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Samstag, 26. März 2022

der Krieg kommt nicht in die Bücher


Future years will never know the seething hell and the black infernal background, the countless minor scenes and interiors of the secession war; and it is best they should not. The real war will never get in the books, hat der amerikanische Dichter Walt Whitman, der heute vor hundertdreißig Jahren starb, geschrieben. Er wusste, wovon er redete. Er hatte Verwundete in den Lazaretten des Bürgerkriegs gepflegt. Es dauert seine Zeit, bis ein Krieg in die Bücher kommt, aber der Krieg war immer in der Literatur. The real war will never get into the books ist die Überschrift des letzten Kapitels in Whitmans autobiographischen →Specimen Days von 1865, das Buch wird er erst 1876 weiterschreiben. Die zeitgenössische amerikanische Literatur war während des Bürgerkrieges und der Zeit der reconstruction sehr zurückhaltend damit, den Krieg zu beschreiben. The Unwritten War hat der amerikanische Professor Daniel Aaron sein Buch über die Literatur des Bürgerkriegs genannt. Gut, wir haben Ambrose Bierce, der →What I Saw at Shiloh schreiben konnte, weil er bei Shiloh dabei war. Herman Melville hat seine →Battle-Pieces geschrieben, Whitman seine Gedichte. Wir haben John William DeForest, der →Miss Ravenel's Conversion from Secession to Loyalty schreibt, und der einen unbekannten Realismus in den amerikanischen Roman bringt:

A quarter of a mile further on they found a second surgeon similarly occupied, from whom Van Zandt obtained another deep draught of his favorite medicament, rejecting chloroform with profane politeness. Colburne refused both, and asked for water, but could obtain none. Deep in the profound and solemn woods, a full mile and a half from the fighting line, they came to the field hospital of the division. It was simply an immense collection of wounded men in every imaginable condition of mutilation, every one stained more or less with his own blood, every one of a ghastly yellowish pallor, all lying in the open air on the bare ground, or on their own blankets, with no shelter except the friendly foliage of the oaks and beeches. In the centre of this mass of suffering stood several operating tables, each burdened by a grievously wounded man and surrounded by surgeons and their assistants. Underneath were great pools of clotted blood, amidst which lay amputated fingers, hands, arms, feet and legs, only a little more ghastly in color than the faces of those who waited their turn on the table. The surgeons, who never ceased their awful labor, were daubed with blood to the elbows; and a smell of blood drenched the stifling air, overpowering even the pungent odor of chloroform. The place resounded with groans, notwithstanding that most of the injured men who retained their senses exhibited the heroic endurance so common on the battle-field.

Hemingway hat DeForests Roman als das überzeugendste Werk des Bürgerkriegs bezeichnet, doch die literarische Bewältigung des Krieges wird erst viel später kommen. Stephen Cranes →The Red Badge of Courage erscheint dreißig Jahre nach dem Kriegsende, Gone with the Wind im nächsten Jahrhundert. Als vielleicht interessantester historischer Roman des Civil War ist Michael Shaaras →The Killer Angels aus dem Jahre 1974 zu nennen.

Der Krieg, den Whitman erlebte, war nach dem Krimkrieg der zweite industrielle Krieg der Geschichte, die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts wird es nie wieder geben. Es war nicht mehr die Zeit der Kavallerie, es war die Zeit der Kanonen und der Massenvernichtung. Die Zahl der Toten geht in die Millionenhöhe. Die Schlacht von Cold Harbor nimmt Verdun vorweg. Nach jedem Krieg gibt es Stimmen, die sagen: Nie wieder Krieg. Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, steht in der Charta der Vereinten Nationen. Das war 1945. Rußland gehörte zu den Gründungsmitgliedern der United Nations.

Ich bin noch im Krieg geboren, bin in der Nachkriegszeit in dem von den Amerikanern besetzten Bremen aufgewachsen. Ich habe noch etwas von dem unsagbaren Leid mitbekommen. Viele Väter waren gefallen oder waren Kriegsversehrte wie mein Vater. Sieben Durchschüsse in Rußland, da war für den Leutnant der Reserve der Krieg zuende. Viele Häuser waren zerstört. Viele Familien beklagen Tote. Die erste Liebe meiner Mutter, ein Unteroffizier namens Hans Bünte, gefallen vor Rotterdam, Tante Margrets Neffe, der Hauptmann der Reserve Georg K., bei Tscherkassy, kurz nachdem er das Ritterkreuz gekriegt hatte, Omas junger Cousin Ludwig in Nordfinnland, Vatis Bruder irgendwo in Russland, Werners Bruder in Lyon. Sie liegen verstreut über Europa, die Familien wären glücklicher, wenn sie wüssten, wo die Gräber sind. Meine Jugend war das Nachkriegsdeutschland, waren Ruinen, gerettete Photoalben und viele Erzählungen. Alle erzählten vom Krieg. Wenige von der Zeit vorher. Was wäre das für ein Material gewesen, wenn ein Historiker das damals aufgeschrieben hätte! Später in der Oberschule hatte dieser Krieg, dessen Auswirkungen wir alle noch kannten, beinahe nicht stattgefunden. Da gab es den Punischen Krieg, da lasen wir Caesars De Bello Gallico, doch das Kriegsende in Bremen war kein Thema des Unterrichts. Warum ist damals niemand auf die Idee gekommen, so etwas wie Kempowskis Das Echolot: Ein kollektives Tagebuch zu schreiben? The real war will never get in the books.

Jetzt ist wieder Krieg. Wird jemand über ihn schreiben? Wir wissen nicht, was kommt. Wir wissen nicht einmal, was wirklich geschieht. Es ist auch ein Krieg der Wörter. Putin beweist uns, dass George Orwell mit 1984 Recht hatte: War is peace Freedom is slavery Ignorance is strength. Der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkachenko hat in einem Lyrikportal Poesie der Freiheit dazu aufgerufen, Gedichte über den Krieg zu schreiben: Jedes Gedicht, jede Zeile, jedes Wort ist bereits ein Teil der ukrainischen Geschichte. Nach unserem Sieg müssen sich zukünftige Generationen an das erinnern, was wir durchgemacht haben, und sich von Mut und heldenhaftem Kampf inspirieren lassen. Schließen Sie sich dem kulturellen Erbe an und fügen Sie Ihre Werke hinzu, denn wir wissen mit Sicherheit, dass die Kriege eines Tages vorbei sind und die Poesie nicht. Vielleicht sollte jemand das Sonett von Andreas Gryphius ins Ukrainische übersetzen und auf die Seite stellen:

Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun /
Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.
Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.
Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun /
Die Jungfern sind geschänd’t / und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret.
Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr / als vnser Ströme Flutt /
Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vielen abgezwungen.

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