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Donnerstag, 10. Dezember 2020

Notre Dame d'Amiens


Was schlimm ist
Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist...

Das hat Gottfried Benn in seinem Gedicht Was schlimm ist einmal gedichtet. Fremdsprachen sind für viele ein Problem. Die Engländer sind die einzigen, die keine Fremdsprache beherrschen müssen, die sprechen einfach etwas lauter. Schließlich hat ihnen ja auch mal die halbe Welt gehört. Als Proust zu schreiben beginnt, auf jeden Fall.

Englisch muss man können. Proust konnte es nicht, aber er hat zwei Werke, La Bible d'Amiens und Sésame et les Lys, des von ihm verehrten John Ruskin übersetzt. Obgleich er, wie gesagt, eigentlich kein Englisch konnte. Aber er bewundert den englischen Stil. Er trägt Schlipse und Querbinder von der englischen Firma Liberty's (er hat sie in allen Farben) und kauft seine Schuhe in dem Luxusgeschäft Old England am Boulevard des Capucines. Schwarze geknöpfte Lackstiefel, Halbstiefel natürlich. Nichts anderes (Sie können ihn mit solchen Schuhen in dem Post Morning Coat sehen). Seine Anzüge und seine Morning Coats kommen von der Firma Carnaval de Venise in der Rue Halevy, die haben einen englischen Schneider, der kommt zu Proust ins Haus. Und dann sieht er so aus wie all die Herren des Pariser Jockey Clubs auf dem Bild von Charles Tissot. Der Herr ganz rechts ist übrigens das Vorbild für die Romanfigur Charles Swann, der ein Freund des Prince of Wales ist.

Ob die Herren alle Englisch konnten, weiß ich nicht. Wahrscheinlich reichte es, wenn sie den Clubnamen aussprechen konnten. Doch auch wenn Prousts Englischkenntnisse dürftig sind, er ist wirklich anglophil, das sagt uns Professor Daniel Karlin in dem hochinteressanten Buch Proust's English (Oxford University Press 2005). Und Proust liebt die englische Literatur, das hat er selbst gesagt: C’est curieux que dans tous les genres les plus différents, de George Eliot à Hardy, de Stevenson à Emerson, il n’y a pas de littérature qui ait sur moi un pouvoir comparable à la littérature anglaise et américaine. L’Allemagne, l’Italie, bien souvent la France me laissent indifférent. Mais deux pages du 'Moulin sur la Floss' me font pleurer.

Es kommen viele englische Wörter in der Recherche vor, schon gleich am Anfang verwirren sie den Erzähler: Comme il est gentil! il est déjà galant, il a un petit œil pour les femmes: il tient de son oncle. Ce sera un parfait gentleman, ajouta-t-elle en serrant les dents pour donner à la phrase un accent légèrement britannique. Est-ce qu’il ne pourrait pas venir une fois prendre a cup of tea, comme disent nos voisins les Anglais; il n’aurait qu’à m’envoyer un « bleu » le matin.
   Je ne savais pas ce que c’était qu’un « bleu ». Je ne comprenais pas la moitié des mots que disait la dame, mais la crainte que n’y fut cachée quelque question à laquelle il eût été impoli de ne pas répondre, m’empêchait de cesser de les écouter avec attention, et j’en éprouvais une grande fatigue.

Ruskins Bible of Amiens, die Proust übersetzen will, strotzt vor Anspielungen auf die Bibel, weil er die Skulpturen an der Westfassade der Kathedrale wie eine Bibel liest. Und da hat Proust wieder ein Problem als Übersetzer: es ist nicht nur das fehlende Englisch, er ist auch nicht wirklich bibelfest. Er bittet seine Freundin, die Comtesse Anna de Noailles, ihm eine Bibelübersetzung zu empfehlen. Der Sohn einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters liest jetzt ein Buch, das er nicht kennt. Er liest das Buch gründlich, der Italiener Alberto Beretta Anguissola behauptet in seinem Buch Proust e la bibbia, dass Proust die Bibel besser kannte als die besten Studenten des Päpstlichen Bibelinstituts in Rom.

Im Vorwort seiner Übersetzung von Ruskin gesteht Proust, dass er für die Arbeit (für die er seinen Roman Jean Santeuil aufgab) ständig die Bibel benutzt habe: Jedes Mal, wenn Ruskin in die Konstruktion seiner Sätze als Zitat oder häufiger noch als Anspielung eine Erinnerung an die Bibel einfügt, so wie die Venezianer in ihre Gebäude die sakralen Statuen und wertvollen Steine, die sie aus dem Osten geholt hatten, einfügten, habe ich versucht, die Stelle genau zu belegen, damit der Leser, wenn er die Veränderungen erkennt, die Ruskin den Versen antut, um sie sich anzueignen, die immer gleiche, geheimnisvolle Chemie der originellen und spezifischen Arbeitsweise von dessen Geist wahrnimmt. 

Proust hatte Gehilfen bei seinen Übersetzungen, seine Mutter konnte sehr gut Englisch und in Venedig, wo er 1900 mit der Übersetzung begann, traf er Marie Nordlinger (Bild) die Cousine seines Freundes Reynaldo Hahn. Er hat sie in sein Vorwort hineingeschrieben: I would therefore have nothing to add here were I not anxious to express again my gratitude to my friend Miss Marie Nordlinger who has... consented to go over this translation, often making it less imperfect. Die Künstlerin Marie Nordlinger war bis zu Prousts Tod mit ihm im Kontakt und hat später seine Briefe herausgegeben.

Für den Fall, dass ihm sein Exemplar von Ruskins Bible of Amiens verlorengehen sollte, schreibt er den Namen des venezianischen Hotels in das Buch: Marcel Proust / Hotel de l’Europe / 61 steht in dem Buch, das die französische Nationalbibliothek seit 1969 besitzt. Und Ruskin mit seinem Werk The Stones of Venice ist auch sein Wegführer durch Venedig: Mais il va falloir, les 'Pierres de Venise' à la main, aborder à toutes les églises et à ces demeures, à demi dressées, délicieuses et roses, hors des eaux où elles plongent, étudier chaque chapiteau, demander une échelle pour distinguer un relief dont Ruskin nous signale l'importance et que, sans lui, nous n'aurions jamais aperçu. Die Stadt ist für ihn eine Art de musée intact et complet de l'architecture domestique pendant le Moyen âge et la Renaissance — le sublime Moyen âge et la fatale Renaissance, — que d'enseignements inépuisables et merveilleux Venise va nous donner, maintenant que Ruskin va faire parler ses pierres. Ohne Ruskin kann man die Kunst von Venedig und Amiens nicht verstehen, versichtert uns Proust, Ruskins gläubigster Bewunderer, ja, man könnte schon Jünger sagen. Einen directeur de conscience nennt er den Engländer.

Man kann die Westfassade der Kathedrale und das Tympanon mit ihren Kunstwerken lesen wie die Bibel, wie Ruskin es macht. Alle Skulpturen haben einen religiösen Bezug, das ist heute für Kunsthistoriker eine Plattitüde. Als ich die Kathedrale Notre Dame d'Amiens zum erstenmal sah, interessierte mich das alles nicht. Ich kletterte auf den Turm und konnte neben den gotischen Wasserspeiern über die mäandernde Somme und die halbe Picardie gucken. Das ist im Sommer ein wunderbarer Anblick. 

Ich war sechzehn, das Studium der Kunstgeschichte, in dem ich die Vorlesung von Professor Wolfgang J. Müller über französische Kathedralen hörte, lag noch in weiter Ferne. Aber ich photographierte mich mit meiner Werra durch die Kathedrale, ich war da häufig drin: es war so schön kühl, draußen waren es mehr als dreißig Grad. Ein Priester, der Deutsch konnte, erzählte mir, dass hier der Heilige Martin getauft wurde, dass er hier seinen Mantel zerschnitten hat. Und er erzählte mir eine seltsame Geschichte: In jeder Nacht vor der Feier des Kriegsendes wurde die amerikanische Flagge aus dem Mittelschiff der Kathedrale von Amiens gestohlen und vor der Kirche verbrannt. Die Franzosen mochten die Amerikaner damals nicht. An jeder kahlen Mauerwand, an der keine Dubonnet-Reklame klebte, stand: Ami go home! Habe ich photographiert.

Die Amerikaner haben, so sagten die Franzosen, bei der Invasion sinnlos jedes kleine Dorf, in dem sie deutschen Widerstand vermuteten, platt gewalzt. Amiens ist zu mehr als der Häfte zerstört worden; die Kathedrale hat die Bombardierung überstanden, sie war im Inneren durch Sandsäcke geschützt. Die Zerstörungen verzeihen die Franzosen den Amerikanern nie. 


Auf jeden Fall 1959 noch nicht. Ich bin mit einer Gruppe der Evangelischen Jugend in Frankreich in einem kleinen Kaff nördlich von Amiens, Versöhnung über Gräbern heißt das Programm. Sonntags fahren wir mit unserem Bus zum Gottesdienst zu der einzigen evangelischen Kirche in Amiens. Die ist in einer umgebauten Autowerkstatt und riecht auch noch so. Irgendwie wäre mir jetzt der Weihrauchgeruch der Kathedrale lieber. In dieser Großartigkeit von farbigem Glas und Steinmassen kann man das Gefühl haben, dass man Gott nahe ist, in der Autowerkstatt nicht unbedingt. Und so habe ich die Kathedrale damals photographiert, als ich aus der Autowerkstatt kam. Ich wollte etwas Weltliches, ein bisschen Elektrik ins Spiel bringen,

Bevor Ruskin Amiens für sich entdeckte, war es die Kirche von St Wulfran in Abbeville, die ihn faszinierte. Ihr Südtor (hier von ihm gezeichnet) war für ihn one of the most exquisite pieces of flamboyant Gothic the world. Reisende konnten offenbar dem Ort Abbeville nichts abgewinnen, Ruskin schreibt: About the moment in the forenoon when the modern fashionable traveller, intent on Paris, Nice, and Monaco, and started by the morning mail from Charing Cross, has a little recovered himself from the qualms of his crossing, and the irritation of fighting for seats at Boulogne, and begins to look at his watch to see how near he is to the buffet of Amiens, he is apt to be baulked and worried by the train’s useless stop at one inconsiderable station, lettered 'Abbeville'. 

As the carriage gets in motion again, he may see, if he cares to lift his eyes for an instant from his newspaper, two square towers, with a curiously attached bit of traceried arch, dominant over the poplars and osiers of the marshy level he is traversing. Such glimpse is probably all he will ever wish to get of them; and I scarcely know how far I can make even the most sympathetic reader understand their power over my own life. Ich muss gestehen, dass ich ähnlich Ruskins modern fashionable traveller dem Ort nichts abgewinnen konnte, er hatte nicht diese power over my own life. Das einzige, das ich im Gedächtnis habe, war die krächzende Stimme im Lautsprecher des Bahnhofs, die Ici Abbeville, Ici Abbeville plärrte.

Als Ruskin im Jahre 1900 starb, hat Proust zwei Nachrufe geschrieben. Der im Figaro abgedruckte hieß Pèlerinages Ruskiniens en France, Wallfahrten zu den Orten, an denen man seiner gedenken könne. In seinem Vorwort zu seiner Übersetzung von The Bible of Amiens nimmt Proust diese Formulierung wieder auf: Je voudrais donner au lecteur le désir et le moyen d’aller passer une journée à Amiens en une sorte de pèlerinage ruskinien. Ce n’était pas la peine de commencer par lui demander d’aller à Florence ou à Venise quand Ruskin a écrit sur Amiens tout un livre. Et, d’autre part, il me semble que c’est ainsi que doit être célébré le 'culte des Héros', je veux dire en esprit et en vérité. Nous visitons le lieu où un grand homme est né et le lieu où il est mort ; mais les lieux qu’il admirait entre tous, dont c’est la beauté même que nous aimons dans ses livres, ne les habitait-il pas davantage?

Proust hofft, dass seine Übersetzung die Franzosen dazu bringen wird, Pèlerinages Ruskiniens zu unternehmen: Je n’en espère pas moins que vous irez à Amiens après m’avoir. Seine eigene Wallfahrt zur Kathedrale ist kurz, sehr kurz. Er fährt mit seinem Freund Léon Yeatman, mit dessen Frau Madeleine er schon zuvor die Kathedrale von Rouen besucht hatte, am 7. September 1901 nach Abbeville. Die beiden Herren besichtigen St Wulfran, Yeatman nimmt dann am Bahnhof den Zug nach Paris, Proust den nach Amiens. Er isst in Amiens in der Bahnhofsgaststätte zu Abend und schaut sich am nächsten Tag Frankreichs größte Kathedrale an. Diese Zeichnung will er aus dem Gedächtnis gemacht haben, aber das glaube ich nicht so ganz, er muss beim Zeichnen vor der Kirche gestanden haben. Die Details kriegt man aus der Erinnerung nicht so hin. Oder Proust vielleicht doch. Weil bei ihm alles Erinnerung ist.

Vielleicht doch nicht? Proust kann für seine Skizze auch ein Photo verwendet haben. Bilder enthält Ruskins Werk kaum, aber dafür enthält L'art religieux du xiiie siecle en France von Emile Mâle beinahe hundert Bilder, die Vierge dorée von Amiens bekommt sogar ein ganzseitiges Photo. Proust merkt schnell, dass hier ein wirklicher Kunsthistoriker schreibt, kein emphatischer Schwärmer wie Ruskin. Und so wird Mâles Buch, das immer noch ein Standardwerk ist (es ist unter dem Titel Die Gotik: Kirchliche Kunst des 13. Jahrhunderts in Frankreich bei Belser erschienen), für ihn zu einer Bibel bei der Übersetzung von Ruskins Bible of Amiens. Er wird Emile Mâle, mit dem er seit dem Jahr 1900 korrespondierte, die Erstausgabe seiner Übersetzung mit einer schönen Widmung schicken und lange mit dem Professor für Kunstgeschichte der Sorbonne in Kontakt bleiben. Das Exemplar des Buches, das er sich von seinem Freund, dem Comte Robert de Billy, geliehen hat, gibt er dem nach vier Jahren völlig zerfleddert zurück. Weshalb sich der Millionär Marcel Proust das Buch nicht selbst gekauft hat, weiß ich nicht.

Ich habe zuhause ein kleines Bild (25 x 44 cm), das ohne Vorlage aus der Erinnerung gemalt wurde. Es ist in Blautönen gehalten, weil es aus meiner blauen Periode stammt, das habe ich schon in dem Post Kunsterziehung erwähnt. Es ist eine Studie in Blau, zwei Türme, drei Portale und ein großer roter Fleck, da wo die große Rosette ist. Das Bild verzichtet auf die Details, auf alles, was Ruskin wichtig ist, aber man erkennt, dass es Notre Dame d'Amiens ist, meine Kathedrale.

Heute vor 101 Jahren hat Marcel Proust den Prix Goncourt für À l’ombre des jeunes filles en fleurs, den zweiten Teil seines großen Romans erhalten. Wegen seiner Beschäftigung mit Ruskin hatte er seinen Roman Jean Santeuil aufgegeben, aber durch die Arbeit an La Bible d'Amiens und Sésame et les Lys ist er zum dem Schriftsteller geworden, der sich mit A la recherche du temps perdu seine eigene literarische Kathedrale baut.

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