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Montag, 10. Oktober 2022

Schlaraffen


Als ich las, dass die Vereinigung zur Pflege von Freundschaft, Kunst und Humor Schlaraffia an einem 10. Oktober gegründet wurde, musste ich unbedingt diesen Post aus dem Jahre 2015 noch einmal hervorholen. Als ich den damals schrieb, hatte ich versucht, von dem Vegesacker Castellum Visurgis etwas mehr über die Geschichte des Herrenclubs zu erfahren. Ich hatte ihnen die Kopie eines Photos aus den zwanziger Jahren geschickt, auf dem mein Opa bei einer Festsitzung war. Das interessierte sie schon. Man versprach mir viel, lieferte aber nichts. Schlaraffen, dachte ich mir.

Das war mal unser Haus, sagte mein Opa immer zu mir, wenn wir an dem großen Haus in der Breiten Straße vorbeigingen. Er meinte damit nicht, dass es das Haus unserer Familie gewesen sei. Das uns bezog sich auf die Schlaraffia, der mein Großvater angehört hatte. Castellum Visurgis hieß das Schlaraffenreych, obgleich es bei uns weit und breit kein castellum gab. Da haben die Schlaraffen in Wilhelmshaven, vulgo Schlicktown, mehr Sinn für die Wirklichkeit. Die heißen Schlicktonnia. Es waren natürlich die Nazis, die das Reych der Schlaraffen beendeten und dafür ihr tausendjähriges Reich verkündeten. Das aber nicht so lange hielt, wie es die Schlaraffenreyche schon gab - nämlich seit dem 10. Oktober 1859. Die Musiker, Sänger, Schauspieler, Literaten und Kunstfreunde, die sich da zusammenfanden, nannten sich zuerst Proletarier Club, das Schlaraffia kam später.

Es war nicht nur die Schlaraffia, die damals verboten wurde. Auch die Freimaurerloge Anker der Eintracht verlor ihr Haus in der Weserstraße. Sie wurde 1935 gezwungen, das Haus für 16.000 Reichsmark an den Heimatverein zu verkaufen, der dort das Heimatmuseum einrichtete. Sowohl die Loge Anker der Eintracht als auch die Vegesacker Schlaraffia tauchen 1933 in dem Buch Entlarvte Freimaurerei von Friedrich Hasselbacher auf, der für den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS arbeitete. Den harmlosesten Eindruck macht die Schlaraffia, in der ernsthafte Männer sich buchstäblich wie Clowns aufführen. Dies beweisen die oft geradezu wie die Geistesprodukte eines Irrsinnigen klingenden sog. Ritternamen, schreibt dieser Nazi. Aber die Schlaraffen sind natürlich nicht harmlos, für Hasselbacher ist ganz Deutschland von einem Netz von Logen überzogen, die es zu bekämpfen gilt. Band IV von Entlarvte Freimaurerei hat den schönen Titel: Der grosse Generalstabsplan der jüdisch-mosaistischen und freimaurerischen Weltverschwörung im Kampf um globale Herrschaft unter Zerstörung der Völker. Das Buch ist vom Verlag für ganzheitliche Forschung und Kultur wieder aufgelegt worden. Wenn man sich die Publikationen dieses rechtsextremen Verlags anschaut, ist man überrascht, was heute alles gedruckt werden darf.

Nach dem Krieg tagte die Freimaurerloge zuerst im Hotel Bellevue. 1968 wurde das Haus im Rahmen der Wiedergutmachung wieder rückübereignet. Heute steht wieder Logenhaus an dem 1850 im klassizistischen Stil gebauten Haus Weserstraße 7, in dem die Schlaraffia neuerdings auch ihr Reych gefunden hat. Als mein Vater mir voller Stolz das neubezogene Haus zeigte, war ich überrascht, wie sich die Museumsräume verwandelt hatten, in denen ich als Kind gespielt hatte, wenn Opa sonntags an der Kasse des Museums saß. Im obersten Stockwerk gab es eine Himmelskuppel, die aussah, als hätte Schinkel sie für die Zauberflöte entworfen. Den Rotary Club konnten die Nazis nicht verbieten, denn den gibt es im Ort erst seit 1965.

Mein Opa erzählte gerne von den Herrenabenden bei seiner Schlaraffia. Und von all den Honoratioren des Ortes, die ihr angehörten. Von dem Bürgermeister Dr Wittgenstein, dem unser Ort so viel verdankte, und den die Nazis aus dem Amt gejagt hatten. Opa ist mit ihm (und hundert anderen) auf einem Photo zu sehen, wo er einen lustigen Papierhut trägt. Lustige Papierhüte waren sonst nicht die Sache meines Großvaters. Dies ist nicht das Photo mit meinem Opa aus den zwanziger Jahren von der Sitzung des Castellum Visurgis in den Räumen des gerade durch den Architekten Becker-Sassenhof umgebauten Stadttheaters in der Gerhard Rohlfs Straße, das in den fünfziger Jahren ein Kino wurde. Das Photo habe ich leider nicht gescannt. Aber der Historiker Thomas Begerow hat mir dieses Bild geschickt, das die Vegesacker Schlaraffen in der Mitte der zwanziger Jahre zeigt. Trotz all der Erzählungen meines Opas war aber das Ganze keine Sache, die mich wirklich interessierte, für mich lebten die Schlaraffen weiterhin im Schlaraffenland. Da, wo Milch und Honig fließen. Und die Spanferkel gebraten umherlaufen.

Noch weniger interessierten mich später studentische Verbindungen. Als ich von der Uni Hamburg zur Uni Kiel wechselte, musste ich mit Erstaunen feststellen, dass da die Verbindungsstudenten ihre Farben tragen durften und mit diesen lächerlichen Bierzipfeln herumliefen. Mein Bruder war am Anfang seines Studiums für einige Semester in einer farbentragenden schlagenden Verbindung, aber nur, weil er da billig (oder war es sogar umsonst?) auf dem Haus wohnen konnte. Seine Fechtkünste oder einfaches Glück bewahrten ihn vor einem Schmiss im Gesicht. Eigentlich war er ja nur in der Verbindung, weil die eigene Segelboote besaß. Die wenigen Jahre, die mein Bruder in Corpsstudent war, haben mir einen schönen Einblick in das Innenleben eines studentischen Corps verschafft. Und nein, ich werde darüber nichts schreiben, obgleich es verlockend ist.

Das seltsamste Fest, auf dem ich je gewesen bin, ist eine Feier dieses Corps im Kieler Yachtklub gewesen. Hundertjahrfeier oder so etwas Ähnliches. Es ist eine große Gesellschaft, die Damen tragen Abendkleid und die Herren Frack oder Dinner Jacket. Die ganze Landesregierung ist da, um ihr vivat, crescat, floreat darzubringen. Und einen geziemenden Streifen zu trinken. Der ehemalige Ministerpräsident Lemke ist auch da, der war auch mal Corpsstudent. Er trägt aber heute Abend nicht seine schöne braune SA-Uniform, sondern einen Frack. Und er hat natürlich, wie es sich gehört, Schmisse im Gesicht. Das haben aber an diesem Abend beinahe alle Alten Herren. Es sind furchtbar viele Altnazis da, Schleswig Holstein ist ja in den sechziger Jahren noch voll davon. Heyde-Sawade ist nur eins von vielen Beispielen. Irgendwie wirkt das Ganze wie ein Totentanz aus einer anderen Zeit. Das nos habebit humus des Studentenliedes Gaudeamus igitur wird einem hier vor Augen geführt. Ich gehe früh nach Hause, das hier ist definitiv nicht meine Welt. In der kalten Nachtluft auf dem Weg durch den Düsternbrook kriegt man den Kopf wieder klar. Allerdings sind meine Lackschuhe mit der dünnen Sohle nicht unbedingt für den Waldweg geschaffen. Vielleicht hätte ich zu dieser Zombieveranstaltung auch nicht meinen scharfen italienischen Smoking anziehen sollen, sondern eher so etwas, was der Peter zum 65. Geburtstag seines Vaters in der Strandlust getragen hat. Keinen Stresemann oder Morning Coat, sondern einen Frack, den er sich mal zur Hochzeit hatte machen lassen, mit einem knallroten Hemd. 

Die Schlaraffia, die den Uhu als schlaraffisches Symbol für Weisheit, Humor und Tugend hat, ist natürlich nicht so bekannt wie die fünfzig Jahre jüngere gleichnamige Matratzenfirma. Deren Devise ist Hoher Anspruch - tiefer Schlaf, was ein bisschen nach der Beschreibung der Berliner Politik klingt. Als die Schlaraffia im Lethemond 1859 von einer Gruppe von Künstlern und Schauspielern in Prag gegründet wurde, hatte man als Ziel, die vornehme Gesellschaft des k.u.k. Reiches ein klein wenig zu verspotten. Man verkleidet sich als Ritter, trägt aber die phrygische Mütze, die wenig zuvor als Jakobinermütze ein Symbol der Revolution war. Und man hat eine eigene Sprache, das Schlaraffenlatein. Das eine der vielen Formen des Lateinischen ist, wie Küchenlatein oder Jägerlatein, die aber nicht für das Große Latinum ausreichen. Nicht mal für das KMK Latinum.

Das Zusammentreffen der Sassen bei einer Sippung zeigt Huizingas homo ludens in seiner schönsten Ausprägung: man will mit dem Alltag nichts zu tun haben. Gut, das sagen sich die Mitglieder eines Swingerklubs vielleicht auch, aber hier ist man auf anderem Niveau. Und außerdem sind in der Burgk keine Frauen zugelassen, dies ist ein reiner Männerverein. Der das geistvolle Gespräch sucht, wo der güldene Ball fliegt. Und wo vier Themen nicht zugelassen sind: Weltanschauung und Religion, Politik, Geschäft und Beruf sowie Schweinkram und Ferkeleien. In arte voluptas, das sind doch noch einmal Ideale! Und so rufen wir von dieser Stelle aus den Schlaraffen ein Lulu zu. Mir ist es egal, sollen sie die geistvolle Fröhlichkeit pflegen. Und meinetwegen können alle möglichen Bünde existieren, ob sie nun Papierhüte tragen, Bierzipfel oder Fräcke mit weißen Schürzen. Solange sie auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, nicht gegen das Vermummungsverbot verstoßen und die Charta der Menschenrechte und das Kyoto Protokoll unterschreiben.

Eines gibt mir allerdings zu denken, in seinem Gedicht über das Schlaraffenland dichtet Hans Sachs über die Tugenden der Schlaraffen:

Wer unnütz ist, sich nichts läßt lehren,
der kommt im Land zu großen Ehren,
und wer der Faulste wird erkannt,
derselbige ist König im Land.

Das klingt doch wirklich ein wenig nach der Bundesregierung. Vielleicht leben wir im Schlaraffenland und wissen es nur nicht.

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