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Montag, 25. April 2022

Retouren

Ich hatte bei einem ebay Händler dieses Hemd für fünf Euro ersteigert, ein blasses Pink, Kragen und Manschetten mit einem Paisley Muster unterlegt. Das Hemd hieß Curtis, was eine modische Nebenlinie der Firma Hawes & Curtis ist. Die über hundert Jahre alte Firma war in den zwanziger Jahren der Schneider des Prince of Wales. Also des Prinzen, der seinen Thron aufgeben wird. Und Cary Grant, Clark Gable, Bing Crosby, Lord Mountbatten, Frank Sinatra und Fred Astaire waren einmal Kunden von Hawes & Curtis. Heute ist das mit der Firma, die seit Jahren eine Filiale in Köln hat, nicht mehr so toll. Das Hemd kam an, war aber das falsche, drei Nummern zu klein, anderes Muster. Dem Händler war das schrecklich peinlich, er hat sich entschuldigt und geschrieben, ich brauche das Hemd nicht zurückzusenden, ich könne es verschenken. Rücksendungen sind Ressourcenverschwendung stand in der Mail, und das ist wahr.

Das ist nur vernünftig, und es steht in völligem Gegensatz zu einem Riesen im Second Hand Geschäft, bei dem die Rücksendungen zum Geschäftsmodell gehören. Die Firma heißt Momox Fashion, hieß vorher Ubup (used but precious): sie hat noch einen Zwillingsbruder, der Medimops heißt. Medimops handelt mit Büchern und CDs, es gibt bei den Angeboten nur die Beschreibung des Zustands. Sonst nix. Keine Auflistung der Stücke auf der CD. Keine Angaben über die Seitenzahlen des Buches oder zur Auflage. Alles, was einem Antiquariat heilig ist, nämlich die genaue Beschreibung des Gegenstandes, fällt bei ihnen weg. Das ist bei Momox für die Klamotten nicht anders. Bei Oberhemden findet man nur die Kragengröße, was überhaupt nichts über die Größe des Hemdes aussagt. 

Wenn man danach fragt, bekommt man Sätze wie diesen zu hören: Dass Sie ergänzende Angaben zu dem gewünschten Artikel erfragen, können wir absolut nachvollziehen. Momentan können wir Ihnen nur die Informationen mitteilen, die Sie in der Artikelbeschreibung vorfinden. Und warum auch genaue Angaben, es kommt ja portofrei und man kann es ja kostenlos zurückschicken: Entspricht ein Artikel nicht deinen Vorstellungen, nehmen wir ihn innerhalb von 30 Tagen zurück. Der Rückversand ist innerhalb Deutschlands ebenfalls kostenlos. Bitte nutze dazu unser Retourenportal. Der Satz Rücksendungen sind Ressourcenverschwendung ist bei ihnen noch nicht angekommen. Die Firma bekommt im Internet auch vernichtende Kritiken. Momox wirbt mit einem angeworbenem Model und dem Wort nachhaltig. Aber nachhaltig ist bei dem Geschäftsmodell, das von Retouren lebt, gar nichts.  

Der Händler, der mir das falsche Hemd geschickt hatte, sandte drei Tage später das richtige, blaßrosa, mit viereckigen rosa Knöpfen und Paisley Muster. Und das Hemd bringt mich zu meinem heutigen Gedicht, das einfach Shirt heißt. Es ist von Robert Pinsky, einem in Amerika berühmten Dichter. Er war einmal Poet Laureate, hat viele Preise bekommen und den Ehrendoktor von einem halben Dutzend Universitäten. In Deutschland ist er erstaunlicherweise so gut wie unbekannt. 

Pinskys Gedicht Shirt, das 1989 im New Yorker erschien, handelt von den anonymen Näherinnen, die weltweit Hemden nähen. Es hat etwas mit Thomas Hoods Gedicht Song to the Shirt zu tun, das 145 Jahre früher erschien, es geht letztlich um die Ausbeutung von Frauen. Hawes & Curtis Hemden werden nicht mehr in der Jermyn Street genäht, sie kommen aus der Türkei. Und das hat einen einfachen Grund; die türkische Fabrik gehört Touker Suleyman (Bild), der vor zwanzig Jahren die bankrotte Firma Hawes & Curtis gekauft hatte. So bleibt das alles sozusagen in der Familie.

Das Gedicht Shirt fängt harmlos an, mit den Einzelteilen eines Hemds (the back, the yoke, the yardage. lapped seams), kommt dann zu den Näherinnen, die sich in einer Pause unterhalten (Koreans or Malaysians gossiping over tea and noodles on their break), aber dann kommt es, das Schreckliche: junge Mädchen stürzen sich aus dem neunten Stock eines Hochhauses in den Tod. Geht hier die Phantasie des Dichters durch? Nein, the infamous blaze at the Triangle Factory in nineteen-eleven, das hat es gegeben. Eine Katastrophe, bei der mehr als hundertzwanzig ganz junge Mädchen in den Flammen umkamen oder in den Tod sprangen. Aber der Brand der Triangle Shirtwaist Factory wiederholt sich immer wieder auf der Welt. Hundert Jahre nach der Katastrophe in New York haben wir den Brand der Ali Enterprises in Pakistan, das Tazreen Fashions Feuer in Bangladesch (wo auch C&A produzieren ließ) und den Einsturz des Rana Plaza Building in Bangladesch. Was wir am Körper tragen, ist einen langen Weg gegangen, häufig einmal um die Welt. Unter welchen Bedingungen es enstanden ist, wissen wir selten. Und damit sind wir beim Thema des Gedichts Shirt:

The back, the yoke, the yardage. Lapped seams,
The nearly invisible stitches along the collar
Turned in a sweatshop by Koreans or Malaysians

Gossiping over tea and noodles on their break
Or talking money or politics while one fitted
This armpiece with its overseam to the band

Of cuff I button at my wrist. The presser, the cutter,
The wringer, the mangle. The needle, the union,
The treadle, the bobbin. The code. The infamous blaze

At the Triangle Factory in nineteen-eleven.
One hundred and forty-six died in the flames
On the ninth floor, no hydrants, no fire escapes—

The witness in a building across the street
Who watched how a young man helped a girl to step
Up to the windowsill, then held her out

Away from the masonry wall and let her drop.
And then another. As if he were helping them up
To enter a streetcar, and not eternity.

A third before he dropped her put her arms
Around his neck and kissed him. Then he held
Her into space, and dropped her. Almost at once

He stepped to the sill himself, his jacket flared
And fluttered up from his shirt as he came down,
Air filling up the legs of his gray trousers—

Like Hart Crane’s Bedlamite, “shrill shirt ballooning.”
Wonderful how the pattern matches perfectly
Across the placket and over the twin bar-tacked

Corners of both pockets, like a strict rhyme
Or a major chord. Prints, plaids, checks,
Houndstooth, Tattersall, Madras. The clan tartans

Invented by mill-owners inspired by the hoax of Ossian,
To control their savage Scottish workers, tamed
By a fabricated heraldry: MacGregor,

Bailey, MacMartin. The kilt, devised for workers
To wear among the dusty clattering looms.
Weavers, carders, spinners. The loader,

The docker, the navvy. The planter, the picker, the sorter
Sweating at her machine in a litter of cotton
As slaves in calico headrags sweated in fields:

George Herbert, your descendant is a Black
Lady in South Carolina, her name is Irma
And she inspected my shirt. Its color and fit

And feel and its clean smell have satisfied
Both her and me. We have culled its cost and quality
Down to the buttons of simulated bone,

The buttonholes, the sizing, the facing, the characters
Printed in black on neckband and tail. The shape,
The label, the labor, the color, the shade. The shirt.

Es gibt im Internet Interpretationshilfen, um das Gedicht besser zu verstehen, hier ist eine davon. Und dann habe ich hier noch ein Interview mit Robert Pinsky, in dem man sehr viel über das Gedicht erfährt. Ein Jahr nach der Katastrophe von 1911 gab es The Crime of Carelessness im Kino zu sehen, produziert von der Thomas A. Edison Incorporation. Und bezahlt vom Verband der Unternehmer. 1950 hat Jack Armold, der ansonsten auf SF Filme und Horror spezialisiert war, den Film With These Hands gedreht. Der Dokumentarfilm war eigentlich nur für die Mitglieder der International Ladies' Garment Workers' Union gedreht worden, wurde aber trotzdem für einen Oscar nominiert; die Brandkatastrophe kommt allerdings nur randständig in dem Film vor. 1979 erschien das Ganze mit dem Triangle Factory Scandal als Spielfilm, aber den Schrecken der Wirklichkeit gibt das alles kaum wieder.

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