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Freitag, 27. August 2021

Kraut und Rüben


Auf die Gefahr hin, dass ich jetzt Ärger mit meinen Lesern bekomme, liste ich meine Top Ten der Interpreten für die Goldberg Variationen (dieser Link führt zu einer Seite, die mit großer Liebe gemacht wurde) einmal auf. Und ich lasse dabei Wanda Landowska, Rosalyn Tureck, Glenn Gould (1955 und 1981) und Alexis Weissenberg auf der Liste aus, weil die schon erwähnt wurden. Wobei natürlich Tureck und Gould auf die ersten Plätze kommen. Aber die kommen in jeder Liste immer auf die ersten Plätze, das ist nicht so originell. Mein erster Platz wird Sie jetzt überraschen. Geben Sie dieser jungen Dänin (die ich durch Zufall in einem Grabbelkasten mit CDs entdeckte) einmal eine Chance. Ist kein finanzielles Risiko.

1. Christina Bjørkøe
2. Andrei Gavrilov
3. Murray Perahia
4. Wilhelm Kempff
5. Ragna Schirmer
6. András Schiff
7. Angela Hewitt
8. Jenö Jandó
9. Maria Yudina
10. Zhu Xiao-Mei

Tut mir nun leid für Martin Stadtfeld, aber kein Platz mehr unter den ersten zehn. Und da wären auch noch Ekaterina Dershavina und Jacques Loussier davor gekommen. Sogar Bruno Canino. Ich könnte ja zu jeder Aufnahme eine ganze Menge sagen. Vielleicht ein anderes Mal, vielleicht mache ich Joachim Kaiser Konkurrenz und schreibe einen Monat lang nur über Pianisten. Christina Bjoerkoe gibt es (in dieser Schreibweise) bei Amazon für 4,99. Wanda Landowkas Aufnahme von 1933 kostet einen Euro mehr.

Das stand hier vor elf Jahren in dem Post Wanda Landowska, ich lasse die Liste mal so stehen. Sie gefällt mir noch immer. Lang Lang ist da nicht drauf, aber der kommt in diesem Blog selten vor. Woanders schon. Aber ich habe da noch eine Aufnahme, die ganz nach oben gehört. Dahin, wo Rosalyn Tureck und Glenn Gould sind. Die Pianistin heißt Tatiana Nikolayeva (1924-1993), sie hat die Goldberg Variationen mehrfach gespielt. Englische Musikkritiker sagen, dass die Aufnahme von Aarhus 1983 die beste ist, aber die ist im Handel nicht zu bekommen. Die Aufnahme, die ich jetzt besitze, ist 1970 in Moskau aufgenommen und wurde von dem russischen Label Melodiya vertrieben, dem einzigen Schallplattenproduzenten der Sowjetunion. Leider ist die Jahrezahl 1970 falsch, es muss 1979 heißen, wie man dieser hervorragenden Website (oder dieser hier) entnehmen kann.

Leicht zu finden ist auch die 1992 in London aufgenommene Hyperion Aufnahme (mit dem Bild von Albert Pinkham Ryder auf dem Cover). Der Musikkritiker Donald Satz schrieb auf der Bach Cantatas Website: 1983 vs. 1992: With the release of the 1983 live performance, the 1992 Hyperion disc can be safely retired. The fact is that Nikolayeva's technical prowess was in decline by 1992, and she definitely sounds challenged in the fastest variations. Further, she is more vibrant in the live performance, and her frequent changes in tempo and dynamics have a more natural flow than on the Hyperion where they sound slightly contrived with a choppy demeanor. Concerning sound quality, the Classico sound is more open although there is a brittle element to notes from the upper voices. So, let's just put the Hyperion to rest with a three-gun salute. Glauben Sie ihm kein Wort, diese Aufnahme ist das Beste, was die Nikoleyeva gespielt hat.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vergab die Firma, die von dem Staatskonzern Melodiya übriggeblieben war, Lizenzen aus ihrem Klassik Katalog, der 230.000 Titel umfasste. In den neunziger Jahren brachte die Bertelsmann Music Group eine Reihe von zwanzig CDs heraus, die den Titel Russian Piano School hatte (zuvor hatte die alte Firma Melodiya schon mit Ariola-Eurodisc zusammengearbeitet). Viele der Pianisten waren in Deutschland wenig bekannt und kaum erhältlich. Die Nummer 15 war Tatiana Nikolayeva, die besitze ich leider nicht. Aber ich habe viele andere, da diese CDs nach kurzer Zeit zu Billipreisen verramscht wurden. Nummer 1 der Reihe war Alexander Goldenweiser, ich erwähne ihn, weil er der Lehrer von Tatiana Nikolayeva am Moskauer Konservatorium war.

Die Pianistin liebte ihr Publikum, und ihr Publikum liebte sie. Lord James Methuen-Campbell schrieb in seinem Nachruf im Independent: It is difficult to imagine anyone forgetting the experience of hearing Tatiana Nikolayeva play. She was one of those rare artists who had the ability to win over an audience before even reaching the keyboard. Rotund, and frequently wearing a rather startlingly bright dress, she would make her way to the front of the piano, give the audience a heartwarmingly big smile, and then settle her ample frame on to the stool. Everything radiated humility, generosity of spirit and, above all, happiness. Sie war in England bekannter als in Deutschland. 1992 konnte man sie bei der Last Night of the Proms mit dem Klavierkonzert No. 2 von Schostakowitsch sehen.

Den hat sie neben Bach immer wieder gespielt. Bei YouTube schrieb ein Hörer zu dem Video der ✺Präludien und Fugen von Schostakowitsch: In early 1990/1 I had the privilege of hearing her play the 24 Preludes and Fugues over 2 nights at the Wigmore Hall in London. At the end of the first concert people kept on calling for encores which she obliged. Then, quite suddenly, she stood up (she was not very tall), firmly closed the piano and announced ‘now the music is ended, now we will drink!’. The applause was rapturous and I have been devoted to her ever since.

Die Präludien und Fugen von Schostakowitsch hatten für die Nikolayeva eine besondere Bedeutung. Sie hatte 1950 den ersten Preis beim Klavierwettbewerb in Leipzig zu Bachs 200. Todestag gewonnen. Wir können die Preisträgerin hier ganz links auf dem Photo sehen. Schostakowitsch war einer der Preisrichter, er war von der jungen Frau so beeindruckt, dass er das Klavierwerk Opus 87 für sie schrieb. Die Nikolayeva hat das Werk, dessen Aufführung sie gegen Stalins Bürokratie durchgesetzt hatte, immer wieder gespielt. Bis zu ihrem Tod. Während eines Konzerts in San Francisco 1993 ist sie an einem Gehirnschlag gestorben.

Komponist und Pianistin blieben nach ihrem Zusammentreffen beim Leipziger Bachfest für die nächsten einundzwanzig Jahre, das heißt bis zu Schostakowitschs Tod, miteinander befreundet. In Leipzig hatte sie zusammen mit ihm und Pavel Serebryakov auch noch Bachs Konzert für mehrere Klaviere gespielt. Und als sich Schostakowitsch im Oktober 1950 in Moskau daran machte, sein Opus 87 zu schreiben, arbeitete sie beinahe täglich mit ihm zusammen, das Werk ist beinahe eine Kollaboration: The Preludes and Fugues was something very special: I was watching and listening to them being born. When he wrote the piano pieces, he would call me almost every day. I’d come and he’d play excerpts to me. I then started playing them myself and played them to him. Even now I have these memories and understand his spiritual world. I consider him a true genius, of course. I am very grateful, and thank God that I didn’t lose the freshness of that early experience. I have some freedom of interpretation, but fundamentally I play them the way Shostakovich wanted them to be played. Schostakowitsch war durch einen Zufall in das Preisrichtergremium gekommen, eigentlich war Maria Yudina dafür vorgesehen gewesen. Aber die hatte sich die Hand verletzt und konnte nicht kommen. Wäre sie im Preisgericht gewesen, hätte Dmitrij Schostakowitsch sein Opus 87 wohl nie geschrieben.

Die Goldberg Variationen von Tatiana Nikolayeva sind ungewöhnlich, außergewöhnlich. James Methuen-Campbell hat in seinem Nachruf auf die Pianistin den wunderbaren Satz gefunden: Tatiana Nikolayeva will be remembered as a Bach player who flung stylistic considerations to the winds and played the music with an irrepressible musical intelligence and knowledge of the resources of her chosen instrument. Sie können bei YouTube ihre dritte Aufnahme (London 1986) und ihre vierte Aufnahme (Stockholm 1987) hören. Ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem Hören auf einer guten HiFi Anlage, aber es ist schon mal ein Einstieg.

Seit Claudio Arrau, der wohl als erster die Goldberg Variationen (hier ganz zu hören) gespielt hat, haben sich hunderte von Pianisten an dem Werk versucht. Bei der YouTube Aufnahme hat ein Kommentator geschrieben: This is Glenn Gould avant la lettre, but with much more delicatezza. Er liegt nicht so falsch, Glenn Gould könnte diese Aufnahme, die wirklich revolutionär ist, gekannt haben. Sein Lehrer Alberto Guerrero kam wie Arrau aus Chile und war mit Arrau befreundet. Für die RCA hat Claudio Arrau 1942 die Klavierübung Nummer IV zweihundert Jahre nach ihrem Entstehen in New York aufgenommen; aber die Aufnahme erschien erst 1988; Arrau wollte der Landowska, die das Geld nötiger brauchte als er, den Vortritt auf dem amerikanischen Markt lassen. Sie können hier alles darüber lesen.

Es gibt beinahe siebenhundert Aufnahmen der Goldberg Variationen. Eine Aria, dreißig Variationen und wieder die Aria. Fünfzig Seiten Noten bei der Edition Peters. Linkshänder wie Glenn Gould haben einen Vorteil, weil das musikalisch Wichtige nicht da oben getrillert wird, sondern unten in der Basslinie liegt. Die Klavierübung Nummer IV muss offenbar jedes Jahr in einer neuen Version erscheinen, man hält sich an den Satz von Wanda Landowska: Kein anderes Werk eröffnet seinen Interpreten einen derart großen Spielraum für ihre Phantasie, ihr Können und ihre Virtuosität. Häufig werden sie jetzt von Musikern aufgenommen, die gerade Anfang zwanzig sind. 

Wie zum Beispiel die italienische Pianistin Beatrice Rana (24) oder die Deutsche Marie Rosa Günter (25), deren Aufnahmen beinahe zeitgleich erschienen. Als die BBC die Aria von Beatrice Rana ins Netz stellte, gab es da einen Kommentar von jemandem, der sich Johnny Guitar nannte: Leave the variations to gould please....no need to ruin a classic for feminizm. Der Johnny muss noch ein wenig an der Rechtschreibung arbeiten, aber es ist ein Argument, das immer wieder kommt: nach Glenn Gould kommt nichts mehr. Wolfram Goertz war in der Zeit von Beatrice Rana begeistert: Eine Puppenstube freilich sind die Goldberg-Variationen für Beatrice Rana nicht, sondern eher ein bunter Jahrmarkt. Manche Variation befragt sie wie mit der Kristallkugel und wartet fast andächtig auf die Antwort. In anderen Passagen jazzt sie förmlich über die Klaviatur, als habe Oscar Peterson sie angespornt. Das hat Kraft, steht im Saft, ädert die Linien sehr genau und spürt Bachs subtilem Witz nach. Dabei entwickelt es stets den Sog der großen Form. Allein, was fehlt ist die Instanz, die das Holterdiepolter dieser musikalischen Nummernrevue zusammenhält. Das, was Nikolayeva in jeder Aufnahme kann, das kann Rana nicht. Der Titel dieses Posts, Kraut und Rüben, bezieht sich allerdings nicht auf die CD der Rana. Das ist der Titel eines Liedes, das Bach in das Quodlibet (Variation 30) eingearbeitet hat.

Die Aufnahme von Rana ist im Internet gefeiert worden, die von Marie Rosa Günter weniger. Vielleicht, weil sie so still ist, so gleichförmig, nichts Sensationelles an sich hat. Aber der Musikwissenschaftler Hartmut Hein hat in seiner Rezension die beeindruckende Akkuratesse gelobt. Wenn die Werbung für die CDs das jugendliche Alter der Interpretinnen betont, dann muss man sagen, dass Glenn Gould auch erst dreiundzwanzig war, als er die Goldberg Variationen einspielte. Und das in neununddreißig Minuten und elf Sekunden, schneller war niemand. Die Nikolayeva brauchte zweiundsiebzig Minuten, Sokolov eine Stunde und sechsunzwanzig Minuten. Und Arrau gönnte dem Stück zwei Stunden und neun Minuten. Marie Rosa Günter bleibt mit 77 Minuten in einer soliden Mitte. Dass sie fünf Minuten länger ist als die Nikolayeva liegt daran, dass sie die Variation 25, die Wanda Landowska als die black pearl des Ganzen bezeichnet hat, lang ausspielt (was Glenn Gould auch gemacht hat). Man kann ihre Aufnahme aus dem kleinen, aber feinen Hause Genuin gut hören. Die Aufnahme überzeugt durch ihre Geschlosenheit, man kann sie immer wieder hören, sie wird immer besser. Ich habe nur vier Euro dafür bezahlt. Dass da not for sale auf dem Booklet stand, konnte ich beim Kauf nicht sehen, aber sie ist viel mehr als diese vier Euro wert.

Den Rest des Wochenendes werde ich Tatiana Nikolayeva hören. Über sie kann man in der FemBio lesen: Tatjana Nikolajewa spielte mit Kraft und Energie in der romantischen Tradition, aber dennoch mit großer Präzision. Sie pflegte eine Kunst der unabhängigen Stimmen, wobei aber der singende Klavierton niemals zu kurz kam. Ihre expressive Kantabilität überzeugt durch den Reichtum an Kontrasten, den sie ebenso durch ihre differenzierte Anschlagtechnik wie durch die geistige Durchdringung erreicht. Jeder Satz ist wahr, es geht nicht darum, die Goldberg Variationen schnell oder langsam, laut oder leise zu spielen. Es geht nicht darum, wie man die Triller, Praller und Mordents spielt, es geht um die geistige Durchdringung. Weil dann das eintritt, was Emil Cioran in Aveux et Anathèmes beschrieben hat: Nach den Goldberg Variationen - einer 'überessentiellen' Musik, wie es im mystischen Jargon heißt - schließen wir die Augen und geben uns dem Echo hin, das sie in uns hervorgerufen haben. Es bleibt nichts anderes übrig als eine inhaltslose Fülle, die die einzige Möglichkeit ist, dem Höchsten nahe zu sein.



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