Dienstag, 5. Mai 2015

Karl Marx


Karl Marx hat heute Geburtstag. Als ich studierte, galt Karl Marx als der wichtigste Philosoph der Welt. Wohl weniger im Philosophischen Seminar der Universität, aber in allen Studentenkneipen. Wo damals viele Philosophen zu wohnen schienen, die einem beim Bier die Welt mit Marx erklärten. Niemand kümmerte sich damals um Kierkegaard, der am selben Tag wie Marx Geburtstag hat. Als mir meine Dozentin Hegel als ein Thema für die Prüfung in Philosophie vorschlug, sagte ich, ich würde lieber Søren Aabye Kierkegaard nehmen. Sie guckte mich an, als wäre ich von einem anderen Stern.

Offensichtlich gehörte Kierkegaard für sie nicht in den Bereich der Philosophie. Sie hätte niemals soviel Poesie besessen, um über ein Zitat wie dies zu begreifen: Seit meiner frühesten Kindheit hat ein Pfeil in meinem Herzen gesessen. Solange er dort sitzt, bin ich ironisch – wird er herausgezogen, sterbe ich. Das ist die condition humaine, nicht dieser Quatsch mit dem Weltgeist von dem Mann mit der Bierwirtsphysiognomie. Das mit der Bierwirtsphysiognomie hat Schopenhauer über Hegel gesagt, und wenn Sie Hegel nicht mögen, dann sollten Sie diesen ➱Post lesen. Ich hätte meiner Prüferin auch sagen können: Um mich steht es ungefähr so, wie von dem Schwein der Lüneburger Heide erzählt wird. Mein Denken ist eine Leidenschaft, welcher ich folgen muß. Ich verstehe mich trefflich darauf, Trüffeln aufzuwühlen; selbst habe ich an ihnen keine Freude. Ich nehme die schwierigsten Fragen auf meine Nase; aber mehr kann ich mit ihnen nicht anfangen, als sie über meinen Kopf hinweg hinter mich werfen. Wir haben uns dann auf ganz andere Themen geeinigt. Ich habe die Prüfung übrigens mit sehr gut bestanden.

Die Sache mit dem Lüneburger Schwein habe ich schon einmal in dem Post ➱Schweine zitiert, ein Post, den man eigentlich unbedingt gelesen haben muss. Und ich sollte wohl sagen, dass auch Søren Aabye ➱hier schon einen langen Post hat. Manche Leser waren nach der Lektüre der Meinung, dass ich Kierkegaard nicht mag. Missverstehen Sie mich bitte nicht, nur weil ich mit ein wenig Ironie über ihn schreibe (da kommt der Pfeil in unserem Herzen wieder zum Vorschein), bedeutet das nicht, dass ich ihn nicht liebe. Tue ich.

Ich halte auch viel von Schopenhauer. Den Kierkegaard erst spät in seinem Leben entdeckte: In gewisser Hinsicht ist es mir fast unbehaglich, daß ich dazu gekommen bin, Schopenhauer zu lesen. Ich habe eine so unbeschreiblich skrupulöse Angst, Ausdrücke und dergleichen von einem andern zu benutzen, ohne das kenntlich zu machen. Aber seine Ausdrücke sind zuweilen mit meinen so verwandt, daß ich schließlich vielleicht aus übertriebener Ängstlichkeit ihm zuschreibe, was doch Meines ist.

Karl Marx kommt in diesem Blog eigentlich nicht vor, er wird zwar immer wieder erwähnt, aber das ist es dann auch. Ich weiß eine ganze Menge über Karl Marx, weil ich mehrere Biographien über ihn gelesen habe. Die von Fritz J. Raddatz kann ich nicht empfehlen. Wenn Sie die Posts ➱Goethe, ➱Albert Vigoleis Thelen und ➱Wilhelm von Bode gelesen haben, dann wissen Sie, dass ich Fritz J. Raddatz überhaupt nicht empfehlen kann. Wenn ich eine Karl Marx Biographie empfehlen sollte, dann würde ich Isaiah Berlins Buch Karl Marx: His Life and Environment von 1939 nehmen. Und Isaiah Berlin ist auch jemand, den ich jederzeit zur Lektüre empfehlen würde. Er hat schon einen Post, der etwas irreführend ➱White Christmas heißt und kommt in den Posts ➱Tolstoi und ➱Kutusow vor.

Wenn Sie mir bis hier gefolgt sind, dann werden Sie es wahrscheinlich mit Fassung tragen, wenn ich jetzt gestehe, dass ich Karl Marx nie gelesen habe. Man kommt ohne ihn durchs Leben. Ohne ➱Montaigne, Kierkegaard oder ➱Proust durchs Leben zu kommen, das wäre schwierig. Ich hatte mal Nachbarn, die all diese blauen Bände hatten, aber ich habe mit denen nie über Karl Marx geredet. Die Philosophie von Mao geht in ein kleines rotes Buch, ein deutscher Philosoph wie Karl Marx braucht mehr Raum. Ich habe allerdings Friedrich Engels gelesen, der nette Dinge über meinen ➱Heimatort gesagt hat. Auf jeden Fall habe ich Die Lage der arbeitenden Klasse in England gelesen.

Friedrich Engels weiß, worüber er schreibt. Er hat die Arbeitswelt kennengelernt. Bei Karl Marx ist das alles Theorie. Friedrich Engels ist der Sohn eines Baumwollfabrikanten aus Barmen, das heute zu Wuppertal gehört. Genau so wie Elberfeld (lesen Sie ➱hier mehr zu Elberfeld als Sitz der chemischen Industrie und Textilindustrie). Wenn Engels 1842 nach Manchester reist, dann macht er das nicht, um die Lage arbeitenden Klasse zu studieren. Er will (und soll) seine kaufmännische Ausbildung, die er in Bremen begonnen hatte, in der Baumwollspinnerei vollenden, die seinem Vater gehört. Wie der Kapitalismus funktioniert, das weiß er aus Wuppertal, in England ist das alles nur eine Spur brutaler.

Der Manchesterkapitalismus ist ja bis heute im Gegensatz zum ➱Manchestercord kein positiver Begriff. Natürlich gibt es unter den Arbeitgebern Ausnahmen wie Sir Titus Salt in Bradford (lesen Sie ➱hier mehr dazu), aber die sind leider nicht die Regel. Wuppertal ist, wenn man so will, Deutschlands Manchester. Und dort hat der Soziologe Max Weber noch einen anderen Faktor des Kapitalismus ausfindig gemacht, die Religion: Nicht alle protestantischen Denominationen scheinen aber gleich stark in dieser Richtung zu wirken. Der Calvinismus tat dies anscheinend auch in Deutschland; die “reformierte” Konfession scheint, im Wuppertal ebenso wie anderwärts, im Vergleich mit anderen Bekenntnissen der Entwicklung kapitalistischen Geistes förderlich gewesen zu sein. Förderlicher als z. B. das Luthertum, wie der Vergleich im großen ebenso wie im einzelnen, insbesondere im Wuppertal, zu lehren scheint. Er führt das in seinem ➱Aufsatz Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus aus, inzwischen ein Klassiker der Wissenschaft. Die Verbindung von Seelenheil und Geschäftsbilanz sollte nicht unterschätzt werden.

Auch wenn ich Marx nie gelesen habe, kenne ich doch Sätze wie Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus und Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen gehört, aber ich habe niemals die Muße aufbringen können, das in der Gänze zu lesen. Vielleicht, wenn er es auf Englisch geschrieben hätte. Durch die Übersetzung ins Englische versteht man ja vieles leichter, ➱Sigmund Freud kann man sehr gut auf Englisch lesen. Wittgenstein auch. Fand auf jeden Fall ➱Lord Russell, als er dem empörten ➱Wittgenstein (der sich über C.K. Ogdens Übersetzung seines Traktats beklagte) versicherte, dass er durch die englische Übersetzung zum ersten Mal Wittgensteins philosophisches Denken verstanden hätte. Dies Bild hier mit dem schönen Text «Je m'appelle Karl Marx. On m'a surnommé "le Diable", car j'ai voulu mettre à mort le capitalisme. Il faut libérer l'humanité de la misère et des inégalités. Votre crise ressemble à celles que j'ai vécues. Alors une seule solution : la révolution!» ist der Anfang des Buches Marx von Anne Simon und Corinne Maier (für Kinder ab 12 Jahren empfohlen).

Als Erwin Panofsky im amerikanischen Exil war, machte er die Erfahrung, dass das Englische einfacher und klarer als das Deutsche ist: the German language unfortunately permits a fairly trivial thought to declaim from behind a woollen curtain of apparent profundity and, conversely, a multitude of meanings to lurk behind one word. Und fügt dem noch hinzu: In short, when speaking or writing English, even an art historian must more or less know what he means and mean what he says, and this compulsion was exceedingly wholesome for all of us.

Kierkegaard ist fünf Jahre älter als Marx. Als Marx 1843 sein Buch Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie veröffentlichte, da hatte Søren Aabye Kierkegaard schon seine Dissertation (Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates) sowie Entweder – Oder I/II, Tagebuch des Verführers, Zwei erbauliche Reden, Die Wiederholung, Furcht und Zittern, Drei erbauliche Reden und Vier erbauliche Reden fertig. Als Karl Marx sein Hauptwerk Das Kapital schreibt, da ist Kierkegaard längst tot. Kierkegaard konnte genug Deutsch, um Hegel zu lesen und in Berlin Schellings Vorlesungen zu folgen (die Friedrich Engels damals auch hörte):

Schelling hat begonnen, aber unter solchem Lärmen und Schreien, Pfeifen und an-die-Scheiben-Klopfen derer, die nicht hereinkamen, von einem so zusammengepferchten Auditorium, dass man fast versucht ist, es aufzugeben, ihn zu hören, wenn das so weitergehen soll (...) Schelling selbst sieht wie ein ganz unbedeutender Mann aus, er gleicht einem Steuereinnehmer, indessen gelobte er, der Wissenschaft und uns mit ihr zu jener Blüte zu verhelfen, die sie längst verdient habe, der höchsten, die sie erreichen würde. Für einen alten Mann kann das ganz erfreulich sein; für einen jungen Menschen ist es immer bedenklich, in so jungen Jahren Zeitgenosse dieser seltenen Blüte zu werden. 

Marx konnte kein Dänisch, obgleich Paul Lafargue behauptete: Marx las alle europäischen Sprachen und schrieb drei, Deutsch, Französisch und Englisch, zur Bewunderung der dieser Sprachen Kundigen; er wiederholte gern den Ausspruch: „Eine fremde Sprache ist eine Waffe im Kampf des Lebens.“ Verwechselt er den Dr Marx mit Friedrich Engels? Der konnte sehr viele Sprachen, wohingegen selbst das Englisch von Marx nach all den Jahren in London nicht besonders gut war. Marx hat Kierkegaard nie gelesen. Kierkegaard seinerseits hat Marx nie gelesen. Das haben sie gemeinsam. Sie haben noch etwas gemein, sie rauchen beide gerne Zigarren. Das ,Kapital' wird mir nicht einmal so viel einbringen, als mich die Zigarren gekostet, die ich beim Schreiben geraucht, soll Karl Marx gesagt haben. Karl Marx raucht natürlich keine Zigarren aus dem VEB Karl Marx in Karl-Marx-Stadt. Er raucht aber auch nicht diese wirklich guten, teuren Zigarren, die sich Kierkegaard leisten kann:

Zigarren sind in England ziemlich teuer; doch die, welche Marx rauchte, kosteten nach einer Mitteilung eines seiner intimen Freunde an den Autor dieses Buches oft weniger als einen Penny, schreibt John Spargo in seiner Marx Biographie. Dieser Herr hier ist nicht Karl Marx in jungen Jahren, er zog übrigens auch Groucho Marx dem Karl Marx vor. Ein Emigrant wie Karl Marx, hat er lange in London gelebt, aber die Stumpen, die Marx rauchte, die würde er nicht angezündet haben. Denn von Zigarren versteht der Kubaner Guillermo Cabrera Infante etwas, hat er doch mit Holy Smoke die ultimative Kulturgeschichte des blauen Dunstes geschrieben. Das - und alles über Kierkegaards Zigarren - können Sie in dem Post ➱Blauer Dunst lesen, der an Kierkegaards zweihundertstem Geburtstag hier stand.

Ich würde einen Post zum Geburtstag eines Philosophen nicht mit seinem Namen betiteln, wenn da nichts anderes drin stände, als dass ich Marx nie gelesen habe und Kierkegaard jederzeit vorziehe. Nein, das würde ich nicht nun doch nicht tun. Ich habe da nämlich heute noch ein Schmankerl: You can spread the word: Marx is back! For a short while. But understand one thing — I'm not a Marxist. Ist nicht von mir, ist von Howard Zinn. Steht in dem wunderbaren Ein Personen Stück Marx in Soho. Es ist übrigens nicht der Londoner Stadtteil, in dem Karl Marx mit einem Bierglas plötzlich auftaucht. Durch ein bureaucratic mix-up im Himmel ist Marx nun in SoHo in Manhattan gelandet. Und was er uns zu erzählen hat - bis zu den letzten Sätzen Did my coming here irritate you? Let's say that it was the second coming. Christ could not come so Marx came - das können Sie ➱hier sehen.

Und im Volltext habe ich das Stück ➱hier auch. Die deutsche Übersetzung ist bei der Europäischen Verlagsanstalt erschienen, da gibt es zu dem Text noch ein langes Nachwort von Howard Zinn.

1 Kommentar:

  1. So habe ich das noch nie gesehen. Allerdings habe ich eine ganze Menge von Marx gelesen. Gezwungenermaßen könnte man sagen. Kierkegaard habe ich nicht gelesen. Den kenne ich nur, gestehe ich gerade aus, aus Jostein Gaarders SOFIES WELT. Eines der besten Philosophieerklärungsbücher für Jugendliche und auch jugendliche Philosophen. Geschichte der Philosophie hat mich schon immer mehr interessiert, als die Philosophie selbst.
    Von Howard Zinn habe ich EINE GESCHICHTE DES AMERIKANISCHEN VOLKES hier stehen. Da lese ich gelegentlich drin. Auf Deutsch.
    Und jetzt werde ich mich mal in Ihre Hegel-Abhandlung vertiefen. Oder vielleicht morgen...
    Seltene Grüße - aber wie immer sehr interessierte aus MeckPom.

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