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Sonntag, 16. Juni 2019
le grand amour
Ich schenkte ihm einen kleinen Single Malt ein. Ich wusste, er hätte lieber ein Glas Rotwein gehabt, aber Rotwein ist bei mir selten im Haus. Er bewunderte das hübsche kleine Schnapsglas, wusste aber nicht mehr, dass er mir vor Jahrzehnten ein halbes Dutzend von diesen Gläsern geschenkt hatte. Sein Leben war ein Leben in der Öffentlichkeit gewesen, in Talkshows, vor Kameras, im Flieger. Da vergisst man schon einmal das Geschenk von einem Sechserpack stilvoller skandinavischer Stamperl. Er war jetzt im Ruhestand wie ich, aber das Unternehmen, für das er tätig gewesen war, hatte ihm noch einen schönen Job als Aufsichtsrat, Frühstücksdirektor oder so etwas Ähnlichem zugeschoben. Mit Dienstwagen. Wir hatten über Gott und die Welt geredet, als er plötzlich sagte: Ich muss Dir etwas sagen.
Wenn Sätze so anfangen, dann liegt eine gewisse Gefahr in der Luft, ich zündete mir eine Pfeife an, damit ist man erst einmal beschäftigt. Er hatte früher auch Pfeife geraucht, war in jedem Fernsehinterview mit einer Pfeife zu sehen gewesen. Aber nach dem Herzinfarkt rauchte er nicht mehr. Ich hatte ihn damals im Krankenhaus besucht. Wir hatten gerade begonnen, uns zu unterhalten, als das Telephon klingelte. Ich nahm den Hörer ab, weil er nicht ans Telephon herankam. Es war der Ministerpräsident. Ich reichte ihm das Telephon und ging erst einmal aus dem Zimmer. Politik ist nicht meine Sache. Er hatte sich von dem Infarkt schnell erholt. Die Ärzte rieten ihm zu Sport, aber er hatte sein ganzes Leben keinen Sport getrieben. Er hielt es mit dem no sports von Churchill.
Ich stopfte den bröseligen gelben Virginia Tabak in die Pfeife zurück und wartete auf das, was nach dem Ich muss Dir etwas sagen kommen würde. Der nächste Satz war: Kannst Du Dich noch an Rieke erinnern? Rieke? Das war mal seine Freundin gewesen, das wusste ich noch, aber das war mehr als ein halbes Jahrhundert her. Mein Gedächtnis produzierte ein verwaschenes Bild, ich hatte die beiden mal auf der Straße photographiert. Sie hielt ein Fahrrad an der Hand. Schlank, sehr norddeutsch, krisselige blonde Haare, mehr gab die Erinnerung nicht her. Und dann sagte er: Ich habe mein ganzes Leben lang nur Rieke geliebt. Mehr kam nicht. Die Romantisierung von amourösen Abenteuern war nicht seine Sache. Wenn ich so etwas gesagt hätte, dann hätte ich eine Geschichte drangehängt: vom nächtlichen Telephonieren, vom Knutschen im Windfang, vom Nichtloslassenkönnen. Aber jetzt gab es nur dieses Ich habe mein ganzes Leben lang nur Rieke geliebt. Keine Erwähnung seiner Ehefrauen und der Frauen, mit denen er lange zusammengelebt hatte. Nur Rieke, le grand amour. Ich schüttete noch etwas Whisky in die Gläser.
Er ist wenige Monate nach dieser Unterhaltung plötzlich gestorben. Ich kondolierte seiner Ehefrau, der einzigen Frau in seinem Leben, die ich nicht ausstehen konnte, das hatte er gewusst. Aber dann rief ich Rieke an. Ich musste dieses Ich habe mein ganzes Leben lang nur Rieke geliebt loswerden. Wusste sie davon, von der heimlichen Liebe, von der niemand was weiß? Sie lebte in Süddeutschland und war seit Jahrzehnten glücklich verheiratet. Die Liebeserklärung war für sie keine Überraschung, sie wusste es, ihr ganzes Leben lang. Wie lebt man damit? Ich sagte ihr, dass wir schottischen Whisky aus kleinen Gläsern getrunken hätten. Die Gläser sind von Harjes, sagte sie, die habe ich damals ausgesucht. Die Welt ist klein.
Es sind nur noch fünf Gläser, eins ist einem Gast einmal auf den Terrazzoboden der Küche gefallen. Nichts hält ewig. Außer der Liebe. Le grand amour ça n'existait pas, singt Albin de la Simone. Was verstehen die Franzosen schon davon?
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