Der amerikanische Philosoph und Schriftsteller George Santayana wurde heute vor hundertsechzig Jahren in Madrid geboren. Da hatte er noch den Namen Jorge Augustín Nicolás Ruiz de Santayana. Als seine Eltern 1872 mit dem kleinen Jorge in die USA auswanderten, vereinfachten sie seinen Namen in George Santayana. Unter dem Namen wird er in Harvard und Berlin Philosophie studieren und Professor in Harvard werden. Ich dachte, ich hätte längst über ihn geschrieben. Ich habe nachgeguckt: nichts über Santayana, nichts über seinen Roman The last Puritan: A Memoir in the Form of a Novel. Ich hätte eigentlich gedacht, dass hier irgendwo etwas dazu stehen würde, denn ich habe den Roman gelesen, alle tausend Seiten. Offenbar hat das bei mir keine Spuren hinterlassen.
The last Puritan ist ein Bildungsroman, ein Genre, das wir in Deutschland seit Goethes Wilhelm Meister immer geschätzt haben. Deshalb war der lange Roman auch gleich nach seinem Erscheinen ins Deutsche übersetzt worden. Er war natürlich auch übersetzt worden, weil Santayana damals eine Berühmtheit war. 1936 zierte sein Bild schon das Time Magazine, es ist selten, dass man Philosophen an dieser Stelle sieht. Sein Roman war in dem Jahr in den USA ein Bestseller gewesen, dessen Verkaufszahlen nur von Gone with the Wind übertroffen wurden. The Last Puritan erschien 1935 bei C.H. Beck unter dem Titel →Der letzte Puritaner: Die Geschichte eines tragischen Lebens (hier im Volltext). Übersetzt war das Buch von zwei Frauen, Luise Laporte und Gertrud Grote. Luise Laporte (1900 - 1953) war freie Lektorin der Verlage C. H. Beck und Biederstein (einer Verlagstochter von Beck). Gertrud Maud Grote war die Gattin des Kunsthistorikers Ludwig Grote, beide Damen kamen aus der gebildeten bürgerlichen Schicht, aus der auch Santayana kam. Er hat das the genteel tradition genannt Der Bruder von Henry James hatte ihn zur Philosophie gebracht, und mit Henry James hat der Stil des Schriftstellers Santayana viel gemein. Man hat ihn einen Dichterphilosophen genannt, einen Meister der Aphorismen und Aperçus. Das Internet ist voll davon, aber liest man zuviele davon, dann werden die Aperçus zu Plattitüden.
1912 hatte er eine Erbschaft gemacht, das Geld kam von seiner Mutter, der einzigen Frau in seinem Leben. Er hat Amerika verlassen, um nach Europa zu ziehen, die Professur in Harvard erschien ihm nicht so wichtig. Und die genteel tradition, aus der er kam, kritisierte er nun scharf. Die deutsche Philosophie und speziell Nietzsche nahm er in Egotism in German Philosophy auseinander. Der amerikanische Puritanismus der gefühlskalten Bostoner Gesellschaft, unter dem der spanische Aristokrat litt, wird das Thema seines einzigen Romans sein. Zuerst lebte er einige Jahre in Paris, dann in Oxford, er reiste auch häufig in seine spanische Heimat zurück. Seit 1925 lebte er in Rom, dort wird er auch The Last Puritan schreiben. Mussolini und den aufkommenden italienischen Faschismus hat er begrüßt. Santayana war ebenso antisemitisch wie sein Freund Ezra Pound. Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Sein Satz Wer die Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie neu zu durchleben, steht am Eingang des Blocks 4 im KZ Auschwitz. Irgendwie passt das auch nicht.
Die letzten Jahre seines Lebens lebte er in dem katholischen Pflegeheim Kloster der blauen Nonnen in Rom. Dort hatte er seit 1941 ein Einzelzimmer, dort schrieb er seine dreibändige Autobiographie →Persons and Places (hier im Volltext). Obgleich er sich katholisch gab, war und blieb er Atheist, einen katholischen Atheisten hat man ihn genannt: Du und ich, wir haben den ungeheuren Vorteil der katholischen Tradition. Wir sind schon mit der Klarheit auf die Welt gekommen und brauchen daher nicht nach Klarheit zu streben. Aber das gewohnte Licht unseres Alltags macht uns vielleicht blind für das, was im Dunkel vor sich geht; die Wurzeln aller Dinge liegen unter dem Erdboden. Möglicherweise lassen wir uns von dem blauen Himmel betrügen und sind törichte Astronomen, indem wir Beobachtungen bei Tageslicht anstellen wollen. Das steht am Anfang von The Last Puritan. In seinem Testament bestimmte er, dass er nicht in geweihtem Boden beerdigt werden wolle.
1946 hatte der Dichter Robert Lowell dem Philosophen seinen zweiten Gedichtband Lord Weary’s Castle zugesandt, daraus wurde eine Brieffreundschaft für die nächsten sechs Jahre. Als Santayana im Alter von neunundachtzig Jahren starb, schrieb Lowell ein Gedicht über ihn:
For George Santayana (1863-1952)
In the heydays of ‘forty-five,
bus-loads of souvenir-deranged
G.I.’s and officer-professors of philosophy
came crashing through your cell,
puzzled to find you still alive,
free-thinking Catholic infidel,
stray spirit, who’d found
the Church too good to be believed.
Later I used to dawdle
past Circus and Mithraic Temple
to Santo Stefano grown paper-thin
like you from waiting. . . .
There at the monastery hospital,
you wished those geese-girl sisters wouldn’t bother
their heads and yours by praying for your soul:
“There is no God and Mary is His Mother.”
Lying outside the consecrated ground
forever now, you smile
like Ser Brunetto running for the green
cloth at Verona – not like one
who loses, but like one who had won . . .
as if your long pursuit of Socrates’
demon, man-slaying Alcibiades,
the demon of philosophy, at last had changed
those fleeting virgins into friendly laurel trees
at Santo Stefano Rotondo, when you died
near ninety,
still unbelieving, unconfessed and unreceived,
true to your boyish shyness of the Bride.
Old trooper, I see your child’s red crayon pass,
bleeding deletions on the galleys you hold
under your throbbing magnifying glass,
that worn arena, where the whirling sand
and broken-hearted lions lick your hand
refined by bile as yellow as a lump of gold.
In the heydays of ‘forty-five,
bus-loads of souvenir-deranged
G.I.’s and officer-professors of philosophy
came crashing through your cell,
puzzled to find you still alive,
free-thinking Catholic infidel,
stray spirit, who’d found
the Church too good to be believed.
Later I used to dawdle
past Circus and Mithraic Temple
to Santo Stefano grown paper-thin
like you from waiting. . . .
There at the monastery hospital,
you wished those geese-girl sisters wouldn’t bother
their heads and yours by praying for your soul:
“There is no God and Mary is His Mother.”
Lying outside the consecrated ground
forever now, you smile
like Ser Brunetto running for the green
cloth at Verona – not like one
who loses, but like one who had won . . .
as if your long pursuit of Socrates’
demon, man-slaying Alcibiades,
the demon of philosophy, at last had changed
those fleeting virgins into friendly laurel trees
at Santo Stefano Rotondo, when you died
near ninety,
still unbelieving, unconfessed and unreceived,
true to your boyish shyness of the Bride.
Old trooper, I see your child’s red crayon pass,
bleeding deletions on the galleys you hold
under your throbbing magnifying glass,
that worn arena, where the whirling sand
and broken-hearted lions lick your hand
refined by bile as yellow as a lump of gold.
Man hatte Santanyana nach seinem Tod schnell vergessen, aber seit Jahren holt man ihn wieder aus der Versenkung heraus. Vor zehn Jahren gab es auf der Seite vom Deutschlandfunk einen sehr guten Artikel über ihn. Alles, was man von ihm lesen sollte, wenn man ihn denn lesen will, steht auf den 647 Seiten des Buches The Essential Santayana: Selected Writings, das Martin A. Coleman 2009 bei der Indiana University Press herausgegeben hat. Und George Santayana war bisher nicht in diesem Blog, weil ich ihn nicht mag.
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