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Freitag, 10. März 2023

Aubade


Wenn man alt ist, also so richtig alt, dann sind Geburtstage ziemlich anstrengend. Vierzig E-Mails, zwölf Anrufe, einer aus den USA. Besuch am Nachmittag, Gäste am Abend. Viele Erzählungen aus dem langen Leben, Vergangenheit satt. Man braucht Tage, um sich davon zu erholen. Aber, wie Philip Larkin schreibt: Wozu gibt’s Tage?Tage sind, wo wir leben. Sie kommen, wecken uns Immer und immer wieder. Sie sind da, in ihnen glücklich zu sein. Wo sonst sollten wir leben? Sollte ich etwas schreiben? Das erste, das mir am nächsten Tag einfiel, war, dass ich immer schon einmal über das Gedicht Aubade von Philip Larkin schreiben wollte. Das hatte ich letztens wieder gelesen, als ich den Nachruf für meinen Freund Volker schrieb. Es ist in dem Band Luftfracht enthalten, den Volker mir geschenkt hatte. Wenn man es gelesen hat, geht es einem nicht aus dem Kopf. Nie wieder. Das ist bei vielen Gedichten von Larkin so. Als ich das Wort Aubade bei Google eingab, bekam ich dies hier. Eine Firma für Damenunterwäsche hat sich diesen Namen angeignet. Und man muss zwischen den Dessous lange suchen, um zu finden, dass eine Aubade ein Morgenlied ist. Ein Wort, das vom französischen aube, die Morgendämmerung, kommt. Ich lasse mal die lingerie beiseite und fange mit Larkins Gedicht an:

I work all day, and get half-drunk at night.
Waking at four to soundless dark, I stare.
In time the curtain-edges will grow light.
Till then I see what's really always there:
Unresting death, a whole day nearer now,
Making all thought impossible but how
And where and when I shall myself die.
Arid interrogation: yet the dread
Of dying, and being dead,
Flashes afresh to hold and horrify.

The mind blanks at the glare. Not in remorse
- The good not done, the love not given, time
Torn off unused - nor wretchedly because
An only life can take so long to climb
Clear of its wrong beginnings, and may never;
But at the total emptiness for ever,
The sure extinction that we travel to
And shall be lost in always. Not to be here,
Not to be anywhere,
And soon; nothing more terrible, nothing more true.

This is a special way of being afraid
No trick dispels. Religion used to try,
That vast, moth-eaten musical brocade
Created to pretend we never die,
And specious stuff that says No rational being
Can fear a thing it will not feel, not seeing
That this is what we fear - no sight, no sound,
No touch or taste or smell, nothing to think with,
Nothing to love or link with,
The anasthetic from which none come round.

And so it stays just on the edge of vision,
A small, unfocused blur, a standing chill
That slows each impulse down to indecision.
Most things may never happen: this one will,
And realisation of it rages out
In furnace-fear when we are caught without
People or drink. Courage is no good:
It means not scaring others. Being brave
Lets no one off the grave.
Death is no different whined at than withstood.

Slowly light strengthens, and the room takes shape.
It stands plain as a wardrobe, what we know,
Have always known, know that we can't escape,
Yet can't accept. One side will have to go.
Meanwhile telephones crouch, getting ready to ring
In locked-up offices, and all the uncaring
Intricate rented world begins to rouse.
The sky is white as clay, with no sun.
Work has to be done.
Postmen like doctors go from house to house

Die Übersetzung in dem Band Luftfracht erschien zuerst 1990 in der Zeitschrift Merkur, sie ist von dem Dichter Harald Hartung, der damals auch einen hervorragenden → Essay zu Larkin geschrieben hat. Es war nicht die erste Übersetzung von Larkins Gedicht. Die erschien 1978, ein Jahr nach der englischen Publikation des Gedichts, in ensemble 9: Lyrik, Prosa, Essay. Herausgegeben von Clemens Graf Podewils und Heinz Piontek im Auftrag der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Dort sind die Gedichte von Larkin von dem Anglisten Helmut Winter übersetzt. Es gibt noch eine Übersetzung von Ulrich Horstmann, die in dem Band Nachwelt: Die besten Gedichte erschienen ist. Und dann gibt es noch diese Luxusausgabe (111 nummerierte und vom Künstler signierte Exemplare) mit der Übersetzung von Richard Glabotki mit sieben Illustrationen von Max Perna, zwei Namen, die ich noch nie gehört habe. Obgleich es so viele Übersetzungen gibt, ist leider keine davon im Internet.

Das Gedicht Aubade ist eins von Larkin letzten Gedichten. Es ist, auch wenn es vom Tod handelt, für Larkin eigentlich ein positives Gedicht: Work has to be done. Postmen like doctors go from house to house. Die Unausweichbarkeit von Alter und Tod sind ein ständiges Thema bei Larkin. Wie zum Beispiel in Dockery and Son: Erst ist das Leben Langeweile, dann kommt die Angst. / Und es vergeht, ob wir es nützen oder nicht, / es hinterläßt, was unbekannt uns zugedacht, / das Alter auch und dann sein einzig Ende. Aber was wollen wir erwarten von einem Dichter, der gesagt hat: Deprivation is to me what daffodils were to Wordsworth? Und der in This be the Verse diese wunderbaren Zeilen schreibt: They mess you up, your mum and dad./ They may not mean to, but they do./ They fill you with the faults they had/ And add some extra, just for you. Das Gedicht ist gerade aus den Lehrplänen der englischen Schulen der Sekundarstufe gestrichen worden.

Larkins Werk ist überschaubar, wenige schmale Bände, insgesamt zweihundertviertig Seiten sind es in den Collected Poems. Mehr kann man wohl nicht schreiben, wenn man davon überzeugt ist, dass Deprivation is to me what daffodils were to Wordsworth. Larkin hat sein Festhalten an einer Wahrheit der Lyrik ohne Romantik einmal in einem Interview so begründet: Ich glaube, ich versuche immer, die Wahrheit zu schreiben, und würde kein Gedicht schreiben wollen, das nahelegte, daß ich ein anderer bin als der, der ich bin ... Nehmen Sie zum Beispiel Liebesgedichte. Ich würde es als falsch empfinden, ein Gedicht zu schreiben, das vor Liebe für irgend jemand überschäumt, wenn man nicht gleichzeitig die angedichtete Person heiratet und mit ihr einen Hausstand gründet. Michael Hamburger hat sein Buch über die moderne Lyrik The Truth of Poetry genannt, er zitiert Larkin natürlich, der hier von dieser truth of poetry spricht.

Larkins Kollege Seamus Heaney hat über ihn gesagt: Müßte Philip Larkin je seine Version der Göttlichen Komödie schreiben, würde er sich vermutlich nicht in einem dunklen Wald befinden, sondern in einem Eisenbahntunnel halbwegs auf einer Reise durch England. Das Gedicht Aubade war für Heaney ein Verrat an der Lyrik: The poem does not hold the lyre up in the face of the gods of the underworld; it does not make the Orphic effort to haul life back up the slope against all odds. Er sei dissatisfied and indignant gewesen, als er das Gedicht las. Wirklich? An dem Abend, als ich ein Guinness mit ihm trank, zeigte er nichts davon, und wir hatten uns über Larkin unterhalten. Vielleicht hat es ihm nicht gefallen, dass Larkin, dessen Werk voll von Nihilismus ist, der beliebteste englische Dichter war. 

Aber das Gedicht Aubade hat doch manchen verstört. Zum Beispiel den polnischen  Nobelpreisträger Czesław Miłosz, der das Gedicht Against the Poetry of Philip Larkin schrieb:

I learned to live with my despair,
And suddenly Philip Larkin’s there, 
Explaining why all life is hateful.
I don’t see why I should be grateful.
It’s hard enough to draw a breath 
Without his hectoring about nothingness.

My dear Larkin, I understand 
that death will not miss anyone. 
But this is not a decent theme 
For either an elegy or an ode.

Gegen die Poesie von Philip Larkin 

Ich habe gelernt mit meiner Verzweiflung zu leben.
Und plötzlich ist da jemand, der ungebeten
In Gedichten die Gründe für Verzweiflung aufzählt.
Soll ich dankbar sein? Ich wüßte nicht wofür.
Das Bewußtsein hat verschiedene Niveaus,
Und wer mich mit dem Tod erschreckt, stößt mich hinab auf ein tieferes.

Du trauriger Larkin, auch ich weiß vom Tod,
Der ständig allen Lebendigen droht,
Doch passend ist dieses Thema nie −
In keiner Ode und in keiner Elegie.



Sie können das Gedicht (von Larkin selbst gelesen) hier hören. Und im Blog gibt es noch die Posts Philip Larkin und Philip Larkins Rasenmäher

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