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Donnerstag, 20. Juni 2019

Kultur (neo)


Klassik trifft Neo Classical, Weltmusik, Pop, Jazz oder Electronica. Bei NDR Kultur Neo begleiten wir Sie montags bis freitags von 22.35 Uhr bis Mitternacht mit einem grenzenlosen Musikmix durch die letzten Stunden des Tages. Vielfältig, handverlesen und kunstvoll collagiert, so beschreibt NDR Kultur Neo sein Programm. Ich wollte den Post Wiederholungen, der in den letzten Wochen sehr oft angeklickt wurde, zuerst nächtliche Geräusche nennen. Doch dann dachte ich mir, ich könnte den Titel besser für einen Post nehmen, der über all das geht, was ich nachts aus meinem DAB+ Radio höre. Bevor ich diesen kleinen wohlklingenden Engländer namens Auna Georgia hatte, kannte ich Charlotte OelschlegelPetra Rieß und ihre Kollegen noch nicht. Die sind für das handverlesen und kunstvoll collagiert zuständig. Ich kannte auch die Sängerin Charlotte Brandi nicht, die ich jetzt schon mehrfach gehört habe. Und wenn ich in dem Post le grand amour Albin de la Simones Chanson Le grand amour ça n'existait pas zitiert habe, dann kenne ich das Lied auch nur dank NDR Kultur Neo.

Meine Leser wissen, dass ich Noten lesen kann und ein Klavier besitze. Meine Leser lesen es auch gerne, wenn ich über Bach, Mozart und Schubert schreibe. Oder über Jacques Offenbach (der heute seinen 200. Geburtstag hat, da klicken Sie doch dies mal eben an). Aber neben der klassischen Musik gibt es in diesem Blog auch einiges zum Jazz, zur Popmusik und zu Country & Western. Das hat etwas damit zu tun, dass ich aus Bremen komme, das damals von den Amerikanern besetzt war. Auf der anderen Seite der Weser waren die Engländer. Beide Armeen hatten Soldatensender, AFN und BFN, das war die Musik, mit der ich aufwuchs. In Bremen hat Hans Last, der sich später James Last nannte, in amerikanischen Soldatenklubs seine Karriere begonnen. Es wird noch etwas dauern, bis Radio Bremen auch die Musik der Besatzer sendet, das wird dann die große Zeit sein von Manfred Sexauer und Uschi Nerke, die die kürzesten Miniröcke der Republik trägt.

Für den Musikunterricht der Schule existierte das, was aus England und Amerika im Radio zu hören war, überhaupt nicht. Allerdings kam für mich manches durch den Englischunterricht. Denn in den ersten Klassen des Gymnasiums hatten wir einen amerikanischen Englischlehrer, das war im Bremen der fünfziger Jahre eine kleine Sensation. Mr Manally aus Ripon (Wisconsin) war durch einen Lehreraustausch zu uns gekommen, weil zuvor einer unserer Lehrer in Amerika gewesen war. In der Parallelklasse unterrichte Mr Manally Latein. Mit amerikanischer Aussprache, die waren für den Rest des Lebens versaut. Mr Manally, der rote und grüne Socken trug (manchmal auch eine rote und eine grüne Socke), war ein willkommener Farbtupfer in der sonst so grauen Lehrerwelt. Ich werde ihn nicht vergessen, weil er uns alle Lieder beigebracht hat, die Amerika so singt.

Ungefähr um 1960 herum nahmen wir eine Auszeit von der anglo-amerikanischen Populärmusik, wir waren plötzlich alle Exis geworden, Existentialisten. Trugen schwarze Rollis und möglichst schäbige Tweedjacketts und hatten einen Band Camus unter dem Arm. Und schwärmten für Juliette Gréco. Die hatte ich 1962 in Berlin gesehen, alle Chansons von Jacques Prévert, die sie sang, konnte ich auswendig. Mit der Hinwendung zu Frankreich kam auch die Hinwendung zum Jazz. Denn französische Filme hatten häufig hervorragende Soundtracks, Fahrstuhl zum Schafott mit Miles Davis ist wohl der berühmteste. Meine Sammlung von Chansons wuchs, aber noch stärker wuchs die Sammlung von Jazzsängerinnen, das habe ich wohl schon in dem Post Ingeburg Thomsen gesagt, der x-tausend Mal angeklickt wurde.

Ich würde das Wochenendseminar über Marshall McLuhan im Winter 1968 auf dem Koppelsberg gar nicht erwähnen (und auch nicht, dass ich selbstverständlich den Professor beim Tischtennis geschlagen habe), hätte es da nicht einen Gastreferenten namens Klaus Wellershaus vom NDR gegeben. Der war gerade ein Jahr in San Francisco gewesen und brachte nun alles an Popmusik aus Amerika mit, was hier noch völlig unbekannt war. Wir schleppten Kisten voller Langspielplatten aus seinem alten VW Käfer ins Tagungszentrum. Allein die LP von Velvet Underground (und Nico) mit dem Warhol Bananen Cover wäre heute ein Vermögen wert! Am Vormittag stand Theodor Adorno auf dem Programm, am Nachmittag Klaus Wellershaus.

Und Wellershaus war an diesem Wochenende zehn Adornos wert. Jemanden wie Klaus Wellershaus, der für die Popmusik etwas war, was Rolf Dieter Brinkmann für die Vermittung der amerikanischen Lyrik war, hat es beim Norddeutschen Rundfunk nicht wieder gegeben. Falls Ihnen der Name Klaus Wellershaus nichts sagt, sollten Sie unbedingt den schönen Artikel von Heinz Rudolf Kunze aus dem Jahre 2002 lesen. Wenn es heute so etwas wie NDR Kultur Neo gibt, dann hat Wellershaus, der Cello und Dirigieren studiert hatte, mit Sendungen wie Nachtclub, Soultrain (mit Ruth Rockenschaub), Off Beat und Radio Globo das Fundament dazu gelegt. Der Nachfolger von Wellershaus beim NDR war Peter Urban, der an der Hamburger Uni eine Dissertation über die Rockmusik geschrieben hatte, die in leicht veränderter Form bei Fischer als Rollende Worte: Die Poesie des Rock erschien. Er moderiert seit Jahrzehnten den ESC, aber ein Klaus Wellershaus ist er nicht.

Wir sind noch in den Sixties, Unruhen auf den Straßen und an den Universitäten. Vieles an Musik kommt jetzt nicht aus Motown oder Nashville, sondern aus England. Es ist die Zeit der Christine Keeler und des Swinging London. Und der englische Dichter Philip Larkin (der auch den Jazz liebt) schreibt:

Sexual intercourse began
In nineteen sixty-three
(which was rather late for me) -
Between the end of the "Chatterley" ban
And the Beatles' first LP. 


Man muss sich jetzt entscheiden, ist man für die Beatles oder die Stones? Ist man für Folk oder Jazz? Oder lieber Country & Western? Es sind auch musikalisch unruhige Zeiten. Wenn man Die Zukunft der Schönheit von F.C. Delius liest, kann man ein schönes Bild der Zeit bekommen.

Jetzt kommen die Siebziger, in dieser Phase von sex, drugs and rock'n roll wird es ein klein wenig unübersichtlich. In Brighton kloppen sich am jedem Wochenende die Mods mit den Rockern, und die Engländer zeigen uns, dass man den Begriff Jugendkultur eigentlich nur im Plural gebrauchen kann. Man braucht jetzt Wegführer durch die Popmusik. Glücklicherweise habe ich Studenten, die das Gras wachsen hören und mir sagen, was ich unbedingt hören müsse. Wenn ich etwas über Jazz wissen will, rufe ich Jimmy in Berlin an.

Und mein Freund Ollie Gray, der PJ Harvey entdeckt hat (und im Independent über sie schreibt), veröffentlicht seine Autobiographie Volume: A Cautionary Tale of Rock and Roll Obsession. Über die ein Rezensent schrieb: Have you ever been to a gig? Have you ever been obsessed with music? This is Oliver Gray's memoir of 30 years spent dabbling on the periphery of the music business. It involves 300 pages of disasters, near misses, humiliations, and the (very) occasional triumph. Ein kleiner Triumph ist, dass Ollies Buch inzwischen in der fünften Auflage ist.

Wenn wir uns angesichts der Massen von Rock und Pop in den Siebzigern gar nicht mehr orientieren können, dann haben wir glücklicherweise immer noch Robert Christgaus Record Guide. Aber Autoritäten wie Robert Christgau und Klaus Wellershaus sind rar geworden. Ich nehme jetzt das, was mir mein DAB+ Radio anbietet. Freitag und Sonnabend immer die Till Brönner Show, Montag bis Freitag NDR Kultur Neo. Über dessen Programm der Moderator Hendrik Haubold sagt: Wir konstruieren im Grunde ein musikalisches Gebäude, von Klassik bis hin zu neuen musikalischen Trends. Diese Elemente verweben wir zu einer Einheit, die einem so noch nicht begegnet ist. Wir haben Hörer, die sagen, dass unsere Sendung ihr Bedürfnis nach etwas Neuem, nach Vielfalt befriedigt.

Ja. Was soll man da noch sagen? Oh, wonder! How many goodly creatures are there here! How beauteous mankind is! O brave new world, that has such people in ‘t! sagt Miranda in The Tempest. Manchmal ist mir das Programm zu sophisticated, zu häufig höre ich ein Instrument, das Oud heißt. Und es gibt zuviel Tastengeplätscher von Einaudi. Wenn es nach mir ginge, kann ich auch eine halbe Nacht Melody Gardot hören. Wenn dazwischen Carla Bruni mal Moon River singt, ist das für mich O.K.

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