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Sonntag, 9. Juni 2019

Pfingsten


Er wollte für ein Jahr nach Berlin, es wurden fünf Jahre daraus. Er hatte die Malerei aufgegeben und wollte jetzt Theaterschriftsteller werden. Wurde er nicht. Weil er in den Berliner Jahren sein Hauptwerk Der grüne Heinrich und den Anfang von Die Leute von Seldwyla schrieb. Er schrieb auch Gedichte, die leider kaum beachtet wurden, sodass Hermann Hesse 1927 schreiben konnte: Es sind unter diesen Gedichten außerordentlich schöne, von denen man nicht begreifen kann, daß sie jahrzehntelang unbeachtet und ungedruckt daliegen konnten! Aber Kellers Lyrik ist überhaupt wenig gekannt, sie ist rauher und eigenwilliger als seine Prosa. Das konnte man neulich bei den Erstaufführungen von Lebendig begraben sehen, Othmar Schoeck hat zu diesem Gedichtzyklus eine sublime Musik geschrieben, die Mehrzahl der Zuhörer aber kannte diese herrlichen Gedichte nicht und saß ihnen verlegen und kopfschüttelnd gegenüber. Vielleicht geht es auch diesen von Fränkel ausgegrabenen Jugendgedichten so. Es wäre aber schade. Der hier erwähnte Schweizer Komponist Othmar Schoeck hat in SILVAE schon einen Post, in dem auch Bilder des Landschaftsmalers Gottfried Keller zu sehen sind.

Für den heutigen Tag habe ich ein Gedicht aus dem Jahre 1854 von Gottfried Keller herausgesucht, dass Berliner Pfingsten heißt:

Heute sah ich ein Gesicht,
Wonnevoll zu deuten:
In dem frühen Pfingstenlicht
Und beim Glockenläuten
Schritten Weiber drei einher,
Feierlich im Gange,
Wäscherinnen, fest und schwer!
Jede trug 'ne Stange.

Mädchensommerkleider drei
Flaggten von den Stangen;
Schönre Fahnen, stolz und frei,
Als je Krieger schwangen,
Blau und weiß und rot gestreift,
Wunderbar beflügelt,
Frisch gewaschen und gesteift,
Tadellos gebügelt.

Lustig blies der Wind, der Schuft,
Lenden auf und Büste,
Und von frischer Morgenluft
Blähten sich die Brüste!
Und ich sang, als ich gesehn
Ferne sie entschweben:
Auf und laßt die Fahnen wehn,
Schön ist doch das Leben!

Ich wünsche all meinen Lesern ein frohes Pfingstfest.

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