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Montag, 11. Oktober 2021

Eureka


Wenn das ganze Universum voller Sterne ist, warum ist es dann nachts dunkel? Wenn Ihnen jemand diese Frage stellt, dann sagen Sie einfach: Das ist das Olbersche Paradoxon. Stimmt immer. Der Bremer Arzt und Astronom Dr Heinrich Wilhelm Olbers, der am 11. Oktober 1758 geboren wurde, ist schon mehrfach in diesem Blog erwähnt worden. Und es gab hier vor einem Jahr den ziemlich ausführlichen Post Wilhelm Olbers, in dem auch der von Arno Schmidt geplante Lilienthal Roman erwähnt wird. Olbers hat sechs Kometen entdeckt (einer trägt seinen Namen) und achtzehn Kometenbahnen berechnet, davon redet niemand, immer wird nur das Olbersche Paradox erwähnt.

Der Bremer Physiker Peter H. Richter hat das in einem kleinen Artikel über das sogenannten Olbersche Paradoxon klar gesagt: Der Begriff 'Olberssches Paradoxon' ist übrigens erstaunlich jung. Erst 1952 wurde er von Herman Bondi eingeführt, in seinem Buch 'Cosmology', einem der Standardwerke der steady state-Theorie des Kosmos. Bondi, Thomas Gold und Fred Hoyle nahmen wie Kant einen unendlich ausgedehnten und ewig existierenden Kosmos an; sie gingen insofern von ähnlichen Prämissen aus wie Wilhelm Olbers und hatten deshalb dasselbe Problem. Sie nannten es – solange ungelöst – das Olberssche Paradoxon und machten damit den Bremer Arzt zu einem der Begründer der modernen Kosmologie. Jedenfalls ist er der Welt durch diese späte Würdigung einer einzigen Altersschrift heute bekannter als aufgrund seiner früheren Erforschungen von Kometen und Kleinplaneten.

Wenn der Mond nicht wäre, dann wäre es hier in New Mexico ganz dunkel (das ist natürlich das berühmte Photo von Ansel Adams aus dem Jahre 1941). Es gibt nur wenige Häuser, die Lichtverschmutzung ist klein. Lichtverschmutzung ist ein neues Wort, es gibt inzwischen sogar eine International Dark Sky Association, die sich darum kümmert. Dass es diese Organisation und Sternenparks gibt, weiß ich durch das Buch Durch die Nacht: Eine Naturgeschichte der Dunkelheit von Ernst Peter Fischer, das mir der Friedhard zu Weihnachten geschenkt hat. Es ist ein hochinteressantes Buch, auch wenn der Philosoph Ludger Lüdkehaus daran ein wenig herummäkelte.

Ich habe auch etwas zu mäkeln, weil kuriose Fehler in dem Buch sind. Dass Olbers im Index falsch geschrieben wird, das kann man hinnehmen. Aber da sind schlimme sachliche Fehler, die einem Autor von wissenschaftlichen Populärwerken niemals hätten passieren dürfen. Wenn da steht, das Olbers im Todesjahr Goethes, also 1832 sein Paradoxon formuliert, dann ist das Unsinn. Über die Durchsichtigkeit des Weltraums wurde 1823 veröffentlicht. Und auch der Satz 1820 gab er – vorgeblich aus Gesundheitsgründen – seine Praxis auf, um sich fortan intensiv und kontinuierlich mit dem Paradoxon zu beschäftigen ist ein klein wenig falsch. Im Oktober 1818 war seine Tochter Doris gestorben, ein Ereignis, das ihn etwas aus der Bahn geworfen hatte, er braucht Monate, bis er seinen Freunden Bessel und Gauß vom Tod seiner Tochter schreibt. 1820 stirbt seine Frau Anna Adelheid, mit der er seit 1789 glücklich verheiratet war, der kränkelnde Olbers hat das Gefühl, dass sein Leben ans Ende gekommen ist. Er gibt seine große Praxis 1821 auf, wird aber noch von Kollegen als Consilarius ans Krankenbett gerufen. Das Problem des Wissenschafthistorikers Ernst Peter Fischer ist, dass er zuviel schreibt, über fünfzig Bücher seit 1985, da gibt es Substanzverluste.

Ich habe aber aus dem Buch mitgenommen, dass sich der Philosoph Blumenberg auch mit dem Olberschen Paradoxon beschäftigt hat: Er hat in seinem Buch über 'Die Vollzähligkeit der Sterne' die hübsche und paradox klingende Formulierung gefunden, dass wir gerade dann keine Sterne sehen könnten, wenn es nur Sterne gäbe. Und tatsächlich: Wenn der Nachthimmel gleichmäßig erleuchtet wäre von den riesigen Sternenmengen des Kosmos, dann wäre eben nur ein durchgängiges Weiß, aber kein einzelner Stern zu sehen. Fischer verschweigt uns nicht, dass sich ein ganz anderer an die Lösung des Problems gemacht hat, jemand, den wir mit Nacht und Dunkelheit (Deep into that darkness peering, long I stood there, wondering, fearing, doubting, dreaming dreams no mortal ever dared to dream before) in Verbindung bringen, der aber kein Astronom ist. Es ist niemand anderer als Edgar Allan Poe in seinem Alexander von Humboldt gewidmeten Spätwerk Eureka, über das er sagte: I have no desire to live since I have done 'Eureka'. I could accomplish nothing more.

I design to speak of the Physical, Metaphysical and Mathematical — of the Material and Spiritual Universe — of its Essence, its Origin, its Creation, its Present Condition and its Destiny, sagt er in Eureka, das er als prose poem bezeichnet. Größer geht es ja nicht. Poe hält sich für einen großen Denker, der wie sein Detektiv Auguste Dupin alle Fragen der Menschheit lösen kann. Die egentliche Geschichte in The Murders in the Rue Morgue dient Poe als Illustration einer längeren theoretischen Abhandlung: The narrative which follows will appear to the reader somewhat in the light of a commentary upon the propositions just advanced. Aber ist derselbe Poe, der The Murders of the Rue Morgue schreibt, in der Lage, das ganze Universum zu erfassen und ganz nebenbei noch das Olbersche Paradoxon aufzulösen?

Ja, sagt Professor David N. Stamos in seinem Buch Edgar Allan Poe, Eureka, and Scientific Imagination. Ein Buch, von dem Sie das Vorwort hier lesen können. Stamos will für alle Poe Liebhaber schreiben: The book is written for all those who love Poe, for Poe scholars and related literary critics, for all those who love science, including philosophy and history of science, and for all those interested in the largely overlooked topic of scientific imagination. Das hat er bei Facebook gesagt. Und in seinem Vorwort schreibt er: 

One would naturally think that whatever the mystery it should surely have been solved by now, given the enormity of Poe scholarship and the fact that Poe died in 1849. Part of the problem, however, a large part in fact, is not only that Eureka is very unlike anything else in Poe’s corpus and is a difficult read, but that the vast majority of Poe scholars are professors of English and of American literature, with many having accomplished much as writers of fiction and of poetry in their own right. In other words, the problem is that almost invariably they lack the necessary understanding of science and of philosophy of science, from Poe’s time to the present, to see what is really going on in Eureka. The flipside of that problem, of course, is that pathetically few professional philosophers and historians of science have ever bothered to read Eureka, given its reputation among the literati themselves as an obscure work (and possibly a hoax) and that it was written, after all, by a mid-nineteenth-century poet and writer of horror, not a bona fide scientist or philosopher or historian of science. Having no motive to read Eureka in the first place, they would certainly have no motive to investigate into how Eureka connects with the rest of Poe’s corpus—let alone into how it connects with, say, the latest research in neuroscience. Enter yours truly and the book before you. 

Der yours truly ist natürlich unser Professor Stamos, er ist manchmal sehr witzig. Er will uns zeigen, was bei Poe die Welt im Innersten zusammenhält. Dass Poe eine bessere Erklärung als Olbers (der ja nur den Schweizer Jean-Philippe Loys de Cheseaux wiederholte) für die Dunkelheit der Nacht hat. Dass er die Big Bang Theorie schon formuliert hat und ich weiß nicht was alles. Die New York Times hatte 2002 die schöne Schlagzeile: What Did Poe Know About Cosmology? Nothing. But He Was Right. Am 3. Februar 1848 hielt Poe in der New York Society Library einen zweistündigen Vortrag zum Thema The Cosmogony of the Universe. Es war die Basis seines Buches Eureka. Ich weiß nicht, was die Zuhörer sich dabei gedacht haben. Haben Sie gewusst, dass sie da kosmologisch revolutionäre Sätze hörten? Wie zum Beispiel: Were the succession of stars endless, then the background of the sky would present us a uniform luminosity, like that displayed by the Galaxy – since there could be absolutely no point, in all that background, at which would not exist a star. The only mode, therefore, in which, under such a state of affairs, we could comprehend the voids which our telescopes find in innumerable directions, would be by supposing the distance of the invisible background so immense that no ray from it has yet been able to reach us at all. 

Die Dunkelheit bleibt. Sie könnten jetzt diese Seite von Professor Werner Schmutz von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich ansehen, vielleicht ist Ihnen dann alles klar. Aber die Dunkelheit draußen, die bleibt in der Nacht. Damit wir die Sterne sehen lönnen. Und mit Kant denken können: Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz. Nicht jeder hat diese Empfindungen. Als Ernst Kantorowicz nach einem Abend voller hitziger Diskussion über des Menschen eingeborenen Sinn für das Erhabene das Haus von Erwin Panofsky in Princeton verließ, sagte er: Wenn ich zu den Sternen aufblicke, empfinde ich meine eigene Sinnlosigkeit. Worauf Panofsky antwortete: Alles was ich empfinde, ist die Sinnlosigkeit der Sterne.




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