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Sonntag, 12. Januar 2020

blaue Vasen


Zwei Vasen umrahmen ein Bild, übergroße japanische Vasen, die aus der Stadt Arita kamen. 1,88 hoch, mit Blumen und Vögeln geschmückt. Zu datieren irgendwo zwischen der Edo und der Meiji Periode. Sie sind für den Export hergestellt worden, so etwas stellt sich um 1880 kein Japaner ins Wohnzimmer. Die Vasen haben nicht immer im Bostoner Museum of Fine Arts neben dem Bild gestanden, erst 1997 sind sie durch eine Schenkung in das Museum gekommen.

Die Vasen gehörten der Familie von Edward Darley Boit, einem reichen Amerikaner, der selbst Aquarelle malt. Und der zu jenen reichen Amerikanern gehört, die wir expatriates nennen, die amerikanischen Maler John Singer Sargent und James Abbott McNeill Whistler gehören auch dazu. Diese amerikanischen Kosmopoliten finden wir am Ende des 19. Jahrhunderts überall, in London, Venedig und Paris, aber nicht in Amerika. Henry James sagte 1887: It sounds like a paradox, but it is a very simple truth, that when to-day we look for ‘American art’ we find it mainly in Paris. When we find it out of Paris, we at least find a great deal of Paris in it. Die japanischen Vasen haben die Familie Boit überall hin begleitet, sechzehn Mal sind sie über den Atlantik transportiert worden.

John Singer Sargent (der am 12. Januar 1856 geboren wurde) kennt die Boits. Er mag sie, weil sie gebildete Leute sind. Und Wagner lieben. Denn Sargent ist ein großer Liebhaber moderner Komponisten. Er fördert den Komponisten Gabriel Fauré, den er auch portraitiert hat, und er kann mehrere Opern von Richard Wagner auf dem Klavier spielen. Der in Florenz geborene Sargent ist selten in Amerika, aber wenn er 1887 in Boston ist, wird er Edward Darley Boits Gattin Mary Louisa malen. Es ist ein erstaunliches Bild, nicht nur wegen des gepunkteten Kleides. Henry James weiß, dass dieses Bild nicht zu den größten Werken seines Freundes gehört und seine Karriere nicht unbedingt fördern wird: Our dear Iza won't do him good — though she is wonderful and of a living! But she not only speaks — she winks — and the philistine will find her vulgar. Sie sieht wirklich ein klein wenig prollig aus, überhaupt nicht so wie die feinen Bostoner Damen in den Romanen von Henry James.

Die oben neben dem Bild stehenden blauen Vasen sind dieselben Vasen, die wir auf dem in Paris gemalten Bild von John Singer Sargent sehen können, das zuerst Portraits d'enfants hieß und heute allgemein unter dem Titel The Daughters of Edward Darley Boit bekannt ist. Als das quadratische Bild (das im Laufe der Zeit zweifelhafte Restaurierungen über sich ergehen lassen musste) 1882 in Paris ausgestellt wurde, erregte es großes Aufsehen. Nicht jedem Kunstkritiker gefiel das Bild der im Foyer eines Hauses spielenden Mädchen, vor allem nicht jenem Kritiker, der es mit four corners and a void beschrieb.

Henry James war von dem Bild begeistert: The artist has done nothing more felicitous and interesting than this view of a rich, dim, rather generalized French interior (the perspective of a hall with a shining floor, where screens and tall Japanese vases shimmer and loom), which encloses the life and seems to form the happy play-world of a family of charming children. The treatment is eminently unconventional, and there is none of the usual symmetrical balancing of the figures in the foreground. The place is regarded as a whole; it is a scene, a comprehensive impression; yet none the less do the little figures in their white pinafores (when was the pinafore ever painted with that power and made so poetic?) detach themselves, and live with a personal life. 

Two of the sisters stand hand in hand at the back, in the delightful, the almost equal, company of a pair of immensely tall emblazoned jars, which overtop them, and seem also to partake of the life of the picture; the splendid porcelain and the aprons of the children shine together, and a mirror in the brown depth behind them catches the light. Another little girl presents herself, with abundant tresses and slim legs, her hands behind her, quite to the left; and the youngest, nearest to the spectator, sits on the floor and plays with her doll. The naturalness of the composition, the loveliness of the complete effect, the light, free security of the execution, the sense it gives us as of assimilated secrets and instinct and knowledge playing together... [is] astonishing. Der Bostoner expatriate Henry James ist der beste Werbetexter, den Sargent haben kann. Was nicht jedem Kritiker gefällt, so schreibt ein anonymer Kritiker 1886 über Sargent: He is the Henry James of portraiture, and I can’t help wishing he were not — as I can’t help wishing Henry James were not the Sargent of the novel.

Man hat Kinder auf Gemälden lieber irgendwie etwas anders dargestellt als die Boit Geschwister. Also zum Beispiel so wie Penelope Boothby, oder so wie Sir Thomas Lawrence 1799 die Kinder von Ayscoghe Boucherett gemalt hat. Oder so, um in der Zeit von Sargent zu bleiben, wie Alice und Elisabeth Cahen d'Anvers, die Auguste Renoir 1881 gemalt hat. Die beiden Mädchen fanden die schier endlosen Sitzungen bei dem Maler furchtbar langweilig, waren aber glücklich jedes Mal diese schicken Kleider anziehen zu können. Wir sagen Ach, wie süß! wenn wir die beiden sehen, es ist ein sentimentales Bild, so etwas will John Singer Sargent auf keinen Fall malen. Das Bild kann eine andere Bedeutung bekommen, wenn wir auf das Leben der beiden Kinder sehen. Alice (in Blau) wird neunundachtzig Jahre alt werden, Elisabeth wird mit neunundsechzig auf dem Weg in das Konzentrationslager Auschwitz sterben.

Zwei Jahre vor dem Bild der Kinder von Edward Boit hatte John Singer Sargent die Kinder eines anderen Freundes, des Schriftstellers Édouard Pailleron, gemalt und das Bild im Pariser Salon ausgestellt. Es ist wie Portraits d'enfants ein Bild voller Geheimnisse, was geht in diesen beiden Kindern vor? Ich weiß nicht, wer beim Penguin Verlag auf die Idee gekommen ist, dies Bild als Cover für die Paperbackausgabe von Henry James' Novelle The Turn of the Screw zu verwenden, aber dies hier könnten Flora und Miles aus seiner Geschichte sein.

Das Leben der Marie-Louise Pailleron, die hier so geheimnisvoll guckt, wird nichts Tragisches haben wie das Leben von Elisabeth Cahen d'Anvers. Sie wird ein Schloss erben und 1930 den Grand prix de littérature de l'Académie française für ihr Werk als Literaturhistorikerin bekommen. Die kleine Marie-Louise hat Sargent gehasst. Das sagt sie in ihrer Autobiographie Le Paradis perdu: Souvenirs d'enfance. Für dreiundachtzig Sitzungen musste sie Modell sitzen. Und sie durfte ihre eleganten Seidenstrümpfe, die sie so liebte, nicht tragen, weil die den Maler irritierten. Eigentlich hätte Sargent wissen können, wie sich junge Mädchen fühlen, er ist mir drei Schwestern aufgewachsen.

Der deutsche Übersetzer von Jean Staffords Short Story Children are bored on Sunday wählte für die Geschichte den Titel Les Enfants S'Ennuient le Dimanche. Die Story war 1965 in dem Band Amerika Erzählt, den Titel habe ich nie vergessen. Und dieser Satz war vor vielen Jahren das Erste, das mir bei Sargents Bild der vier Töchter seines Freundes Ned Boit einfiel. Sind das hier glückliche Kinder, ist das eine glückliche Familie? Bei dem Familienbild von Albert Besnard hätten wir keine Zweifel. Aber hier? Ein Kritiker der Ausstellung schrieb über das Bild: The portraits… have something about about them that is… cold and cruel. They disturb me. Die Kunsthistorikerin Rebecca Bedell sagt in ihrem Buch Moved To Tears: Rethinking the Art of the Sentimental in the United States:

His presentation of the girls seems calculated not to invite empathetic engagement, but rather to frustrate and deflect it. The children pose before us, the three youngest more respectfully than the eldest, awaiting judgment or dismissal. Ambiguity, mystery, and an undefined yet pervasive unease disrupt ready sentimental responses ... Currents of feeling, dislocated from the children, suffuse the scene. They rise, in part, from the jarring unexpectedness of Sargent’s compositional choices: the small size of the girls in relation to the lowering space; their scattered, asymmetrical placement; the strange dark void at the center disgorging shadows that lurk behind the screen and eddy about the two older girls; and the sharp-angled thrust of rug and screen and pinafores that instead of directing attention to the girls as often as not point away from them and even out of the frame. These forms provoke feelings of instability, disquiet, and unease. While nothing in the girls’ facial expressions or postures suggests that they share these feelings, the emotions reside within them, heightening impressions of their vulnerability.

Im Jahre 2010 hat das Bostoner Museum of Fine Arts das Bild von Sargent an den Prado ausgeliehen, wo man das Bild neben Velazquez' berühmtem Bild Las Meninas plazierte. Dass beide Bilder etwas miteinander zu tun haben, war Kritikern schon früh aufgefallen. Sargent hatte 1879 im Prado das Bild kopiert, und er hatte diese Kopie in seinem Studio als er Portraits d'enfants malt.

Er hat das Bild im Herbst 1882 schnell gemalt (hier zwei Seiten aus seinem Skizzenbuch), angeblich gab es nur zwei Sitzungen, in denen die vier Mädchen posieren mussten; keine dreiundachtzig wie bei den Paillerons. Die vier Mädchen wussten, was es bedeutet, gemalt zu werden, ihr Vater ist ja selbst Maler (Sargent wird 1909 eine Ausstellung zusammen mit Edward Boit machen).

Sie brauchten sich auch nicht für das Bild feinzumachen, die weißen Schürzchen tragen sie immer beim Spielen über ihren Kleidern. When was the pinafore ever painted with that power and made so poetic? fragt Henry James, und jetzt kommen wir auf gefährliches Terrain. Diese kleinen Schürzen oder Überkleider sind im 19. Jahrhundert weiß. Weiß ist die Farbe der Unschuld, und das Weiß gibt Sargent die Gelegenheit, Licht und Schatteneffekte auf die Kittel zu zaubern. Das sieht auf diesem Ausschnitt von der kleinen Mary Louisa (das ist die ganz links) auch sehr sexy aus, sieht beinahe nach französischer lingerie aus.

Und nun kommt ein Professor namens David M. Lubin daher, der uns in seiner Dissertation Act of Portrayal: Eakins, Sargent, James versichert, dass alles auf dem Bild Inzest und Schweinkram ist. Das Buch hat mich bei ebay 5,48€ gekostet. Das war es wert, ich habe selten so gelacht. Glücklicherweise wird Lubin (der kein Kunsthistoriker ist) mit seiner Interpretation von Roger Kimball in dem Buch The Rape of the Masters: How Political Correctness Sabotages Art auseinandergenommen. Und Jane Van Norman Turano, die Herausgeberin des The American Art Journal, hat Lubins Buch in einer vernichtenden Rezension als a bizarre, perverse view of three American masterpieces bezeichnet.

Vielleicht hätten die Boits ihre Töchter lieber so gesehen wie dieses unbekannte Mädchen, das Sargent ein Jahr später malen wird, aber die Boits lassen dem Künstler freie Hand. Es gibt auch keine Belege darüber, dass Sargent Geld für das Bild bekommen hat (wenige Jahre später in seiner Londoner Zeit wird er tausend Pfund für ein Portrait nehmen). Er wollte dieses Bild unbedingt malen, er brauchte ein außergewöhnliches Bild für den Salon 1883, mit dem er seine Position als Portraitmaler der Pariser Gesellschaft festigen wollte. Er ist jetzt sechsundzwanzig Jahre alt, dies soll sein bestes Bild werden, ein Vorzeigestück, über das man spricht. Er braucht die Kundschaft der Reichen des Gilded Age. In the years to come he worked his way through the pages of 'Who'sWho,' then 'Debrett' and 'Burke's Peerage, sagt Stanley Olson in seiner Sargent Biographie, die manchmal wundervoll gehässig sein kann.

Aber wie ist das Bild einzuordnen, über das ein Kritiker schrieb, es sei composed from new rules; the rules of the game of four corners? Sind es vier Einzelportraits (es heißt ja Portraits d'enfants), die durch den Raum, durch Dunkelheit und Licht zusammengehalten werden oder fällt das Bild in die Kategorie conversation piece? Auf diese Bildgattung bin ich schon einmal eingegangen, als ich das Buch Conversation Pieces von Mario Praz vorgestellt habe. Doch gibt es wirklich eine Konversation in dem Bild? The longer you look, the more they deflect all efforts to read their relationships. This is a private sorority, and its codes will never be surrendered, schreibt M.J. Andersen im Wall Street Journal. Die Figuren erscheinen für den Augenblick wie erstarrt, eingefroren, es ist der Blick des modernen Photographen, den Sargent hat.

Die Dame hier im Vordergrund ist Erica Hirshler, Senior Curator am Bostoner MFA, sie hat das Buch Sargent's Daughters: The Biography of a Painting geschrieben (ich habe ✺hier auch noch einen schönen Vortrag von ihr), in dem alles steht, was man über Mary Louisa, Florence, Jane und Julia Boit (in der Reihenfolge von links aufgezählt) in Erfahrung bringen konnte. Keine von ihnen wird heiraten. So dominierend, lebenslustig und überschwenglich ihre Mutter war, davon haben sie nichts abbekommen.

Mary Louisa Cushing Boit, deren Vater sein Vermögen im Handel mit China (auch dem Opiumhandel) gemacht hatte, wird nicht mehr erleben, was aus ihren Töchtern wird. Sie stirbt schon 1894. Florence, die älteste Tochter, wird als erste sterben. Die kleine Julia (die mit der Puppe im Vordergrund auf dem chinesischen Teppich) wird Aquarellmalerin wie ihr Vater sein, wird mit ihrer Schwester Mary Louisa zusammenleben und einundneunzig Jahre alt werden. Jane in der Bildmitte im Hintergrund wird ihr Leben lang psychiatrische Hilfe benötigen. Hat Sargent das geahnt, als er Florence und Jane in die Dunkelheit des Bildes verbannte? Kurz vor dem Tode von Florence, vier Jahre nach dem Tod ihres Vaters, haben die Mädchen das Bild des Bostoner Museum of Fine Arts geschenkt.

Erica Hirshler hat gesagt, dass die kleine Julia die meisten Blicke auf sich zieht: Mothers always bring their children right up to Julia. It's so much fun, because she's so accessible and people use that figure that's painted so close to us to engage their children, because she's at child height. Wie gut, dass die Kiddies und ihre Eltern nicht wissen, was der Professor Lubin über sie gesagt hat. Das ist keine Puppe, die sie da hält. Das ist a sort of buffer zone, that obstructs both the head-on gaze of the viewer and the direct approach of light from the painting's lower left corner. 

What this buffer zone protectively blocks from our gaze and from the revealing light is Julia's pudendum, as though to disclaim it, deny it, forswear its existence. Julia may thus ... be characterized as thoroughly presexual and wholly unavailable to sexual investigation, whether scientific, artistic, or prurient. Nevertheless, that she protects her genital zone reflects how deeply sexualized she is, or how effective an act of repression this painting . . . must achieve in order to abide by an ideology of sexual innocence. Wir lassen diesen Unsinn besser unkommentiert. Stanley Olson bezeichnete Sargents Portraits d'enfants als a literary picture; it could support endless interpretation, fascination. Aber mit der endless interpretation kann er Professor Lubin nicht gemeint haben.

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