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Samstag, 12. September 2020

Winkelsucher


Auch wenn der Post heute den Maler und Photographen Ben Shahn (der am 12. September 1898 geboren wurde) zum Thema hat, fange ich mal mit einem Bild von seiner Kollegin Dorothea Lange an. Denn die große Dorothea Lange Ausstellung im MOMA läuft noch bis zum 19. September. Falls Sie es nicht in der nächsten Woche nach New York schaffen sollten, kann ich Ihnen dieses Online Archive vom Oakland Museum of California anbieten. Dies Photo von Dorothea Lange hier habe ich schon mehrfach im Blog verwendet. Weil ich schon mehrfach über die amerikanische Kunst der dreißiger Jahre geschrieben habe. Zuletzt im Februar in dem Post Simple Pleasures über die Malerin Doris Emrick Lee.

One hundred years from now my administration will be known for its art, not for its relief, hat der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt zu Henry Morgenthau gesagt. Das ist auf den ersten Blick ein erstaunlicher Satz, aber es ist viel Wahres an dieser Aussage. Denn in der Great Depression hatte Präsident Roosevelt die Kulturförderung zu einem wichtigen Bestandteil seines Konjunkturprogramms gemacht. Noch nie waren in Amerika Schriftsteller, Maler und Photographen derart vom Staat gefördert worden. Mehr als fünftausend Künstler wurden vom  Federal Art Project finanziert. Auch Dorothea Lange und Ben Shahn, von dem dies Bild stammt, das Unemployment heißt. Man merkt dem Bild Unemployment an, dass es aus der Photographie kommt, die Bildauffassung ist die eines Photographen. Es ist natürlich ein Bild, das zu der Zeit passt, ein Viertel der Amerikaner sind am Anfang der dreißiger Jahre arbeitslos.

Viele der jetzt vom Staat Geförderten, werden noch berühmt werden: Jackson Pollock, Saul Bellow, Zora Neale Hurston und John Steinbeck. Ben Shahn ist Maler, aber er ist auch Photograph und arbeitet für Roy Stryker, der die Abteilung der Farm Security Administration leitet, die sich mit der Photographie befasst. Zu diesem Thema gibt es in diesem Blog schon einen ganz langen Post, der Dokumentarfilm heißt. Wenn Sie den lesen, wissen Sie beinahe alles über die Zeit. Es ist einer den ganz wenigen Posts, die nicht für diesen Blog geschrieben wurden, er war schon in einem Buch über den amerikanischen Dokumentarfilm veröffentlicht worden.

Diese zwei Jungens haben gerade Kohlen von einer Schlackenhalde in Nanty Glo geklaut, sie wissen vielleicht gar nicht, dass sie photographiert werden. Denn der Photograph blickt sie nicht an, er schaut in eine ganze andere Richtung. Und das hat etwas mit dem kleinen Photoapparat zu tun, den er in der Hand hält. Aber es ist egal, wie man die Kamera hält: The camera is an instrument that teaches people how to see without a camera, hat Dorthea Lange gesagt.

Ben Shahn hat einen Sucher auf seiner Leica, mit dem er sozusagen um die Ecke photographieren kann. Die Firma von Ernst Leitz bietet den Photographen seit 1929 sogenannte Winkelsucher an, die WINKO (seit 1929) oder WINTU (1932) heißen. Ben Shahn liebt seinen Winkelsucher, zu dem es hier einen interessanten Artikel gibt. Ich habe in dem Post Strassenphotographie gesagt, dass der holländische Photograph Nico Jesse schnell ein persönliches Verhältnis zu den Menschen aufbauen konnte, die er photographieren wollte. Dorothea Lange konnte das nicht, sie war sehr schüchtern, es kostete sie Überwindung, sich Menschen mit ihrer großen Kamera zu nähern, um sie abzulichten.

Auch bei dem Bild, das sie in ganz Amerika berühmt machen wird: I saw and approached the hungry and desperate mother, as if drawn by a magnet. I do not remember how I explained my presence or my camera to her, but I do remember she asked me no questions. I made five exposures, working closer and closer from the same direction. I did not ask her name or her history. She told me her age, that she was thirty-two. She said that they had been living on frozen vegetables from the surrounding fields, and birds that the children killed. She had just sold the tires from her car to buy food. There she sat in that lean-to tent with her children huddled around her, and seemed to know that my pictures might help her, and so she helped me. There was a sort of equality about it. 

Die hungrige Frau, die Lange nicht nach dem Namen fragte, hieß Florence Thompson, sie hat Jahrzehnte später über Dorothea Lange gesagt: I wish she hadn't taken my picture. I can't get a penny out of it. She didn't ask my name. She said she wouldn't sell the pictures. She said she'd send me a copy. She never did. Das ist die andere Seite des berühmtesten Bildes der FSA Photographie, das den Titel Migrant Mother hat. Ben Shahn ist einer der wenigen FSA Photographen, der eine Leica und keine große Plattenkamera wie zum Beispiel eine Graflex Speed Graphic benutzt. Eine Leica ist klein, man kann sie mit einer Hand halten, das kann Dorothea Lange mit ihrer Graflex Series D nicht. Ben Shahn, der sich mit dem berühmten Walker Evan ein Studio teilte, brachte als Photograph keinerlei technischen Vorkenntnisse mit:

Now, my knowledge of photography was terribly limited. I must tell you this because I thought I could always ask Walker to show me what to do and so on, and it was a kind of an indefinite promise that he made. One day when he was going off to the South Seas and I was helping him into his taxi, I said, “Walker, remember your promise to show me how to photograph?” He says, “Well, it’s very easy, Ben. F9 on the sunny side of the street, F4.5 on the shady side of the street. For a twentieth of a second hold your camera steady,” and that was all. This was the only lesson I ever had. Of course I realize that photography is not the technical facility as much as it is the eye, and this decision that one makes for the moment at which you are going to snap, you know.  Das Zitat stammt aus einem langen Interview, das Richard K. Doud, der für die Archives of American Art arbeitete, mit Ben Shahn führte. Doud hat in den sechziger Jahren viele der ehemaligen FSA Photographen interviewt, unter anderem auch Dorothea Lange.

Während des Interviews fragt Ben Shahn seinen Gesprächsparter: You know what that is? You know in an ordinary Leica, the lens is here. Now, I would look this way and by refraction of what they call an angle finder I would take away any self-consciousness they had. So, most of my pictures don’t have any posed quality and this was a very helpful thing in the whole quality of my work, this angle finder. Ben Shahn versichert Richard Doud, die Portraitierten hätten es nie wirklich bemerkt, dass er sie gerade photographierte. Wenn man auf diesem Bild genau hinschaut, dann kann man im Spiegel des Fensterglases über dem Mann mit dem schwarzen Hut den Photographen sehen. Er guckt die beiden Männer nicht an.

Er hat sich auch mit seiner Leica mit dem Winkelsucher gemalt. Hier auf dem Bild Self Portrait Among Churchgoers (1939) steht er mit einem braunen Jackett vor der Kirchentür, er scheint irgendetwas links außerhalb des Bildes zu photographieren. Wenn wir nicht wüssten, dass er mit seinem Winkelsucher die Kirchgänger im Visier hat, würde dieses Bild keinen Sinn machen. Die Kirche ist schon auf einem seiner Photos zu sehen, die beiden älteren Damen auch.

Diese Zeichnung hat Shahn Roy Stryker geschenkt, to Roy who made it possible for me to work uninterrupted for 3 years…steht da links unten. Die Photographie war für Ben Shahn nur ein Hilfsmittel, das ihm für seine Malerei diente, I have never taken a picture for photography’s sake, but always for my own use, hat er einmal gesagt. Er hielt die Photographie nicht für Kunst: No, it is a mind, an eye, but not an art. Er war auch als Photograph nicht bekannt geworden wie Walker Evans oder Dorothea Lange, man kannte ihn als Maler des sozialen Realismus, als Schöpfer von Wandmalereien und politischen Plakaten. Erst als das Fogg Museum 1969 zum erstenmal Teile seiner fünftausend Photographien zeigte, wurde der Photograph Ben Shahn bekannt. Seine Witwe hat der Harvard Universität alle Photographien hinterlassen.

Dieses Gemälde heißt Liberation, Ben Shan hat es 1945 gemalt, als Paris befreit wurde. Wenn Sie die Photos von Ben Shahn (und auch die anderer Photographen, die für die Roosevelt Administration gearbeitet haben) sehen wollen, dann klicken Sie diese Seite an. Ich habe dann noch den preisgekrönten PBS Dokumentarfilm Ben Shahn: Passion for Justice und einen hervorragenden Blog bei Wordpress, der sich der FSA Photographie widmet. Man kann da ein Video über Ben Shahn sehen, aber es gibt auch viel Material zu Dorothea Lange, Arthur Rothstein und Roy Stryker. Das beste Buch zum Amerika dieser Zeit, die eine Zeit voller Kunst ist, ist der vierzig Jahre alte Berliner Katalog Amerika: Traum und Depression 1920/40, den man noch zu zum Teil grotesk niedrigen Preisen antiquarisch finden kann. Ein Kauf lohnt sich unbedingt.


Lesen Sie auch: Dokumentarfilm, John Steinbeck, Gordon Parks, Margaret Bourke-White, Grant Wood, Simple Pleasures, Robert Frank

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