Mein Vater hoffte noch Jahre nach dem Krieg, dass es ein Lebenszeichen von seinem jüngeren Bruder geben könnte. In jeder Erfassungsstelle des Roten Kreuzes in Norddeutschland haben wir in endlosen Schlangen gewartet. Meistens waren diese Einrichtungen in den Kellern von öffentlichen Gebäuden untergebracht, klaustrophobisch eng und übel riechend. Aber die Generation, die jetzt verzweifelt nach Auskunft fragte, war das Bunkergefühl gewohnt. Nur ich musste da einmal nach einer Stunde raus, nach draußen an die frische Luft. Dass auch ich wichtige Teile meiner ersten Lebensjahre in Bunkern verbracht hatte, hatten mir alle erzählt, aber stundenlang in einer Schlange in einem muffigen Keller zu stehen, ist nichts für Sechsjährige.
Dabei war ich Schlangestehen gewohnt, für alles musste man anstehen: Schulspeisung, Reihenuntersuchungen, Röntgen, Impfungen. Es wird gegen alles geimpft, es gibt noch Krankheiten, die heute so gut wie ausgestorben sind. Und es gibt wenig Medikamente. Wenn wir im Turnzeug stundenlang in den zugigen Gängen des Gesundheitsamts frieren und nicht wissen, wann wir dran kommen, dann wird uns diese Prozedur auch von keinem pädagogisch geschulten Arzt erklärt. Heute würden die Kiddies heulen. Wir heulen nicht. Wir sind auch nicht fett, keiner von uns. Wir sind unterernährt, haben Mangelkrankheiten (trotz des grauenhaften täglichen Lebertrans) und sind jetzt schon leicht blaugefroren. Aber wir tanzen nicht aus der Reihe.
Zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn war ich mit der Evangelischen Jugend meines Heimatortes in Nordfrankreich, wir arbeiteten freiwillig für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Versöhnung über Gräbern ist die Devise. Konrad Adenauer zitiert die Worte in der Wochenschau (und vielleicht auch im Fernsehen, aber das hatten wir glücklicherweise noch nicht). Unsere Gruppe hat Adenauer ein Jahr später getroffen, in Chartres vor der Kathedrale. Der Bundeskanzler hatte, nachdem er beim Verlassen der Kathedrale mit einigen Mädchen aus der Gruppe ins Gespräch gekommen war, der völlig verdutzten Waltraut Nebelung, der Ehefrau unseres Diakons, einen Hundertmarkschein in die Hand gedrückt. Sie kam vor lauter Überraschung gar nicht dazu, sich zu bedanken, aber das hat sie später schriftlich nachgeholt.
Es ist ein heißer Juli in Ailly-sur-Somme bei Amiens (und wahrscheinlich in ganz Frankreich), der deutsche Soldatenfriedhof besteht nur aus wild wucherndem Unterholz, die einzelnen Gräber sind kaum zu erkennen. Hier ist seit Kriegsende kaum etwas gemacht worden. Einen Kilometer weiter kann man den englischen Soldatenfriedhof finden: glatter, sattgrüner Rasen und darauf die weißen Steinkreuze, die England seinen Soldaten überall auf der Welt spendiert. Die wahr gewordene Bitte von Rupert Brooke: that there’s some corner in a foreign field that is forever England... In gewissem Sinne ist dies hier England, wie ➱John Keegan in The Face of Battle sagt. Die Schlachtfelder, auf denen Englands Geschichte entschieden wird, sind keine hundert Kilometer von einander entfernt: Agincourt, Waterloo und die Somme. Zwanzigtausend Engländer werden am ersten Tag der Sommeschlacht sterben, über 400.000 werden am Ende dieser Schlacht verwundet oder tot sein. Auf deutscher Seite ebenso viel.
Im Zweiten Weltkrieg wird es hier nicht anders sein, nur kommt jetzt der Tod aus der Luft. Und er kommt nicht von den Deutschen. Die Stadt Amiens wird im Kriege zu sechzig Prozent zerstört. Es grenzt an ein Wunder, dass die Kathedrale unversehrt bleibt. In der Mitte von Amiens steht in einem kleinen Park in der Sichtweite des Tour Perret (der höher als die Kathedrale ist) ein modernes steinernes Denkmal, die Figur eines Soldaten tritt im oberen Drittel aus der dreieckigen Steinsäule heraus, am Fuße das Lothringerkreuz. Das weiß ich, weil ich dieses alte Schwarzweiß Photo habe. Es hat wochenlang neben meinem Mac Computer gelegen, den mir mein Uniinstitut zum Abschied geschenkt hat. Ich konnte es nicht mehr identifizieren. Es hat mir etwas bedeutet, und es muss etwas bedeuten, sonst hätte ich es damals nicht photographiert, aber jetzt weiß ich es nicht mehr. So ist es mit den Gräbern und Gedenksteinen.
Mein alter Diakon ➱Klaus Nebelung, inzwischen Pastor im Ruhestand, bringt mich nach fünfzig Jahren auf die richtige Spur. Es ist das Denkmal für General Leclerc und die Armee des Freien Frankreichs. Der französische Edelmann, der seinen Resistancenamen angenommen hat, kommt aus der Gegend von Amiens. Aber die Informationen über dieses Denkmal sind verborgen im Internet, unter der Farbabbildung des Denkmals finden sich Kommentare wie: Wer war das? Was soll das? Was hat er mit dem Supermarkt Leclerc zu tun? Schön photographiert! Der war ein Held, wieso? Die Intelligenz dieser französischen Kommentatoren ist, wie so vieles im Internet, von unterirdischer Qualität. Vielleicht sollte man nach dem Vorbild der bad banks mal den ganzen Müll in ein bad internet verbannen.
Wir gucken uns den englischen Friedhof an, wir gucken uns unseren an. Wir wissen jetzt, was wir zu tun haben. Die pastorale Eleganz der Engländer werden wir nicht erreichen, das ist uns klar. Aber wir können uns bemühen, diesen Friedhof wieder wie einen Friedhof aussehen zu lassen. Wir sind in der Turnhalle der Schule untergebracht, Feldbetten, spartanische Ausstattung. Der Postbote des Dorfes begrüßt uns mit einem Ständchen auf der Tuba. Wir haben auch eine Postadresse: Ailly-sur-Somme (Amiens), La Mairie, Groupe des jeunes Allemands de Brême.
Frühstück gibt es hier im Saal, mittags gibt es ein Lunchpaket. Abends richtiges Essen im Gasthof. Wir müssen den Vormittag arbeiten, Nachmittag und Abend haben wir frei. Wenn man Frühstücksdienst hat, muss man morgens um sechs einen halben Kilometer zum nächsten Bauern marschieren, um Butter zu holen. Muss Bonjour, Monsieur sagen und mit ihm im Garten in einen Keller steigen. Drei Meter unter der Erde ist es ungeheuer kalt und feucht, auch wenn draußen dreißig Grad sind. Die Butter ist immer frisch. Diese Kenntnis von französischen Gartenkellern zahlt sich Jahre später in meinem Kunstgeschichtsstudium aus, als außer mir niemand die Frage von Professor Tintelnot im Colloquium beantworten kann, wie man denn in Versailles im 17. Jahrhundert den Sekt kalt gehalten hätte.
Frühstück gibt es hier im Saal, mittags gibt es ein Lunchpaket. Abends richtiges Essen im Gasthof. Wir müssen den Vormittag arbeiten, Nachmittag und Abend haben wir frei. Wenn man Frühstücksdienst hat, muss man morgens um sechs einen halben Kilometer zum nächsten Bauern marschieren, um Butter zu holen. Muss Bonjour, Monsieur sagen und mit ihm im Garten in einen Keller steigen. Drei Meter unter der Erde ist es ungeheuer kalt und feucht, auch wenn draußen dreißig Grad sind. Die Butter ist immer frisch. Diese Kenntnis von französischen Gartenkellern zahlt sich Jahre später in meinem Kunstgeschichtsstudium aus, als außer mir niemand die Frage von Professor Tintelnot im Colloquium beantworten kann, wie man denn in Versailles im 17. Jahrhundert den Sekt kalt gehalten hätte.
Meine Freundin Renate schreibt ihre Briefe jetzt auf Französisch, was für einen Schüler des Lateinzweiges schwer zu lesen ist. Je t’aime beaucoup, und ich weiß nicht, was beaucoup heißt. Jochen S. ist zwar auf dem Französischzweig des Gymnasiums, aber den mag ich nicht fragen. Nur einer von uns kann richtig Französisch, das ist der Gemeindehelfer Schark aus der Lesumer Nachbargemeinde. Der war im Zweiten Weltkrieg Feldwebel in Frankreich, hier in der Picardie. Er mag die Franzosen, die Franzosen mögen ihn. Und uns. Die haben hier sowieso nichts gegen die Deutschen, die hassen nur die Amerikaner. An jeder kahlen Mauerwand, an der mal keine Dubonnet Reklame klebt, steht: Ami go home! In der Nacht vor der Feier des Kriegsendes wird jedes Jahr die amerikanische Flagge aus dem Mittelschiff der Kathedrale von Amiens gestohlen und vor der Kirche verbrannt. Die Amerikaner haben bei der Invasion sinnlos jedes kleine Dorf, in dem sie deutschen Widerstand vermuteten, plattgewalzt. Amiens ist zu mehr als der Hälfte zerstört worden. Das verzeihen ihnen die Franzosen nie. Auf jeden Fall 1959 noch nicht.
Sonntags fahren wir mit unserem Bus zum Gottesdienst in der einzigen evangelischen Kirche in Amiens. Die ist in einer umgebauten Autowerkstatt und riecht immer noch so. Irgendwie wäre mir jetzt der Weihrauchgeruch der Kathedrale lieber. In dieser Großartigkeit von farbigem Glas und Steinmassen kann man das Gefühl haben, dass man Gott nahe ist, in der Autowerkstatt nicht. Aber Gott ist überall, daran müssen wir glauben. Der Ort Ailly-sur-Somme hat nur einen Arbeitgeber, die Schotten, wie sie sagen. Die sind zwar schon seit hundert Jahren hier, aber sie sind immer noch die Schotten. James Drummond Carmichael aus Dundee hat hier im 19. Jahrhundert eine Jutefabrik gegründet. Seine Nachfahren haben eine Villa oben auf der Geestkante, mit Park und verfallendem Tennisplatz, auf dem die Netze verrotten. Die Fabrik ist unten in der Tiefebene, wo die Somme mit ihren Nebenarmen durch die Wiesen mäandert. Die Arbeiter sind alle Kommunisten und hassen die Schotten. Wenn Opa das noch erlebt hätte, sein Enkel in einem Dorf voll von Roten.
Man kann am Nachmittag die sieben Kilometer nach Amiens gehen, in der Kathedrale ist es schön kühl. Hier ist der Heilige Martin getauft worden, hier hat er seinen Mantel zerschnitten und einem Bettler gegeben. Man kann auf den Turm der Kathedrale klettern und zusammen mit den gotischen Wasserspeiern über die halbe Picardie gucken. Das ist im Sommer ein wunderbarer Anblick. Aber das Schönste ist es, in Ailly die hundert Meter zum Bahnhof zu gehen. Einmal über die Gleise, wo 1906 ein Schnellzug entgleist ist (das bekommt man als erstes erzählt), und schon ist man an der Somme. Der Fluss fließt schnell genug, dass man sich auf ihm treiben lassen kann. Zugegeben, von Zeit zu Zeit begegnet man einem toten Hund, der im Wasser treibt, das ist nicht so schön. Aber wenn man auf dem Rücken liegend den Himmel zwischen den Bäumen sehen und dabei sanft durch das Wasser gleiten kann, das ist wundervoll. Weniger schön ist der Rückweg, weil man barfuß den Treidelweg am Ufer zurückgehen muss.
Man kann am Nachmittag die sieben Kilometer nach Amiens gehen, in der Kathedrale ist es schön kühl. Hier ist der Heilige Martin getauft worden, hier hat er seinen Mantel zerschnitten und einem Bettler gegeben. Man kann auf den Turm der Kathedrale klettern und zusammen mit den gotischen Wasserspeiern über die halbe Picardie gucken. Das ist im Sommer ein wunderbarer Anblick. Aber das Schönste ist es, in Ailly die hundert Meter zum Bahnhof zu gehen. Einmal über die Gleise, wo 1906 ein Schnellzug entgleist ist (das bekommt man als erstes erzählt), und schon ist man an der Somme. Der Fluss fließt schnell genug, dass man sich auf ihm treiben lassen kann. Zugegeben, von Zeit zu Zeit begegnet man einem toten Hund, der im Wasser treibt, das ist nicht so schön. Aber wenn man auf dem Rücken liegend den Himmel zwischen den Bäumen sehen und dabei sanft durch das Wasser gleiten kann, das ist wundervoll. Weniger schön ist der Rückweg, weil man barfuß den Treidelweg am Ufer zurückgehen muss.
Wir spielen auch Fußball gegen die Dorfjugend, die haben einen richtigen Platz, weil Ailly seit 1899 einen Fußballverein hat. Sie schicken sogar einen richtigen Schiedsrichter, der seine Sache ernst nimmt. Manchmal muss der das Spiel unterbrechen und Leute vom Platz stellen. In ihrem Enthusiasmus haben die Franzosen plötzlich 17 Spieler auf dem Platz. Wir gewinnen natürlich. Seit ➱Bern 1954 haben selbst deutsche Straßenfußballer das Gefühl, dass sie unbesiegbar sind. Das wird einige Jahre später anders aussehen, wenn wir für den Volksbund Gräber der angeschwemmten Opfer der Skagerakschlacht im Norden Jütlands in Ordnung bringen.
Das gepflegte Waldstadion von Nyköbing hätte uns schon zu denken geben sollen. Wir verlieren 9:1. Das eine Tor schießen wir auch nur, weil der dänische Torwart sich an den Spielfeldrand gesetzt hat, um mit unseren Mädels zu flirten. Wir wissen nicht, dass Dreiviertel der Dänen in der dänischen Schülerauswahl spielt. Es ist der schlimmste Tag in meiner Torwartkarriere. Es hilft uns nicht, dass wir Charlie Kottkamp in unseren Reihen haben, der beim SAV spielt (und eines Tages ein großes Tier in der Sportredaktion der ARD wird). Aber selbst wenn wir ➱Dragomir Ilic gehabt hätten, hätte es wohl nicht viel ausgemacht. Die Geschichte wird sogar den Bremer Nachrichten eine kurze Notiz wert sein.
Das Abendessen im Gasthof von Ailly ist der Höhepunkt jeden Tages. Schon Laurence Sterne hat in Sentimental Journey über Amiens gesagt, dass er hier the best dinner we ever ate in France gehabt hätte. Dass es eine Vielzahl von Gängen gibt, sind wir nicht gewohnt. Am ersten Tag gibt es Fleisch mit seltsam aussehenden, aber sehr leckeren Wurzeln und fromage. Am vierten Juli gibt es pommes frites und beefsteak (das steht so in meinem Tagebuch), noch niemand von uns hat je Pommes Frites gegessen. Wasser und vin du pays stehen auf den Papiertischdecken, die Franzosen kümmert es nicht, dass wir erst sechzehn sind. Mit sechzehn ist man damals ja schon beinahe erwachsen. Wir können uns auch unsere eigenen Flaschen holen, die wir uns am Anfang ausgesucht haben, und die der Wirt für uns in einem Regal über der Theke aufbewahrt. Meine Flasche ist grün, ich habe sie wegen der schönen Farbe gewählt. Es ist ein Grenadine Minz Sirup, den man mit viel Wasser verdünnt.
Unsere Arbeit kommt voran. Wir haben hölzerne Kreuze mitgebracht, die die Zimmerleute der Friedrich Lürssen Werft in unserem Heimatort angefertigt haben. Aber wir haben keine Nägel, um die manchmal noch vorhandenen Namensschilder auf die Kreuze zu nageln. Ich werde mit einem Freund nach Amiens geschickt, um Nägel zu kaufen. Der Bus ist voll, er hat den Motor innen, die Motorabdeckung ist heiß. An einen Sitzplatz ist nicht zu denken, da sitzt die halbe Landbevölkerung der Picardie, Körbe und Käfige auf den Knien. Der Bus ist auch voll mit den Geräuschen von Hühnern und Gänsen. In Amiens ist Markttag.
An den Straßenrändern sitzen alte Männer mit Kofferradios in der Sonne und hören der Berichterstattung der Tour de France zu. Die Tour wird hier nie vorbeikommen, aber sie tun so, als käme das Peloton jeden Moment um die Ecke geschossen. Männer auf den Straßen pfeifen eine ins Ohr gehende Melodie, die wir schnell nachpfeifen. Ich werde Jahre brauchen, um herauszufinden, dass es John Philip Sousas Stars and Stripes forever ist. Das einzige, das sie von ihren Befreiern übernommen haben. Wir finden einen Haushaltswarenladen, mit Zeichensprache und Küchenfranzösisch machen wir dem Besitzer unser Anliegen klar. Er spricht ein wenig Deutsch aus der Besatzungszeit, er stellt uns seine Familie vor, wir müssen einen Pernod trinken. Wir trinken das Zeug sicherheitshalber mit ganz viel Wasser, wegen der Hitze. Wir bekommen ein ganzes Sortiment Nägel, unentgeltlich, und der Patron besteht darauf, uns mit seinem Renault camion nach Ailly zurückzufahren. Wahrscheinlich leisten wir in diesem Sommer mehr für die Völkerverständigung als der deutsche Außenminister.
Wir werden auch die vereinzelten Gräber im Umkreis von zwanzig Kilometer pflegen. Das bedeutet lange Märsche in der sengenden Hitze. Die angerosteten Stahlhelme auf den Gräbern sind glühend heiß. All diese Geschichten, dass Rommels Soldaten auf ihren Helmen Spiegeleier braten konnten, werden wahr sein. Wir stellen unsere Kreuze auf und marschieren zum nächsten Friedhof. Hier in La Chaussée-Tirancourt wird man Jahre später noch andere Gräber finden, eine große megalithische Grabstätte, tausende Jahre alt. Kurz vor Picquigny, in Belloy-sur-Somme, machen wir unter einem Baum vor einem kleinen Chateau Rast. Herr Schark geht zum Chateau. Er kommt nach einer halben Stunde mit einem livrierten Diener wieder, sie tragen Körbe voll Brot, Schinken und Wein. Der Diener mit der rot-schwarz gestreiften Weste hat sogar an weiße Tischdecken gedacht, die er vor uns auf dem Boden ausbreitet. Es wird mir klar, warum das Organisationsgenie Schark damals so gut mit den Franzosen ausgekommen ist. Das Chateau von Belloy, das wir hinter dem Bäumen des Parks nur schemenhaft sehen, hat für mich etwas Unwirkliches, wie auf einem Bild von Magritte. Später wird man da einen Film mit Klaus Kinski drehen, heute ist es ein Hotel. Alle magischen Orte der Jugend bekommen mit der Zeit in der Realität etwas Profanes, in der Erinnerung bleiben sie märchenhaft.
Einmal haben wir einen Tag frei und fahren mit der Bahn ans Meer. Der Bahnhof von Ailly ist ja direkt vor unserer Haustür. Die Eisenbahn fährt durch die Sommeebene, irgendwann kommen wir in einen Bahnhof, in dem eine blecherne Stimme Ici Abbeville, ici Abbeville plärrt. Am Ende unserer kurzen Reise steht der Bahnhof von ➱Le Tréport. Dies sind die Kreidefelsen von Dover, nur auf der anderen Seite des Kanals. Wir haben den ganzen Tag frei, um die Ortsteile links und rechts der Bresle zu erkunden, den Hafen, den Strand und den Ort oben auf dem Berg. Ich habe einen ganzen Schwarzweißfilm an dem Tag verbraucht, aber nicht schnell geschossen, sondern sorgfältig ausgewogen photographiert. Manches davon hätte noch heute in einem Photoband Bestand: Touristen, die aufs Meer schauen (so wie Cartier-Bresson sie photographiert haben würde), der Hobbymaler in der weißen Leinenjacke, der aussieht wie Winston Churchill, die Fischerboote im Hafen, die auf dem Schlick liegen und warten, dass die Flut kommt. Und natürlich Le Tréport und Mers-les-Bains von oben, die Grenze zwischen Picardie und Normandie verläuft genau hier. Wir können unseren Eltern erzählen, dass wir auch in der Normandie gewesen sind. Proust ist hier auch mit seinen Eltern gewesen, später sind alle Seebäder der Normandie in seinen Roman gewandert. Auch Abbeville hat ihn begeistert, die Kathedrale war Teil seines Ruskin Verständnisses, aber für mich ist Abbeville nur die Lautsprecherstimme, die Ici, Abbeville, ici Abbeville sagt.
Bei einem unserer längeren Märsche werde ich in Picquigny auf der Geestkante sitzen und in das Sommetal hinunterblicken. Vielleicht ist es die gleiche Stelle, die Laurence Sterne in Sentimental Journey beschreibt. Hunderttausende von Soldaten sind hier gestorben. Die Niederung der Somme leuchtet in sattem Grün, auf den langsam vergilbenden Photographien meines Opas ist alles chamois-bräunlich. In Deutschland ist gerade die Bundeswehr begründet worden. 12.900 Offiziere werden im Jahre 1958 noch aus der Wehrmacht stammen. Mein Großvater war hier im Ersten Weltkrieg, mein Vater im Zweiten. Jetzt bin ich hier: Versöhnung über Gräbern. Ich komme nicht auf die Idee, dass ich wenige Jahre später auch in Uniform in Frankreich sein werde (lesen Sie ➱hier mehr).
Auf dem Rückweg treffen wir einen Photoreporter vom Courrier Picard aus Amiens, der uns gesucht hat. Er will eine Reportage über uns machen. Als er sieht, dass ich eine Kleinbildkamera habe (ich habe zum ersten Mal meine ➱Werra mit), will er meine Photos für seine Zeitung haben. Er nimmt mich mit dem Auto mit zu seiner Redaktion, die anderen müssen noch zehn Kilometer laufen. Ich erfahre, dass der blecherne Döschewo nicht nur zwei Pferdestärken hat, sondern dass dieses CV die Steuerklasse (Chevaux Vapeur) bedeutet. Und dass alle Pariser Autonummern auf 75 enden. Das ist nützliches Wissen, mit dem man zu Hause angeben kann. Die Visitenkarte des Reporters klebe ich in mein hellgraues Tagebuch: Max. Hamot photo-Presse 25 Rue d’Amiens Picquigny. Die Zeitung wird eins meiner Photos drucken, ich darf mir auf Redaktionskosten einen neuen Film kaufen. Ich kaufe einen Farbfilm. Für Paris.
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Das gepflegte Waldstadion von Nyköbing hätte uns schon zu denken geben sollen. Wir verlieren 9:1. Das eine Tor schießen wir auch nur, weil der dänische Torwart sich an den Spielfeldrand gesetzt hat, um mit unseren Mädels zu flirten. Wir wissen nicht, dass Dreiviertel der Dänen in der dänischen Schülerauswahl spielt. Es ist der schlimmste Tag in meiner Torwartkarriere. Es hilft uns nicht, dass wir Charlie Kottkamp in unseren Reihen haben, der beim SAV spielt (und eines Tages ein großes Tier in der Sportredaktion der ARD wird). Aber selbst wenn wir ➱Dragomir Ilic gehabt hätten, hätte es wohl nicht viel ausgemacht. Die Geschichte wird sogar den Bremer Nachrichten eine kurze Notiz wert sein.
Das Abendessen im Gasthof von Ailly ist der Höhepunkt jeden Tages. Schon Laurence Sterne hat in Sentimental Journey über Amiens gesagt, dass er hier the best dinner we ever ate in France gehabt hätte. Dass es eine Vielzahl von Gängen gibt, sind wir nicht gewohnt. Am ersten Tag gibt es Fleisch mit seltsam aussehenden, aber sehr leckeren Wurzeln und fromage. Am vierten Juli gibt es pommes frites und beefsteak (das steht so in meinem Tagebuch), noch niemand von uns hat je Pommes Frites gegessen. Wasser und vin du pays stehen auf den Papiertischdecken, die Franzosen kümmert es nicht, dass wir erst sechzehn sind. Mit sechzehn ist man damals ja schon beinahe erwachsen. Wir können uns auch unsere eigenen Flaschen holen, die wir uns am Anfang ausgesucht haben, und die der Wirt für uns in einem Regal über der Theke aufbewahrt. Meine Flasche ist grün, ich habe sie wegen der schönen Farbe gewählt. Es ist ein Grenadine Minz Sirup, den man mit viel Wasser verdünnt.
Unsere Arbeit kommt voran. Wir haben hölzerne Kreuze mitgebracht, die die Zimmerleute der Friedrich Lürssen Werft in unserem Heimatort angefertigt haben. Aber wir haben keine Nägel, um die manchmal noch vorhandenen Namensschilder auf die Kreuze zu nageln. Ich werde mit einem Freund nach Amiens geschickt, um Nägel zu kaufen. Der Bus ist voll, er hat den Motor innen, die Motorabdeckung ist heiß. An einen Sitzplatz ist nicht zu denken, da sitzt die halbe Landbevölkerung der Picardie, Körbe und Käfige auf den Knien. Der Bus ist auch voll mit den Geräuschen von Hühnern und Gänsen. In Amiens ist Markttag.
An den Straßenrändern sitzen alte Männer mit Kofferradios in der Sonne und hören der Berichterstattung der Tour de France zu. Die Tour wird hier nie vorbeikommen, aber sie tun so, als käme das Peloton jeden Moment um die Ecke geschossen. Männer auf den Straßen pfeifen eine ins Ohr gehende Melodie, die wir schnell nachpfeifen. Ich werde Jahre brauchen, um herauszufinden, dass es John Philip Sousas Stars and Stripes forever ist. Das einzige, das sie von ihren Befreiern übernommen haben. Wir finden einen Haushaltswarenladen, mit Zeichensprache und Küchenfranzösisch machen wir dem Besitzer unser Anliegen klar. Er spricht ein wenig Deutsch aus der Besatzungszeit, er stellt uns seine Familie vor, wir müssen einen Pernod trinken. Wir trinken das Zeug sicherheitshalber mit ganz viel Wasser, wegen der Hitze. Wir bekommen ein ganzes Sortiment Nägel, unentgeltlich, und der Patron besteht darauf, uns mit seinem Renault camion nach Ailly zurückzufahren. Wahrscheinlich leisten wir in diesem Sommer mehr für die Völkerverständigung als der deutsche Außenminister.
Wir werden auch die vereinzelten Gräber im Umkreis von zwanzig Kilometer pflegen. Das bedeutet lange Märsche in der sengenden Hitze. Die angerosteten Stahlhelme auf den Gräbern sind glühend heiß. All diese Geschichten, dass Rommels Soldaten auf ihren Helmen Spiegeleier braten konnten, werden wahr sein. Wir stellen unsere Kreuze auf und marschieren zum nächsten Friedhof. Hier in La Chaussée-Tirancourt wird man Jahre später noch andere Gräber finden, eine große megalithische Grabstätte, tausende Jahre alt. Kurz vor Picquigny, in Belloy-sur-Somme, machen wir unter einem Baum vor einem kleinen Chateau Rast. Herr Schark geht zum Chateau. Er kommt nach einer halben Stunde mit einem livrierten Diener wieder, sie tragen Körbe voll Brot, Schinken und Wein. Der Diener mit der rot-schwarz gestreiften Weste hat sogar an weiße Tischdecken gedacht, die er vor uns auf dem Boden ausbreitet. Es wird mir klar, warum das Organisationsgenie Schark damals so gut mit den Franzosen ausgekommen ist. Das Chateau von Belloy, das wir hinter dem Bäumen des Parks nur schemenhaft sehen, hat für mich etwas Unwirkliches, wie auf einem Bild von Magritte. Später wird man da einen Film mit Klaus Kinski drehen, heute ist es ein Hotel. Alle magischen Orte der Jugend bekommen mit der Zeit in der Realität etwas Profanes, in der Erinnerung bleiben sie märchenhaft.
Einmal haben wir einen Tag frei und fahren mit der Bahn ans Meer. Der Bahnhof von Ailly ist ja direkt vor unserer Haustür. Die Eisenbahn fährt durch die Sommeebene, irgendwann kommen wir in einen Bahnhof, in dem eine blecherne Stimme Ici Abbeville, ici Abbeville plärrt. Am Ende unserer kurzen Reise steht der Bahnhof von ➱Le Tréport. Dies sind die Kreidefelsen von Dover, nur auf der anderen Seite des Kanals. Wir haben den ganzen Tag frei, um die Ortsteile links und rechts der Bresle zu erkunden, den Hafen, den Strand und den Ort oben auf dem Berg. Ich habe einen ganzen Schwarzweißfilm an dem Tag verbraucht, aber nicht schnell geschossen, sondern sorgfältig ausgewogen photographiert. Manches davon hätte noch heute in einem Photoband Bestand: Touristen, die aufs Meer schauen (so wie Cartier-Bresson sie photographiert haben würde), der Hobbymaler in der weißen Leinenjacke, der aussieht wie Winston Churchill, die Fischerboote im Hafen, die auf dem Schlick liegen und warten, dass die Flut kommt. Und natürlich Le Tréport und Mers-les-Bains von oben, die Grenze zwischen Picardie und Normandie verläuft genau hier. Wir können unseren Eltern erzählen, dass wir auch in der Normandie gewesen sind. Proust ist hier auch mit seinen Eltern gewesen, später sind alle Seebäder der Normandie in seinen Roman gewandert. Auch Abbeville hat ihn begeistert, die Kathedrale war Teil seines Ruskin Verständnisses, aber für mich ist Abbeville nur die Lautsprecherstimme, die Ici, Abbeville, ici Abbeville sagt.
Bei einem unserer längeren Märsche werde ich in Picquigny auf der Geestkante sitzen und in das Sommetal hinunterblicken. Vielleicht ist es die gleiche Stelle, die Laurence Sterne in Sentimental Journey beschreibt. Hunderttausende von Soldaten sind hier gestorben. Die Niederung der Somme leuchtet in sattem Grün, auf den langsam vergilbenden Photographien meines Opas ist alles chamois-bräunlich. In Deutschland ist gerade die Bundeswehr begründet worden. 12.900 Offiziere werden im Jahre 1958 noch aus der Wehrmacht stammen. Mein Großvater war hier im Ersten Weltkrieg, mein Vater im Zweiten. Jetzt bin ich hier: Versöhnung über Gräbern. Ich komme nicht auf die Idee, dass ich wenige Jahre später auch in Uniform in Frankreich sein werde (lesen Sie ➱hier mehr).
Auf dem Rückweg treffen wir einen Photoreporter vom Courrier Picard aus Amiens, der uns gesucht hat. Er will eine Reportage über uns machen. Als er sieht, dass ich eine Kleinbildkamera habe (ich habe zum ersten Mal meine ➱Werra mit), will er meine Photos für seine Zeitung haben. Er nimmt mich mit dem Auto mit zu seiner Redaktion, die anderen müssen noch zehn Kilometer laufen. Ich erfahre, dass der blecherne Döschewo nicht nur zwei Pferdestärken hat, sondern dass dieses CV die Steuerklasse (Chevaux Vapeur) bedeutet. Und dass alle Pariser Autonummern auf 75 enden. Das ist nützliches Wissen, mit dem man zu Hause angeben kann. Die Visitenkarte des Reporters klebe ich in mein hellgraues Tagebuch: Max. Hamot photo-Presse 25 Rue d’Amiens Picquigny. Die Zeitung wird eins meiner Photos drucken, ich darf mir auf Redaktionskosten einen neuen Film kaufen. Ich kaufe einen Farbfilm. Für Paris.
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