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Dienstag, 28. August 2018

Buchgespenster


Martin Mader, der Besitzer der Buchandlung Otto und Sohn in meinem Heimatort Vegesack, hat ein Gespenst im Laden. Es heißt Booky und ist das weltweit einzige Buchgespenst. Sie können es hier auf YouTube sehen. Booky soll Kinder zum Lesen bringen, und das mit den vier Booky und Martin Filmchen ist natürlich geschickt gemacht: ein Anreiz zum Lesen für Kinder und eine Werbung für die 90 Jahre alte Buchhandlung.

Es muss etwas geschehen, fast jeder fünfte Viertklässler kann nicht lesen, das ist seit Jahren schon so, und es wird nicht besser. Deutschland liegt interntional irgendwo im Mittelfeld. Ein Volk der Dichter und der Denker sind wir auf keinen Fall mehr, wenn wir das je waren. Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie hat gerade eine Hamburger Erklärung initiiert, in der Hoffnung, dass etwas besser wird. Am 20. September, dem Weltkindertag, sollen die gesammelten Unterschriften den Kultusministern der Länder übergeben werden.

Was soll werden, wenn die Lesefähigkeit sinkt und sinkt? Mit einem Smartphone oder einem Tablet können auch schon Kinder umgehen, mit einem Roman nicht. Und wenn sie der bunten Glitzerwelt der tausend Apps verfallen, verpassen sie das Schönste im Leben: Das Schönste, was wir gelesen haben, verdanken wir meistens einem uns teuren Menschen. Und mit einem uns teueren Menschen werden wir zuerst über die Lektüre sprechen. Vielleicht eben weil das Charakteristische des Gefühls – wie des Wunsches zu lesen – darin besteht, vorzuziehen. Lieben heißt letztendlich, denen, die wir vorziehen, das zu schenken, was wir vorziehen. Und dieses Teilen macht die Zitadelle unserer Freiheit aus.

Das ist nicht von mir, das ist von dem Franzosen Daniel Pennac, steht in seinem Buch Wie ein Roman. Friedhard hatte es mir geliehen, aber ich habe es mir sofort gekauft, kaum dass ich es zuende gelesen hatte. Es ist ein schönes Buch, das dem Leser auch Rechte zugesteht: 1. Das Recht, nicht zu lesen. 2. Das Recht, Seiten zu überblättern. 3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen. 4. Das Recht, noch einmal zu lesen. 5. Das Recht, irgendwas zu lesen. 6. Das Recht auf Bovarysmus [dh den Roman als das Leben zu sehen]. 7. Das Recht, überall zu lesen 8. Das Recht herumzuschmökern. 9. Das Recht, laut zu lesen. 10. Das Recht zu schweigen. Das ist wichtig: Das Schweigen ist der Garant für unser intimes Verhältnis zum Buch. Es ist ausgelesen, aber wir sind noch drin. Das bloße Zurückdenken daran ist eine Ausflucht für unsere Ausflüchte. Es bewahrt uns vor der großen Außenwelt. Es bietet uns eine Beobachtungswarte weit oberhalb der zufälligen Szenerien. Wir haben gelesen und wir schweigen. Wir schweigen, weil wir gelesen haben.

Martin Mader hat es geschafft, sich mit seiner Buchhandlung nicht nach unten ziehen zu lassen, dahin, wohin der kleine Ort Vegesack tendiert. Mader hat keine Konkurrenz mehr, Doris Otto hat die von ihrem Mann 1955 gegründete Buchhandlung Conrad Claus Otto vor wenigen Jahren geschlossen. Sie hatte ihren Mann bei den Proben zu Hindemiths Oper Die Harmonie der Welt kennengelernt (lesen Sie hier mehr dazu) und nach seinem Tod 2007 die Buchhandlung allein weitergeführt. Ich habe der kleinen avantgardistischen Buchhandlung schon in dem Post Catch-22 ein kleines Denkmal gesetzt. Buchhandlungen vor dem Aus, Kettenläden und Amazon geben den Ton an. In den Antiquariaten ist es nicht anders. Früher war die halbe Uni bei Eschenburg zu finden, heute scheint an der Uni niemand mehr zu lesen.

Schulen werden mit Computern ausgestattet, angeblich kann man heute nur noch mit Computern lernen. Man kann das ohne Computer. Wichtiger wäre es, Schulbibliotheken aufzubauen. Lehrerbibliotheken gibt es meist, meine Schule hatte eine eindrucksvolle Sammlung der deutschen Literatur, die ich benutzen durfte. Unser Deutschlehrer Pedro Ziegert brachte uns in der Mittelstufe dazu, eine Klassenbibliothek aufzubauen. Zu der ich damals Alain-Fourniers Der große Kamerad beisteuerte. Wer liest dieses schöne Buch heute noch?

Auf dem IPhone von Apple kann man Books anklicken, aber das tun wir nicht. Wir wollen richtige Bücher in der Hand halten. Das einzige bunte Feld, das wir benutzen, ist unten links das grüne Feld mit dem weißen Telephon darin. Damit kann man telephonieren, für mehr brauchen wir ein Smartphone nicht. Ich klicke auf kein anderes Symbol. Für die Situation, die die Hamburger Erklärung beklagt, weiß ich auch keine Lösung, man kann das Lesen nicht befehlen: Das Verb "lesen" duldet keinen Imperativ. Eine Abneigung, die es mit ein paar anderen teilt: dem Verb "lieben", dem Verb "träumen"... Man kann es natürlich trotzdem versuchen. Probieren Sie es mal: "Liebe mich!" "Träume!" "Lies! Jetzt lies doch, zum Teufel, ich befehle dir zu lesen!" "Geh in dein Zimmer und lies!" Ergebnis? Null. Er ist über seinem Buch eingeschlafen. So beginnt Daniel Pennac sein Buch über das Lesen.

Wenn man lesen kann, dann sollte man das auch tun, man kann seine Lesefähigkeit ständig verbessern. Und das tut man nur mit dem Lesen. Immer wieder. Bücher lesen heißt, wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben, über die Sterne, hat Jean Paul gesagt. Und er hat ja so recht. Und wenn uns das nicht genügt, dann kann ich noch Proust zitieren: Vielleicht haben wir von allen Kindheitstagen diejenigen am intensivsten durchlebt, von denen wir glaubten, wir hätten sie nutzlos vertan: die nämlich, die wir mit der Lektüre eines Lieblingsbuches verbrachten.


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