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Freitag, 14. Juni 2019

Jeremiaden


O Jugend unsrer Zeit, du bist dahin!
Die Kraft zahllosen Volks, sie ist vergeudet,
Nicht einer von der Meng' sich unterscheidet,
Und nichtsbedeutend all' vorüberziehn.

Dichtet hier Frau Kramp-Karrenbauer, weil sie böse ist, dass es diesen Blogger Rezo gibt, dessen YouTube Video ein Schlag ins Gesicht für Menschen, die sich für dieses Land engagieren ist? Nein, der Text ist älter, beinahe zweihundert Jahre alt. Und er ist auch nicht der erste Text über die nichtsnutzige Jugend. So können wir ca. 3.000 vor Christi auf einer Tontafel der Sumerer lesen: Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte. Oder ein Keilschrifttext der Chaldäer tausend Jahre später: Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe. Wenn Ihnen das noch nicht genug an Beispielen ist, dann klicken Sie doch einmal dies hier an.

Das Internet ist für uns alle Neuland, hat Angela Merkel im Jahre 2013 gesagt. Und sie fuhr fort: und es ermöglicht auch Feinden und Gegnern unserer demokratischen Grundordnung natürlich, mit völlig neuen Möglichkeiten und völlig neuen Herangehensweisen unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen. Wenn man nicht ganz so global denkt, kann man natürlich auch sagen, dass ein Blogger bei YouTube mit einem Video die CDU an den Rand des Abgrunds bringen kann. Wir waren Herr über die Bilder, wir haben die Nachrichten selbst produziert. In diese Richtung wird es weitergehen, das ist moderne politische Kommunikation. Das ist jetzt nicht Jonathan Pryce in dem James Bond Film Tomorrow Never Dies, das ist nicht aus George Orwells 1984, das ist Frau Kramp-Karrenbauer. Politiker sagen in diesen Tagen seltsame Sachen. Müssen wir an die Worte von Josef Goebbels erinnern: Und den Rundfunk werden wir in den Dienst unserer Idee stellen. Und keine andere Idee soll hier zu Worte kommen?

Wir haben mit wehleidigen Klagen über die Jugend begonnen und landen in diesen Tagen schnell bei einem Blogger mit blau gefärbten Haaren, der sich Rezo nennt. Über dessen Wutrede gegen die CDU sagte Frau Kramp-Karrenbauer: Ich habe mich gefragt, warum wir nicht eigentlich auch noch verantwortlich sind für die sieben Plagen, die es damals in Ägypten gab. War das witzig. Fragezeichen. Aber der Rezo darf das sagen. Der Böhmermann auch. Und auch Frau Kramp-Karrenbauer darf in das nächste Fettnäpfchen treten. Denn: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Dieses O Jugend unsrer Zeit, du bist dahin! ist die erste Zeile eines Gedichts, das Franz Schubert am 21. September 1824 an seinen Freund Franz von Schober sendet. Er ist nicht recht glücklich, denn er schreibt in seinem Brief: Nun sitz ich allein hier im tiefen Ungarlande, in das ich mich leider zum zweiten Male locken liess, ohne auch nur einen Menschen zu haben, mit dem ich ein gescheidtes Wort reden könnte. Ich habe seit der Zeit, dass du weg bist, beinahe keine Lieder componirt, aber mich in einigen Instrumental-Sachen versucht. Was mit meinen Opern geschehen wird, weiss der Himmel! Ungeachtet ich nun seit fünf Monaten gesund bin, so ist meine Heiterkeit doch oft getrübt durch Deine und Kuppels Abwesenheit, und verlebe manchmal sehr elende Tage; in einer dieser trüben Stunden, wo ich besonders das Thatenlose unbedeutende Leben, welches unsere Zeit bezeichnet, sehr schmerzlich fühlte, entwischte mir folgendes Gedicht, welches ich nur darum mitteile, weil ich weiß, daß Du selbst meine Schwächen mit Liebe und Schonung rügst.

Das Gedicht, das Julian Prégardien auf seiner Schubert CD rezitiert, heißt Klage an das Volk, es war eins der letzten Gedichte von Schubert:

O Jugend unsrer Zeit, du bist dahin!
Die Kraft zahllosen Volks, sie ist vergeudet,
Nicht einer von der Meng' sich unterscheidet,
Und nichtsbedeutend all' vorüberziehn.

Zu großer Schmerz, der mächtig mich verzehrt
Und nur als letztes jener Kraft mir bleibet,
Denn tatlos mich auch diese Zeit zerstäubet,
Die jedem Großes zu vollbringen wehrt.

Im siechen Alter schleicht das Volk einher,
Die Taten seiner Jugend wähnt es Träume,
Ja spottet töricht jener goldnen Reime,
Nichtsachtend ihren kräft'gen Inhalt mehr.

Nur dir, o heil'ge Kunst, ist's noch gegönnt,
Im Bild die Zeit der Kraft und Tat zu schildern
Um weniges den großen Schmerz zu mildern,
Der nimmer mit dem Schicksal sie versöhnt.

Das Gedicht ist Schubert nicht nur in einer melancholischen Laune entwischt. Schubert ist unglücklich im restaurativen Österreich des Fürsten Metternich. Er hatte mitansehen müssen, wie sein Freund Johann Senn (dessen Schwanengesang er vertonen wird) verhaftet wurde. Und die Zusammenkünfte seines Freundeskreises werden argwöhnisch von der Polizei beobachtet. Das haben Frieder Reininghaus mit Schubert und das Wirtshaus: Musik unter Metternich und Michael Kohlhäufl in Poetisches Vaterland. Dichtung und politisches Denken im Freundeskreis Franz Schuberts genau untersucht. Von dem Franzl Schubert in einem Film wie Das Dreimäderlhaus müssen wir wohl Abstand nehmen.

Die Rettung aus der Tristesse ist für Schubert die Kunst. Das ist ein schöner Gedanke. Aber gibt es bei uns Kunst, die den großen Schmerz mildern kann? Da wird in einer Sphäre, in der wir uns noch nicht so gut auskennen, gepostet und getwittert, aber haben wir irgendwo so etwas wie Kunst? Im Zweifelsfall hätten wir immer noch das Lied, das Schuberts Freund Franz von Schober gedichtet hat:

Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,
Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,
Hast du mein Herz zu warmer Lieb' entzunden,
Hast mich in eine beßre Welt entrückt!

Oft hat ein Seufzer, deiner Harf' entflossen,
Ein süßer, heiliger Akkord von dir
Den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen,
Du holde Kunst, ich danke dir dafür!


Sie können in der Müllkippe des Internets, das in in gewisser Weise noch nicht durchschrittenes Terrain ist, wie Frau Merkel sagte, das Lied von Schubert hören. Auch so etwas gibt es da. Ich biete Ihnen heute die Versionen von Hannes Wader und Fritz Wunderlich an, Sie können wählen. Ich finde aber auch die schräge Version von Josephine Foster ganz charmant.

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