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Donnerstag, 7. Februar 2013

Rudolf Lorenzen


Als Walter Kempowski kurz vor seinem Tod nach seinen literarischen Vorbildern gefragt wurde, antwortete er: Ja, da gab es ein Buch, es hieß 'Alles andere als ein Held’. Von Rudolf Lorenzen. Darin wird das erste Kriegsjahr beschrieben, und die Sprache, die war so authentisch, so anders, dass ich dachte: So müsste man schreiben. Schon Jahrzehnte vorher, gleich nach dem Erfolg von Tadellöser & Wolff,  hatte Kempowski Rudolf Lorenzen geschrieben, dass ihn der Roman Alles andere als ein Held dazu angeregt hatte, seinen eigenen Roman zu schreiben. Und dass besonders der Ton es war, der mich inspirierte, der absolut neue Ton. Der Autor Rudolf Lorenzen scheint vom Literaturbetrieb ein wenig vergessen worden zu sein (obgleich man im Internet schöne kleine Würdigungen wie die von Ambros Waibel findet). Rudolf Lorenzen ist am 5. Februar 91 Jahre alt geworden, hat aber das Schreiben noch lange nicht aufgegeben: Die Menschen machen sich alle was vor – das ist mein Thema. Ich habe vorgestern leider vergessen, ihm zu gratulieren. Das möchte ich jetzt mit einigen Zeilen nachholen. Das hier ist ein Photo von the artist as a young man aus den fünfziger Jahren, er stilisiert sich da ein wenig an James Joyce.

Seinen Geburtstag nicht vergessen hat sein Verlag, der den schönen Namen Verbrecher Verlag hat. Der postete am 5. Februar bei Facebook: Heute wird Rudolf Lorenzen 91 Jahre alt! Wir gratulieren sehr herzlich! Und möchten noch einmal unterstreichen, was Katrin Schuster sagte: 'Würde hierzulande alles mit rechten Dingen zugehen, dann müsste Lorenzen in einem Atemzug mit Martin Walser genannt werden: als dessen andere Seite der BRD-Medaillenliteratur.' Die Katrin Schuster, die hier erwähnt wird, hatte vor einem Jahr in der Frankfurter Rundschau das neueste Buch von Lorenzen besprochen.

Kempowski ist nicht der einzige, der das Buch Alles andere als ein Held gelobt hat. Sebastian Haffner urteilte 1965: Ich bin mir gar nicht sicher, ob 'Alles andere als ein Held' nicht der beste Roman irgendeines lebenden deutsch schreibenden Schrifstellers ist. Petra Kipphoff fühlte sich in der Zeit bei der Exaktheit der Beschreibung an Thomas Mann erinnert: Beinahe innerlich unbeteiligt wird die Geschichte Roberts erzählt, Stück für Stück wird ein Tag nach dem anderen in der vom Kalender vorgeschriebenen Reihenfolge beschrieben, mit einer Ausführlichkeit und Exaktheit, die an Thomas Manns längste Seiten erinnern. Sie meinte das aber nicht unbedingt positiv, wie der folgende Satz zeigt: Wenn jedoch die Bestandteile eines Badeanzuges und die von Schweinehack mit derselben Genauigkeit beschrieben werden, dann heißt das jene Gerechtigkeit, der alles gleich wichtig oder gleich unwichtig ist, weit treiben.

Einen Bezug zu Thomas Mann sah auch das Bücherblatt in Zürich: Lorenzen hat einen Zeitroman geschrieben, der zum Besten gehört, was die Deutschen in der Nachkriegszeit hervorgebracht haben. Von seinem Werk zu den 'Buddenbrooks' führt eine gerade Linie, wobei Lorenzen den Vergleich nicht zu scheuen braucht. Friedrich Sieburg, Feuilletonchef der FAZ, überschrieb seine Rezension mit Die Banalität als Kunstmittel: In diesem Roman wird der Versuch unternommen, ein ganz banales Leben ohne die geringsten Farben und Effekte, ohne das leiseste Raffinement der Sprache zu erzählen. Er lobte, dass der Autor diesen Ton trister Teilnahmslosigkeit im Roman ohne Höhepunkte und Explosionen durchgehalten hätte. Ja, Ja, so ist es! Ruft man dauernd aus, genauso! Schauderhaft! Wunderbar! notierte Haffner über den autobiographischen Bremen-Roman, der Krieg und Nachkriegszeit (und die Wiederaufrüstung) nüchtern beschreibt.

Dem Lob dieser Literaturkritiker konnten sich die Bremer Zeitungen bei dem Roman des in Bremen aufgewachsenen Autors nicht anschließen. Die konservativen Bremer Nachrichten äußerten ihren Ekel gegen die miserable, undiskutierbare Lebensschilderung eines Jammerkerls, der um sich die Namen bremischer Tradition versammelt, ohne dass je von hanseatischer Würde die Rede ist. Dagegen liest man in der Rezension von Paul Müller im St. Galler Tageblatt: Durch diesen Roman weht hanseatisch unterkühlte Weltluft und urbane Menschlichkeit eines deutschen Schriftstellers, der zur deutschen Geschichte ein Verhältnis gefunden hat, in dem es sich leben und atmen läßt.

Ekel in Bremen, hanseatisch unterkühlte Weltluft in St. Gallen. Die Rezension der Bremer Nachrichten klingt ein wenig wie aus einer anderen Zeit. Was in Bremen leider nicht so sehr verwundert. Wo ein Drehbuchautor von Nazipropagandafilmen Chefredakteur des Weser Kurier wird und der leitende Kulturbeamte Bremens Dr Eberhard Lutze heißt. Die größte Leistung dieses Kunsthistorikers war es, den Veit Stoß Altar in Krakau (da wo er überall die Verpolung und Verjudung zu beklagen hat) abzubauen und in den geplanten Staatsdom der Stadt der Reichsparteitage zu überführen. Der Spiegel holt 1968, als Lutze den Vertrag des Theaterchefs Kurt Hübner nicht verlängern will, noch einmal die ganze Nazivergangenheit von Lutze heraus, aber das interessiert in Bremen nicht. Dieser Mann, der in seiner Entnazifizierungsakte als an sich schwacher Charakter, der sich der Macht anschließt, um Geltung zu bekommen beschrieben wurde, bestimmt zwanzig Jahre lang die offizielle Bremer Kultur. Das ist dann wahrscheinlich die hanseatischer Würde, von der die Bremer Nachrichten schwärmte.

Im notorisch unzuverlässigen Großen Bremen Lexikon von Herbert Schwarzwälder wird der Autor Rudolf Lorenzen natürlich nicht erwähnt. Nein, in Bremen mochte man diese Art der Bremensie nicht. Da liest man lieber Der lachende Roland von Karl Lerbs. Es war das Unglück von Lorenzen, dass sein Roman gleichzeitig mit der Blechtrommel von Günter Grass und Bölls Billard um halb zehn auf den Markt kam. Es war sicher auch sein Unglück, dass er die Einladungen der Gruppe 47 abgelehnt hatte. Der Einzelgänger mochte diese Autoren nicht, die jetzt als Kollektiv den Ton angaben. Irgendwie scheint ihm die Gruppe 47 die Missachtung übel genommen zu haben. So erinnert sich Lorenzen, dass in einer Berliner Buchhandlung der Roman aus der Auslage entfernt wurde, als die Gruppe in Berlin tagte. Im Vorwort zu der Neuauflage von 1982 schrieb Lorenzen mit einer gewissen Verbitterung: dem deutschen Leser wurde durch die Totschweigepraktiken der Gruppe 47 dieses Buch vorenthalten.

Alles andere als ein Held (hier eine holländische Ausgabe mit einem seitenverkehrten Photo) passte 1959 nicht so ganz in das Wirtschaftswunder und den beharrlichen Wunsch, alles Schreckliche zu vergessen und alle Schuld zu verdrängen. Der Roman besticht durch die realistische Beschreibung des Lebens in Bremen von 1933 bis in den Anfang der fünfziger Jahre, vielleicht ist es zu realistisch. Robert Mohnwinkel, der Antiheld des Romans, ist kein Held. Eher eine Art Schlemihl, der mit Teilnahmslosigkeit und Gewitztheit das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg übersteht. Der wie der Abbé Sièyes, als man ihn fragt, wie er den terreur überlebt habe, sagen kann J’ai survécu. Er ist sicherlich ein moderner Held. Hans Daiber, der damals bei Radio Bremen arbeitete, sah hier einen im Leben unterdrückten und in der Literatur vernachlässigten Menschentyp. Keiner der Rezensenten (der Ullstein Band von 1982 enthält auf den Seiten 349-352 die wichtigsten Rezensionen) sah eine Parallele zu dem existentialistischen Roman der Franzosen. Dabei könnte man diesen Robert Mohnwinkel durchaus einen existentialistischen Helden nennen, der ähnlich wie Meursault in Camus' L'étranger durch das Leben treibt.

Es ist das Schicksal des Romans Alles andere als ein Held, dass er 1959 schnell vergriffen war. Als Haffner ihn 1965 lobte, war das Buch schon nicht mehr auf dem Markt. Es wurde erst 1982 (in einer vom Autor neu bearbeiteten Fassung) wieder neu aufgelegt. Die letzten Sätze des Vorworts lauteten: Möge der Leser von einst den Roman neu entdecken, und möge der neue Leser eine frühere Zeit entdecken, die nur scheinbar vergangen ist. Möge man 'Alles andere als ein Held' aufnehmen als eine Anleitung zum Widerstand gegen jede Art der Bedrohung, als ein Versprechen aber auch für eine Hoffnung - auch wenn nur auf ein 'kleines Glück'. Zwanzig Jahre später - zum achtzigsten Geburtstag des Autors - wurde der Roman noch einmal aufgelegt. Diesmal nahm die literarische Welt Notiz, die FAZ nannte Lorenzen einen Erzähler von europäischem Rang. Der Roman schaffte es sogar auf die SWR-Bestenliste. Inzwischen gibt es Alles andere als ein Held  (vom Autor nochmals durchgesehen und mit einem neuen Nachwort versehen) beim Verbrecher Verlag im Rahmen einer Lorenzen Werkausgabe wieder zu kaufen. Es sollte vielleicht angefügt werden, dass der Autor trotz des wechselhaften Erfolgs seines Romanerstlings keine Not gelitten hat. Er ist ein erfolgreicher Journalist geworden und hat in manchen Kreisen immer Kultstatus gehabt - allerdings nicht in Bremen und nicht wegen dieser Bremensie.

Obgleich er seit mehr als einem halben Jahrhundert in Berlin wohnt, hat er seine Heimatstadt Bremen nicht ganz vergessen. So ist er mit einem Beitrag über den Kustos in der Bremer Kunsthalle Dr Horst Keller in einem Buch vertreten, das Bremenbuch heißt. Und das  natürlich wieder im Verbrecher Verlag erschienen ist. Mein Exemplar von Alles andere als ein Held hat mir meine Freundin Heidi vor Jahrzehnten geschenkt. Lag ein Zettel drin, mit grüner Tinte beschrieben, mittels dessen ich genötigt wurde, dieses Buch unbedingt zu lesen. Damit ich mal wegkäme von dieser Bremen-Literatur wie Sommer in Lesmona und Friedo Lampe. Man soll schönen Frauen nicht widersprechen. Und so habe ich Rudolf Lorenzen für mich entdeckt. Über Sommer in Lesmona habe ich in diesem Blog schon geschrieben, über Friedo Lampe auch. Über das Buch Die Pöhlands im Krieg: Briefe einer Arbeiterfamilie aus dem Ersten Weltkrieg (auch ein Geschenk von Heidi) könnte ich noch einmal schreiben. Ich habe das Buch damals subversiv am Ende des Posts über Ernst Jünger erwähnt. Ich habe allerdings auch schon den beinahe vergessenen Konrad Weichberger hier vorgestellt. Jetzt also Rudolf Lorenzen. Damit der sieht, dass er wenigstens einen Fan hat, der aus Bremen kommt. Auch wenn der mit seinen Glückwünschen ein paar Tage zu spät kommt.

Wenn die Bremer Stil gehabt hätten, dann hätten sie Rudolf Lorenzen den Bremer Literaturpreis verliehen. Aber als Alles andere als ein Held erscheintbestimmt ein Nazi wie Eberhard Lutze die Leitlinien der Kultur in Bremen. Und später? Wenn ich jetzt fies wäre, dann würde ich sagen, dass Bremens Beitrag zur Kultur mein Schulkamerad Bernd Neumann ist. Vor über hundert Jahren wollte ein kleiner elitärer Kreis namens Die goldene Wolke das geistige Niveau der Gesellschaft heben. Gut, daraus sind Bücher wie Sommer in Lesmona und Die goldene Wolke: Eine verklungene Bremer Melodie entstanden. Da träumen die Bremer immer noch von.

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