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Samstag, 20. Mai 2017

Soziologie


Das hier ist ein Buch, dem man 1960 nicht entgehen konnte: Faust in Bildern, ein Bildband der Hamburger Theaterphotographin Rosemarie Clausen über Gustav Gründgens und Will Quadflieg. Bekam man zum Geburtstag, zur Konfirmation, es war ein Buch, das man immer verschenken konnte. Es steht immer noch bei mir im Regal. Gustaf Gründgens kommt mit dem Namen auf das Buch, Quadflieg nicht. Da ist es völlig gleichgültig, dass der den titelgebenden Faust spielt. Gründgens ist berühmter als er. Und er hat den Teufel schon über dreihundert Mal gespielt. Dagegen kommt Quadflieg nicht an, auch wenn er Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie studiert hat. Gustaf Gründgens wird schon in den Posts Spielregeln Herrenausstatter und  Lederjacken erwähnt, Quadflieg in dem Post ➱Lesum, weil er dort gewohnt hat. Der Ort ist bei uns bei uns gleich um die Ecke, mit dem Buch Sommer in Lesmona wachsen Bremer auf. Rosemarie Clausen war eine berühmte Theaterphotographin, aber ihr Sohn wurde noch berühmter als sie.

Der Kieler Soziologe Lars Clausen, der heute vor sieben Jahren starb, war ein großer Mann. Der Satz ist doppeldeutig, das soll er auch sein. Er war von großer, massiver Statur, und er war ein bedeutender Gelehrter. Und ein Mensch, der bei aller Gelehrsamkeit herzerfrischend normal war. Und viel Humor hatte. Wenn man ihn in einer Buchhandlung traf, war man sofort im Gespräch mit ihm, das ging nicht anders. Auch wenn die Verkäuferin an der Kasse etwas verzweifelt auf ihr Geld wartete. Ein gutes Gespräch geht vor.

Lars Clausen war dreißig Jahre an der Kieler Universität, was erstaunlich war. Denn als er kam, war die Uni fest in der Hand der CDU, und mit der Partei hatte Clausen nicht so viel im Sinn. Er ließ sich nicht vertreiben wie Karl-Otto Apel, der ➱hier einen wirklich häufig gelesenen Post hat. An dieser Stelle muss ich einmal sagen, dass es mich immer wieder freut, dass meine kleinen Ausflüge in die Philosophie (also Posts wie ➱Philosophenwitze, ➱Gabriel Marcel, ➱Heidegger, ➱Roland Barthes, ➱Albert Camus, ➱Hegel, ➱Montaigne, ➱Kant, ➱Erwin Chargaff und ➱Karl Marx) von den Lesern dermaßen goutiert werden. Ich will heute eigentlich nicht über das Werk des Soziologen Lars Clausen schreiben. Kann dazu aber einiges empfehlen: ➱Meine Einführung in die Soziologie: 15 Vorlesungen in freier Rede, als Taschenbuch bei Stroemfeld erschienen, da geht nix drüber. Wenn Sie kostenfrei den Stil von Clausen kennenlernen möchten, dann klicken Sie diesen ➱Aufsatz an. Und dann hätte ich noch etwas sehr Interessantes: Spektrum der Literatur aus der Reihe Die große Bertelsmann Lexikothek. Bekommt man antiquarisch sehr preiswert.

Man mag über Bertelsmann ein wenig die Nase rümpfen, gilt als nicht so fein. Aber ich lasse da nichts drauf kommen, wenn meine Mutter in den fünfziger Jahren nicht Mitglied des Bertelsmann Leseclubs gewesen wäre, hätte ich einen Schriftsteller wie ➱Otto Flake nicht kennengelernt. Der Band Spektrum der Literatur ist von Clausen und seiner Frau Bettina herausgegeben, die war (nach einer kurzen Karriere als Schauspielerin) Germanistikprofessorin. Hätte Lars Clausen die nicht an seiner Seite gehabt, hätte er sich vielleicht nicht an diesen Band herangetraut. Oder doch: er traute sich an vieles heran, und da lassen wir es einmal unerwähnt, dass er für ➱Arno Schmidt den Goethepreis entgegengenommen und für Reemtsma das Lösegeld überbracht hatte.

Mit Arno Schmidt verband ihn eine lange Brieffreundschaft, er hat auch einmal eine schöne ➱Rede auf Arno Schmidt gehalten. Zehn Jahre, nachdem er für Arno Schmidt den Preis entgegen genommen hatte, hat er sich an diesen Moment erinnert: Es war schön, ein Mal mit langem Atem loben dürfen. Ins Gesicht konnte man es ihm nicht sagen. Also auch damals vor 10 Jahren nicht. Wie denn auch.Er im Schaukasten, auf dem Eckplatz 1. Reihe, Paulskirche, am 28. August, gut ausgeleuchtet? Er ließ danken und sagen, als hätte er keinen Preis bekommen. »Ich möchte mich nicht wiederholen«. Wem immer hätte es geholfen, den Mann zu sehen. Hatte doch ein jeder seinen Grob-Schmidt dabei; und verlieh wer weiß Wem den Goethe-Preis. So »schmückt´ er sich die schöne Gartenzinne,/ von wannen er der Sterne Wort vernahm,/ das dem gleich ew´gen, gleich lebend´gen Sinne / geheimnisvoll und klar entgegen kam. / Dort, sich und uns zu köstlichem Gewinne, / verwechselt´ er die Zeiten wundersam, / begegnet´ so, im Würdigsten beschäftigt, / der Dämmerung, der Nacht, die uns entkräftigt.«

Jan Philipp Reemtsma hat Clausen die ➱Tönnies Medaille verliehen. Ich bin kein Fachmann für Soziologie. Ich verbinde mit dem Fach das schöne und sorgfältig gehätschelte Vorurteil, dass ein Examen in Soziologie einem den Taxenschein in Berlin garantiert, ich weiß, dass das fies ist. Aber man kann sich mit Taxifahrern, die Soziologie studiert haben, immer hervorragend unterhalten. Natürlich habe ich Bücher von Soziologen gelesen, vornehmlich von solchen Soziologen, die auch über Mode geschrieben haben. Wie zum Beispiel René König und ➱Georg Simmel. Gut, Simmel hätte ich auch gelesen, wenn er nix über Mode geschrieben hätte. Ich habe Thorstein Veblen gelesen, ➱Max Weber und ➱Richard Sennett. Habermas und Dahrendorf habe ich nie gelesen, ich habe da auch kein schlechtes Gewissen. Auf dem Photo überreichte der Präsident der Ferdinand Tönnies Gesellschaft Lars Clausen den ersten Band der Tönnies Gesamtausgabe an die Ministerpräsidentin ➱Heide Simonis.

Mein kleiner Lars Clausen Post ist sofort zu Ende, ich wollte heute mal einen kurzen Post schreiben. Wieder nicht so recht gelungen. Ich muss nur noch eben die Geschichte von der Tagung erzählen, auf der ich gewesen bin. Hatte das Thema ➱Utopie, war etwas chaotisch organisiert, massenhaft Workshops. Ich fand mich am Freitag plötzlich neben ➱Harald Eschenburg, dem Antiquar und Schriftsteller, in einem Literaturworkshop über Stefan Heyms Roman Schwarzenberg. Das Schönste an der Tagung war der Abschluss zum Thema Science Fiction, mit einer Vielzahl von Science Fiction Autoren. Manche von denen konnten offensichtlich gut von dem von mir missachteten Genre leben, da standen mehrere neue BMWs vor der Pumpe. Die Pumpe ist ein Kommunikationzentrum so wie die Räucherei in Gaarden. Da hat die SPD letztens ihren Untergang gefeiert. Ich habe ja in dem Post ➱Straßensperrung meine Witze über Albig und seine Nudeln gemacht, aber ob Sie es glauben oder nicht: der Albig hat Nudeln mitgebracht. Die Genossen waren nicht amused.

Während der Rest der Tagung im Audimax der Uni stattfand, traf man sich am Sonntagvormittag also in der Pumpe in der ➱Haßstraße. Vielleicht hatte man sich gedacht, dass sich die SciFi Autoren da wohler fühlen würden als in der Uni. Oder vielleicht fand das auch hier statt, um den SciFi Autoren zu zeigen, dass sie nicht in die heiligen Hallen der Uni gehörten, ich weiß es nicht. Es ging an dem Vormittag um die Frage, wie Technik und Technologie die Wissenschaft und den Wissenschaftler verändern. Ein Autor schwärmte dem Auditorium etwas von seinem word processor vor. Dass es solche Dinger gab, hatte ich im Observer gelesen, Len Deighton hatte einen von IBM, der 25.000 Pfund gekostet hatte.

Irgendwann reichte Lars Clausen die ganze wissenschaftliche Zukunftsmusik, er erhob sich zu voller Körperfülle (wie er die ganze Zeit auf dem kleinen Plastikstuhl hatte sitzen können, ist mir schleierhaft) und sagte etwas Prinzipielles. Wissenschaftler brauchen etwas zum Schreiben, sagte er. Und zauberte sofort einen Bleistiftstummel aus der Hosentasche und hielt den hoch. Und er fuhr fort, dass der Wissenschaftler Sitzfleisch brauche, um tagelang in Bibliotheken zu sitzen. Ich sollte vielleicht anmerken, dass das ➱copy & paste Verfahren damals noch unbekannt war. Studenten haben heute kein Sitzfleisch mehr, die Bibliotheken sind leer. Als ich studierte, war es manchmal schwer, einen Platz im Lesesaal zu bekommen, so ändern sich die Zeiten.

Aller guten Dinge sind drei, Lars Clausen (hier förmlich im Anzug, in der Pumpe trug er einen riesigen grauen Pullover) hatte natürlich noch etwas zu Schluss. Das Wichtigste kommt immer zum Schluss. Und das war: Intelligenz zwischen den Ohren. Dabei zeigte Clausen mit beiden Zeigefingern (den Bleistift hatte er inzwischen verschwinden lassen) auf seine Ohren. Bildungsratschläge im Dreierpack sind die besten. Seit Sir William Curtis 1795 die Three Rs (reading, writing, arithmetic) in die Diskussion gebracht hat.

Gute Bildung hat für uns auch weiterhin Priorität, hat dieser Herr gesagt. Die SPD setzt auf so schöne Gedanken wie Nur wenn wir digitale Bildung in unseren Schulen integrieren, ermöglichen wir unseren Kindern eine selbstbestimmte und aktive Teilhabe an der Gesellschaft. Ja. Es wäre auch schön, wenn sie lesen, schreiben und rechnen könnten. Und Intelligenz und Bildung zwischen die Ohren kriegten.

1 Kommentar:

  1. Der Post ist natürlich insgesamt interessant, aber der letzte Absatz hätte als kurzer Extrapost ausgereicht. ;)
    Viele Grüße auch NZ

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