkum geht gar nicht, das ist ja schon Holland. Juist gilt als fein, da hat Hans Kalich ein zweites Herrenmodegeschäft (heute haben sie da eine schnuckelige Insel-Bloggerin). Andere Inseln gibt es für Bremer nicht. Außer Helgoland, aber das ist eine andere Geschichte. Langeoog ist für Bremer eigentlich auch nur außerhalb der Saison chic, also im Herbst und Winter, zu Weihnachten und im Frühjahr. Dann ist es wirklich schön, keine Touristen mehr. Die Ostfriesischen Inseln in den fünfziger und frühen sechziger Jahren haben wenig mit den Inseln heute gemein, die Übernachtungszahlen kommen nicht annähernd an die heutigen Zahlen heran. Hatte Langeoog um 1960 vielleicht 30.000 Besucher im Jahr, so sind es heute weit über 200.000.

Norderney strahlt selbst 1949 noch etwas von dem Glanz vergangener Zeiten aus. Ich bin da mit irgendeinem Programm zur Kinderlandverschickung gelandet (gut, das heißt jetzt etwas anders als bei den Nazis), ich kenne keins von den anderen Kindern. Und ich bin, da meine Eltern das bezahlt haben, Selbstzahler. Das Ganze soll gut für meine Gesundheit sein. Mangelkrankheiten gibt es genug. Auch bei dem grässlich schmeckenden Lebertran wird einem eingeredet, dass er gut für die Gesundheit sei. Am ersten Tag, wenn eine brüllende Stimme die Namen vorliest, heißt es Jay, Selbstzahler. Ich weiß damals nicht, was das ist, aber das Kainsmal Selbstzahler haftet mir für die nächsten drei Wochen an. Die Pädagogik im Umgang mit kleinen Bötzeln muss nach dem Krieg offensichtlich mühevoll neu erfunden werden, bei allem Tun herrscht hier noch der Kasernenhofton, da hat sich seit Adolfs Kinderlandverschickung nichts geändert. Für alles müssen wir uns aufstellen und werden angebrüllt, selbst bei Wanderungen über die Insel wird in Zweierreihen marschiert. Wir kommen nicht zur Entfaltung unserer Huckleberry Finn Freiheiten, die wir im Heimatort gewöhnt sind, wo wir im Nachkriegsdeutschland auf der Straße und in den Trümmergrundstücken machen können, was wir wollen.

Ein einziges Mal habe ich Heimweh, nachts im großen Schlafsaal, aber ich weiß nicht, was Heimweh ist, weil ich das Wort nicht kenne. Ich liege wach und habe dieses Gefühl einer großen Einsamkeit und Verlorenheit, das ich nie zuvor kannte. Und auch nicht beschreiben kann. Wenn man keine Wörter dafür hat, weiß man nicht, was es ist. Dann schlafe ich wieder ein. Der Schlafsaal, in dem ich für einen Augenblick Heimweh habe, ist in meinem filmischen Gedächtnis gespeichert, ich kann ihn jederzeit als Bild abrufen. Am letzten Tag kaufe ich für meine Eltern und für Oma Muscheln, auf denen Gruß aus Norderney steht. Wenn man die ans Ohr hält, hört man die Nordsee rauschen. Sagt der Verkäufer. Wenn ich Jahre später wieder einmal in Norderney bin, erkenne ich beinahe alles wieder, ich muss mir damals alle architektonisch interessanten Gebäude gemerkt haben. Diesmal kaufe ich aber keine Muscheln, obgleich die immer noch unverändert im Angebot sind.

Die Evangelische Kirche des Landes Bremen hat in Langeoog ein Jugendfreizeitzentrum von respektablen Ausmaßen. 1947 hatte sich der Bremer Landesjugendpfarrer Werner Brölsch für die Bremer Kirche eine Baracke und das umliegende Land Meedland gesichert. Dass hier ein Gefangenen- und Arbeitslager für sowjetische Kriegsgefangene war, von denen viele hier gestorben sind, hat man ihm damals nicht erzählt, das ist auch erst sehr viel später bekannt geworden. Wahrscheinlich haben sich die Inselbewohner dafür geschämt. Zur Feier von fünfzig Jahren Haus Meedland hat die Bremische Kirche allerdings das dunkle Kapitel der Insel aufgearbeitet.

Als wir mit der Evangelischen Jugend hier Anfang der sechziger Jahre ankommen, erinnert nichts an die dunkle Zeit. Außer Lale Andersen, die einen Kilometer Luftlinie weiter in den Dünen wohnt, und die mit Lili Marleen berühmt geworden ist. Aber die ist nie eine Nationalsozialistin gewesen, die Nazis wollten sie sogar mal ins KZ sperren. Alle Gebäude von Meedland, große Häuserkomplexe und eine kleine hölzerne Kapelle mit einer Loggia, sind neu. Allerdings bleibt hier in Wind und salziger Luft nichts lange neu. Deshalb hat die Evangelische Jugend für Frühjahr und Herbst die Arbeitsfreizeiten (eine nette contradictio in adjecto) erfunden, da hat man Kost und Logis frei, muss aber den halben Tag arbeiten.

Wir sind in dem Sommer das erste Mal mit der Eva in Langeoog, da wollte ich eigentlich gar nicht hin. Ich war von unserer Eva inzwischen mehr gewöhnt: FrankreichParis, Bornholm, Jütland. Und nun dieser Sommer auf Langeoog. Hatte mich gar nicht erst angemeldet. Aber der Hollandurlaub mit meinen Eltern in Egmond aan Zee war irgendwie eine Katastrophe. Das lag nicht nur am schlechten Wetter. Eltern verstehen Neunzehnjährige einfach nicht. Obgleich mein Vater mir häufig den Autoschlüssel in die Hand drückte. Ich nix wie ab nach Amsterdam, habe ich meinen Eltern aber nie erzählt. Als Käptn Janssen zu Besuch war und noch in der gleichen Nacht zurückfahren wollte, sah ich meine Chance. Dann doch lieber Langeoog. Meine Eltern hatten nichts dagegen.

Hein Janssen hatte auch nichts dagegen, denn er hatte schon so viel Genever und Heineken (vulgo Grachtenpisse) getrunken, dass er gar nicht mehr hätte fahren dürfen. Das einzige Problem war sein Opel, dessen Getriebe kaputt war. Wenn man einmal einen halbwegs geeigneten Gang drin hatte, musste man damit fahren, schalten ging nicht, nicht einmal mit Zwischengas. Ich bin in der Nacht von Holland bis Grohn im dritten Gang gefahren und durfte keinen Augenblick anhalten. Die Straßen waren damals noch nicht so gut wie heute. Wir haben uns einen kleinen Grenzübergang ausgesucht, wo alle Grenzer schon schliefen und die Schranken oben waren. Und als wir frühmorgens in Bremen waren, waren die Ampeln glücklicherweise noch nicht wieder angeschaltet, wir brauchten nie zu bremsen. 

Dann habe ich den Opel vor dem Haus von Janssens gegen den Berg rollen lassen, mir mein Gepäck geschnappt und bin damit nach Hause marschiert. Ich habe geduscht, meine Wäsche gewechselt, mir frisches Zeug eingepackt und einen Kaffee getrunken. Und stehe dann eine Stunde später mit Jeans und Lederjacke bettelnd in der Kirchheide vor dem Gemeindehaus am Bus. Unser Diakon Klaus Nebelung hat als guter Hirte sein verlorenes Schäflein mitgenommen. Mit sehr gemischten Gefühlen sehe ich, dass Ingrid auch mitfährt, damit habe ich nicht gerechnet. Oder habe ich es gehofft, als ich aus Holland geflüchtet bin? Sie sitzt im Bus hinter mir. Jetzt, wo wir achtzehn und neunzehn sind, werden die Freizeiten der Eva auch zu richtigen Flirtfahrten. Sie will natürlich an den Kopfstützen vorbei mit mir flirten, aber ich bin davon überzeugt, dass es wieder so eine Laune ist, und lasse die Finger davon. Ich weiß schon, dass ich nur ein Lückenfüller sein würde. Sie verliebt sich immer in die total falschen Männer und kommt dann heulend zurück. Ich sage ihr, dass ich todmüde sei: fahr Du mal ‘nen schrottigen Opel mit kaputtem Getriebe in der Nacht quer durch Holland und Ostfriesland

Dies ist die Frau, die ich liebe, seit mich Frauen interessieren, dies ist die Frau, deretwegen ich Gedichte schreibe. Deretwegen ich beim Nachtspaziergang immer einen Umweg mache, der mich an ihrem Haus vorbeiführt. Wie der arme Hund, dessen Liebe die Winterreise ausmacht, schreib im Vorübergehen, ans Tor Dir ‚Gute Nacht’, damit Du mögest sehen, an Dich hab ich gedacht. Wenn ich Mahlers Die zwei blauen Augen von meinem Schatz (was er irgendwie bei Schubert geklaut hat) höre, könnte ich heulen. O Augen blau, warum habt ihr mich angeblickt? Nun hab ich ewig Leid und Grämen. Schubert hat das gewusst, zwei Liederzyklen über die Liebe, und alles steht da drin. Wenn in der Schönen Müllerin der Müllerbursch im Tränenregen in den Bach blickt, dann sieht er die Augen der Liebsten herauf aus dem seligen Bach. Er sieht ihr nicht in die Augen, es ist dieses Abbild aus der Tiefe. Und es ist die Tiefe, die ihn hinab ziehen will. Dieser Bach, der Geselle, mir nach ruft. Und wenn unserem romantischen Liebenden in der letzten Strophe die Augen übergehen, dann ändert Schubert die Melodie und die Tonart. Und die Angebetete sagt lapidar: ade, ich geh nach Haus

So endet das immer. Man kann sich mit Frauen in den Dünensand setzen und aufs Meer gucken, aber in rieselnden Bächen im Abbild ihrer Augen die ewige Liebe sehen zu wollen, da sollte man vorsichtig sein. Unser despektierlicher Biologielehrer Ernstaugust Michaelis (den wir aber alle respektieren) hat mal in einer Stunde gesagt, dass das alles auf in Formeln berechenbare Hormone, Beleuchtung und Make-Up hinausläuft. Das haben die Verfasser der europäischen Liebeslyrik von Petrarca bis Wilhelm Müller oder Jay aber nie geglaubt. Und wenn man achtzehn ist, will man das auch nicht wahrhaben. 

Ich bin lieb und nett zu Ingrid, aber ich halte sie auf Distanz, ich habe eine wunderbare Freundin, rothaarig mit Stupsnase und Sommersprossen. Warum soll ich hier wieder für 14 Tage eine amour fou mit einer femme fatale anfangen? Eher würde ich, um sie zu ärgern, mit ihrer Freundin Antje flirten. Die wird eines Tages einen Hochseesegler heiraten und der Traum aller Admiral’s Cupper sein. Als mir Jahrzehnte später ein Chirurg, der Admiral’s Cup Segler ist, nachts in der Uniklinik eine Unfallverletzung näht, kommen wir ins Schnacken. Als er hört, dass ich Antje seit Kindertagen kenne, legt er Nadel und Faden beiseite. Und fängt an, von ihrer Schönheit zu schwärmen. Ich will ihn jetzt nicht unterbrechen, um ihm zu sagen, dass Antje mir seit zehn Jahren eine Flasche Whisky schuldig ist. Seine Naht ist aber trotz der amourösen Begeisterung sehr gut geworden. Offensichtlich sind alle Jungärzte von Bremen bis Kiel mal auf einem Admiral’s Cup Boot gesegelt, von Lubinus in Kiel wollen wir jetzt nicht reden

Ingrid gerät durch Antje in diese Kreise, die 1973 zum ersten Mal für Deutschland den Cup gewonnen haben. Verliebt sich unsterblich in einen Arzt, der sie kurz danach abserviert. Kann da aber nicht die Finger von lassen, bei jeder Kieler Woche müssen wir im Yachthafen nach der Yacht Ausschau halten. Leid und Sorgen. Ich kenne auch Millionäre, die privat mit ihrer Yacht beim AC mitsegeln. Die haben ihre Millionen geerbt, für sie ist das Boot ein Spielzeug. Nur die Besatzung besteht aus Profis, der Eigner hat wenig Ahnung. Aber er hat eine Patek Philippe und Schuhe von John Lobb. Und Sprüche wie: Als Privatmann beim AC mitzusegeln, ist wie unter einer kalten Dusche zu stehen und Hundertmarkscheine zu zerreißen. Ist das schon Selbsterkenntnis oder nur Protzerei? Ich für mich weiß, dass das nicht meine Welt ist, auch wenn mich manche aus diesen Kreisen auf ihrer Yacht mitnehmen. Aber das wird immer unbequemer. Früher waren das noch Mahagoniyachten, jetzt sind diese Rennziegen nur noch aus Kunststoff. Und wenn man unter Deck geht, nix mehr mit Salon und Gemütlichkeit. Hängematten und in der Mitte des Bootes eine Nähmaschine zum Segelnähen.

Warum hast Du mich damals in den Dünen nicht aufgefangen, als ich sagte, fang mich auf? Du hättest mich haben können. Es ist Jahre später, Ingrid liegt neben mir im Bett und raucht eine Zigarette. Das weißt Du genauso gut wie ich, sage ich, wir kennen uns so gut, dass wir die Gedanken des anderen lesen können. Vielleicht doch nicht so gut, wir leben auch alle damals an einander vorbei. Vielleicht wäre wirklich etwas aus uns geworden? Jahre späer wird sie schreiben:

Ich erinnere mich noch genau an den Abend, als wir bei dem Orgelkonzert in der kleinen Kirche saßen, wir saßen eng nebeneinander und dennoch warst Du so weit weg. Ich erinnere mich auch an jenen Nachmittag in den Dünen. Es war schönes Wetter an dem Tag, die Sonne schien, und es war warm. Du solltest mich auffangen, als ich mit meinen Blumen im Arm von der Düne heruntersprang. Aber Du sagtest nicht mehr als: 'Paß auf. daß Du nicht fällst!' Ich hatte sicherlich in dem Augenblick mehr erwartet. Vielleicht hast Du es nicht gemerkt, oder vielleicht wolltest Du es ja auch nicht merken. Ich weiß es nicht. Und wozu erzähle ich Dir das alles jetzt? Nein, eine Liebesgeschichte ist es nicht geworden, es dauerte viel zu kurze Zeit, aber ich war sehr glücklich in jenen Tagen. Es ist wahr, Du kennst mich nicht ganz, und vielleicht wärst Du auch nur enttäuscht. Findest Du an mir ein paar Eigenschaften, die Ute nicht hatte? Ich kenne sie zu wenig, um das beurteilen zu können! Es ist ein schöner Abend, heute. Und wenn Du möchtest, werde ich Dir jetzt etwas aus 'Carmen' vorsingen: 'L'amour est un oiseau rebelle Que nul ne peut apprivoiser, Et c'est bien en vain qu'on l'appelle, S'il lui convient de refuser. Rien n'y fait, menace ou prière; L'un parle bien, l'autre se tait, Et c'est l'autre que je préfère; Il n'a rien dit mais il me plaît.'

Wir sind damals achtzehn, neunzehn, aber auch wenn unsere Generation mit achtzehn viel erwachsener ist als spätere Generationen, in der Liebe bleibt man ein Kind. Wir beziehen unsere Idee von der Liebe aus der Literatur, diese wunderbare Sublimierung unserer Gedanken, Träume und Hoffnungen. Eine zärtliche Gebärde, eine halbe Wendung des Kopfes, die Andeutung eines Gefühls, ein verhaltenes Wort. Oft nur ein Duft oder die flüchtige Erinnerung eines solchen genügen, und das schafft ja Marcel Proust beinahe auf jeder Seite, um das Wunder der Liebe aufleuchten zu lassen. Und wir sammeln atemlos diese Augenblicke des Glückes, so wie Opa seine Schmetterlinge und Hirschkäfer aufspießt.

Aber sonst ist der Sommer schön, wir baden in der Nordsee, fahren mit Pferdekutschen durchs Watt, machen einen Ausflug mit einem Krabbenfischer, und ich füttere neben den Möwen auch Ingrid mit selbstgepulten Krabben. Ich füttere sie auch abends vorm Kamin mit Rothmans Zigaretten, meine Lucky Strikes und Camels sind alle, ich habe nur noch die Rothmans. Natürlich aus Helgoland geschmuggelt. Eigentlich rauche ich nicht, aber jetzt wo man mit achtzehn rauchen darf, tun das vor allem die jungen Frauen. Klaus Nebelung und seine Frau Waltraud sehen das gar nicht gerne, die zählen die Ziggis mit. Die jungen Frauen mögen wahrscheinlich nicht wirklich gerne Zigaretten rauchen, für sie ist das auch eine coole Pose, ein Akt der Selbstbehauptung. So wie Carmen, wenn sie in der Zigarettenpause der Zigarettenfabrik ihre Zigarette raucht, bevor sie sie fortschleudert und L’amour est une oiseau rebelle singt.

Wir gehen jeden Tag bei Lale Andersen vorbei und gucken, ob sie zuhause ist. Aber die wird ‘nen Deubel tun und in der Hochsaison in ihrem Haus sein. Ich habe noch ein Dia, das mir unser Diakon geschenkt hat, wie ich auf einem Barren (der mit anderen Sportgeräten auf dem Strandsportplatz steht) einen Handstand mache. Ich trage einen gelben Kamelhaarpulli (englisch, aus Helgoland) und eine Levis 501. Die habe ich extra nach Langeoog mitgenommen, damit ich sie in der Nordsee tragen kann. Das Salzwasser holt die Farbe aus dem Stoff. Diejenigen, die heute ihre Jeans im used look kaufen, wissen gar nicht, wie schwer es in den Fifties und Sixties ist, diesen Look hinzubekommen. Ich passe heute in die Hose nicht mehr hinein, aber ich habe sie immer noch im Schrank. Die Lederjacke auch.

Jahrzehnte später wird Ingrid in einem Geburtstagsbrief schreiben: Ich wünsche Dir alles Liebe, Gute, alles Schöne. Mit anderen Worten: eine große Sternschnuppe für Deine Gedanken und Wünsche! Erinnerst Du Dich an die Sternschnuppen damals im August auf Langeoog? Wir standen am Meer, der Himmel war tiefblau. Ich habe nie vorher, nie danach so viele Sternschnuppen gesehen. Ich erinnere mich nicht mehr an die Sternschnuppen. Hatte sie sich damals etwas gewünscht? Vielleicht hätte ich sie doch in den Dünen auffangen und festhalten sollen. Catch a falling star and put it in your pocket Never let it fade away.

Die schon erwähnten Arbeitsfreizeiten im Frühjahr und im Herbst sind eigentlich viel toller als der Sommerurlaub. Den halben Tag arbeiten, ab spätnachmittags frei, ist die Devise. Keine Aufsicht, nur ein riesiger Arbeitsplan des Heimleiters, der abgehakt werden muss. Dies ist ein Hotelkomplex mit mehreren Häusern und einem Forum von Tagungsräumen. Hier läuft man tagelang mit Ölkännchen und Werkzeug herum, nur um die Türen und Türschlösser zu überprüfen. Und dann kommen die Fenster dran. Und meine malerischen Fähigkeiten werden hier auch zum Anpönen gebraucht. Danach kann man für den Rest des Tages über die Insel wandern, in den wenigen Gaststätten, die offen haben, einen Tee mit Kluntjes trinken. Die Mädels beziehen hunderte von Betten und kontrollieren alles Porzellan und alle Bestecke in der Großküche. Zu tun ist genug, man kann mal eine Pause machen und beim Bettenmachen zuschauen. Was dann noch etwas weiter gehen kann, wenn zwei achtzehn- oder zwanzigjährige Jugendliche verschiedenen Geschlechts in einem Raum umgeben von Bettwäsche sind. 

Davon abgesehen ist das hier wirklich Arbeit, wir treffen uns zu den Mahlzeiten, und wir beten zusammen. Die Freizeit gehört jedem allein. Bei schlechtem Wetter finden wir uns in der Penthousewohnung des Landesjugendpfarrers zusammen, das dürfen wir, das hat er uns erlaubt. Er hat uns auch erlaubt, seinen Plattenspieler zu benutzen. Er hat, und das ist sehr stilvoll, einen Braun Schneewittchensarg. Allerdings das größere Modell, nicht den, den ich habe. Er hat auch Jazzplatten, aber das ist leider alles Zickenjazz. Massenhaft Louis Armstrong. Und Spirituals. Aber besser als gar nichts, die Wohnung hat eine riesige Fensterfront, und man kann hier oben schön über die Dünen gucken. Und die Regenwolken vorbeirennen sehen. Und dabei Satchmos When Israel was in Egypt’s land oppressed so hard they could not stand und Down by the riverside hören. Und Bücher am Fenster liegend lesen. Wir liegen in dieser Zeit in dieser Wohnung immer auf dem Fußboden. Tut man damals auf Parties auch.

Auf der Abschlussparty liegen wir nicht auf dem Boden, da tanzen wir. Unter zunehmendem Rotweingenuss auch enger. Heute Abend bekommen auch wallflowers jemanden ab. Ich will mich da eigentlich heraushalten. Aber dann werde ich plötzlich diese kleine unbekannte Hübsche nicht mehr los. Kletten oder Pattex sind nix dagegen. Die gehört nicht zu unserer Nordbremer Gruppe, die kommt aus Bremen, ist auch später gekommen. Und die ist auch viel jünger als wir, vielleicht ist die noch gar keine achtzehn (ist sie nicht). Aber gut aussehen tut sie. Unbedingt. In diesem Licht sowieso. Aber auch die ganze letzte Woche im Tageslicht sah sie gut aus. Ein bisschen wie Rita Hayworth oder wie Ingrid Bergman, als die vierzehn war. Ich will da gar nicht so genau hingucken, ich habe meine rothaarige Freundin mit den grünen Augen zu Hause, und dann ist da noch Traute, die ich gerade kennengelernt habe. Ich kenne auch noch nicht das Photo von dieser Frau hier, wo sie in Südfrankreich neben einem Verkehrsschild steht. Und da drauf steht Danger

Aber ich habe jetzt gar keine Wahl, die Initiative liegt jetzt völlig bei dieser Frau namens Gudrun. Das sie so heißt, ist das einzige, was ich seit einer Woche von ihr weiß. Wir brauchen jetzt auch nicht mehr zu wissen. Der Rest ist etwas, was genau so funktioniert, wie die Erdanziehung. Hier braucht jetzt niemand la ci darem la mano zu singen. Wir verlassen den Tagungsraum mit der leisen Musik und der schummrigen Beleuchtung, uns gehört jetzt die ganze Nacht und die ganze Insel, sie wird unsere Bühne. Ich weiß nichts mehr über die Sterne oder den Mond. Die Nacht ist mild, es ist April. Wo lernen so junge Mädchen so hemmungslos zu küssen? Dies sind die Ausläufer der Fifties, da ist noch alles geregelt. Erstmal Monate lang Blicke tauschen, dann eine Verabredung zum Spaziergang (meistens eine Freundin von ihr dabei). Dann mal ein zufälliges Berühren der Handoberflächen, später Händchenhalten. Später ein keuscher Kuss auf die Wange. Hier sind alle Regeln hinweggefegt. Es ist wunderbar.

Am nächsten Morgen ist sie distanziert. Wenn unsere Gruppe abreist, fährt sie nicht mit, sie bleibt noch einige Tage auf Langeoog. Sie steht unten am Kai, nachdenklich, mit niedergeschlagenen Lidern. Ich halte mich an der frisch mit silberbronzener Farbe gestrichenen Reling der Fähre fest. Das Wasser des Hafens ist dreckig. Der Schlick des Wattenmeers taugt nicht als Opernbühne für Abschiede. Bahnhöfe wären ideal. Wunderbar inszenierte Abschiede in Paris auf dem Gare du Nord, wenn man in der Nacht den Zug nach Bremen nimmt. Langsam bugsiert das Schiff aus dem Hafen in die Fahrrinne des Wattenmeers. Warum muss ich Reling umklammern, warum kann ich nicht winken? Keine Kusshand werfen?

War das alles nur ein Traum? Aber dieser Abschied ist kein Abschied für immer, wir werden uns wiedersehen. Tagelang, jahrelang. Warum hast Du später gesagt, dass Du Dich an diese Nacht überhaupt nicht erinnern könntest? will ich Jahrzehnte später von ihr wissen. Ach, sagt sie, das sagt man so dahin, wenn man sich nicht sicher ist. Ich habe Dich die ganze Woche angestarrt, Du hast mich überhaupt nicht beachtet. Wir telephonieren, zwischen uns liegt der halbe Erdball, aber die Stimme am Telephon klingt wie nebenan. Zwischen uns liegen Ehen und mehrere Jahrzehnte und der Atlantik, wir mögen uns noch immer, und jetzt, wenn wir miteinander reden, sind wir genauso jung wie 1962.

Ein sonderbares Ding um die Liebe. Man liegt ein Jahr lang schlafwachend zu Bette, und an einem schönen Morgen wacht man auf, trinkt ein Glas Wasser, zieht seine Kleider an und fährt sich mit der Hand über die Stirn und besinnt sich und besinnt sich. – Mein Gott, wieviel Weiber hat man nöthig, um die Scala der Liebe auf und ab zu singen? Kaum daß Eine einen Ton ausfüllt. Warum ist der Dunst über unsrer Erde ein Prisma, das den weißen Gluthstrahl der Liebe in einen Regenbogen bricht? (Er trinkt.) In welcher Bouteille steckt denn der Wein, an dem ich mich heute betrinken soll? Bringe ich es nicht einmal mehr so weit? Ich sitze wie unter einer Luftpumpe. Die Luft so scharf und dünn, daß mich friert, als sollte ich in Nankinghosen Schlittschuh laufen. – Meine Herren, meine Herren, wißt ihr auch, was Caligula und Nero waren? Ich weiß es. Komm Leonce, halte mir einen Monolog, ich will zuhören. Mein Leben gähnt mich an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit todmüden Augen einander an. Ich stülpe mich jeden Tag vier und zwanzigmal herum, wie einen Handschuh. O ich kenne mich, ich weiß was ich in einer Viertelstunde, was ich in acht Tagen, was ich in einem Jahre denken und träumen werde. Gott, was habe ich denn verbrochen, daß du mich, wie einen Schulbuben, meine Lection so oft hersagen läßt? – Bravo Leonce! Bravo! (Er klatscht.) Es thut mir ganz wohl, wenn ich mir so rufe. He! Leonce! Leonce!

4 Kommentare:

  1. (Feierlich) - Sehr geehrter Jay Loomings -

    - aufrichtige Gratulation zu all' den Leserinnen und Lesern - - und vielen herzlichen Dank für silvae!
    Auf obigen Post komme ich andermal zurück. - Öh - erinnert mich hie und da an Wes Andersons ganz gelungenen Pfadfinder-Film Moonrise Kingdom.


    Da Sie sich ihre Leser nun auch nicht aussuchen können, werden Sie sich auch daran gewöhnt haben, dass die Kommentare derselben einigermaßen buntscheckig sind.

    Dies vorausgeschickt, kommt jetzt noch Jack Kerouac aus On the Road -


    “Sal, we gotta go and never stop going 'till we get there.'
    'Where we going, man?'
    'I don't know, but we gotta go.”

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  2. Langeoog in den fünfziger Jahren war eine ganz andere Welt, die Saison kurz, von Mai bis September, der Ort dann in einem langen Winterschlaf. Ich habe 1955 ein Jahr auf der Insel verbracht (gesundheitsbedingt) und die Veränderungen auf dieser Insel nicht mit Freude zur Kenntnis genommen. Nicht umsonst ist die Fahrrinne aus gebaggert, Tiee unabhängig können Schiffe zu einem Eiland fahren, das sich in gieriger Manier der Expansion verschrieben hat. Als Massendestination vermeide ich es heute eher und fahre nach Spiekeroog.

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  3. Johannes Rau fuhr auch immer nach Spiekeroog, es ist da wirklich schön.

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  4. Es war die "Präsidenteninsel", neben Rau auch Karl Carstens.

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