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Sonntag, 10. Oktober 2021

Kontratenor

Wenn Sie in Essen wohnen, können Sie heute Abend Philippe Jaroussky singen hören. Das nur ganz nebenbei, Kontratenöre haben bei mir immer Platz. Sie könnten jetzt mal die Posts nackte LiederChe farò senza EuridiceGreensleeves, Flora Tristan und La clemenza di Tito lesen. Ich komme auf das Thema, weil ich gerade gelesen habe, dass Oprah Winfrey in ihrem Buchclub den amerikanischen Schriftsteller Richard Powers als one of our country's greatest living writers bezeichnet hat. Und dem noch hinzugefügt hat: who writes some of the most beautiful sentences I’ve ever read. Wir wollen mal hoffen, dass sie ihn wirklich gelesen hat. In dem Post Anna Karenina: Translations hatte ich geschrieben, dass Winfrey die Anna Karenina Übersetzung von Richard Pevear und Larissa Volokhonsky gelobt hat, den Roman aber nie gelesen hat. Richard Powers zu loben, fällt nicht schwer, das tut heute jeder. Und den Pulitzer Preis hat er vor zwei Jahren sicherlich zu Recht bekommen.

Mir fiel bei dem Namen Richard Powers als erstes sein Roman The Time of our Singing (deutsch Der Klang der Zeit) ein, über den Thomas Steinfeld damals in der SZ sagt: Fast achthundert Seiten hat dieses Buch, und keine Seite ist zu viel. Sie können den Roman übrigens hier auf deutsch online lesen, wenn Sie wollen. Und beautiful sentences stehen da auch drin. Wie gleich am Anfang, wenn John Dowlands Time stands still  gesungen wird:

Irgendwo in einem leeren Saal singt mein Bruder noch immer. Seine Stimme ist noch nicht verhallt. Nicht ganz. Wo immer er sang ist etwas zurückgeblieben, etwas wie Vertiefungen, wie Rillen in den Wänden, die nur darauf warten, daß ein künftiger Phonograph sie wieder zum Leben erweckt.
Mein Bruder Jonah steht reglos an den Flügel gelehnt. Er ist gerade einmal zwanzig. Die sechziger Jahre haben eben erst begonnen. Noch liegt das Land im letzten Schlaf seiner trügerischen Unschuld. Niemand hat von Jonah Strom gehört, niemand außer unserer Familie. Dem was von ihr übrig ist. Wir sind nach Durham in North Carolina gekommen, in den alten Konzertsaal der Duke-Universität. Er hat die Endrunde eines landesweiten Gesangswettbewerbs erreicht, von dem er später behaupten wird, er habe nie daran teilgenommen. Jonah ist allein auf der Bühne, ein wenig rechts von der Mitte. Zur Seite geneigt, als suche er Rückhalt in der geschwungenen Flanke des Konzertflügels, seiner einzigen Zuflucht. Er beugt sich nach vorn, schweigend, gekrümmt wie die Schnecke eines Cellos. Die linke Hand stützt sich auf die Kante des Flügels, in der rechten hält er einen Brief, den es längst nicht mehr gibt. Er grinst, kann selbst kaum glauben, daß er hier ist, dann holt er Luft – und singt.
Eben noch hockt der Erlkönig auf meines Bruders Schulter und flüstert verführerisch vom Tod. Im nächsten Augenblick tut sich eine Falltür auf, und mein Bruder ist anderswo; ausgerechnet Dowland zaubert er hervor, eine hinreißende kleine Frechheit für die Ohren dieses verblüfften Liederpublikums, das gar nicht merkt, wie es ihm ins Netz geht:

Time stands still with gazing on her face,
Stand still and gaze for minutes, hours, and years to give her place.
All other things shall change, but she remains the same,
Till heavens changéd have their course and time hath lost his name.

Zeit steht still, schau ich in ihr Gesicht,
Steh still und schau, Minute, Stund und Jahr, sie schwindet nicht.
Wenn alles auch vergeht, bleibt sie doch ewiglich,
Bis der Planenten Lauf sich kehrt und Zeit heißt nicht mehr Zeit.

Zwei Strophen, und das Lied ist zu Ende. Stille liegt über dem Saal. Sie schwebt über den Reihen wie ein Ballon am Horizont. Zwei Taktschläge, in denen selbst Atmen ein Verbrechen wäre. Dann gibt es nur eins, was diesen Bann bricht: Applaus. Dankbare Hände setzen die Zeit wieder in Gang, der Pfeil nimmt seinen Flug wieder auf und bringt meinen Bruder auf den Weg zu seiner Bestimmung.
So sehe ich ihn, auch wenn er danach noch ein Dritteljahrhundert zu leben hat. Das ist der Augenblick, in dem die Welt ihn entdeckt, der Abend, an dem ich höre, wohin seine Stimme unterwegs ist. Ich selbst bin auch auf der Bühne, sitze an dem zerkratzten Steinway mit den abgegriffenen Tasten. Ich begleite ihn, versuche mit ihm Schritt zu halten und nicht der Sirenenstimme zu lauschen, die mir zuflüstert Laß die Finger ruhen, dein Boot zerschellen an der Tasten Riff, und stirb in Frieden.
Zwar mache ich keine schlimmen Patzer, aber der Abend zählt nicht zu den Höhepunkten meiner musikalischen Laufbahn. Nach dem Konzert bitte ich meinen Bruder noch einmal, er soll mich gehen lassen und sich einen ebenbürtigen Begleiter suchen. Wieder lehnt er ab. "Ich habe schon einen Begleiter, Joey".

John Dowland, der Melancholiker der englischen Renaissance, wird heute gerne von Kontratenören gesungen. Er kann natürlich auch von anderen Stimmlagen gesungen werden, Sting hat das gezeigt. Aber seit der Kontratenor Alfred Deller die elisabethanische Lautenmusik populär gemacht hat, hat er viele Nachfolger. Auch Philippe Jaroussky hat Dowland gesungen (Sie können jetzt das Flow my Tears von Sting und Jaroussky vergleichen), aber eine Aufnahme von Time stands still habe ich im Netz von ihm nicht gefunden. Ich nehme stattdessen Andreas Scholl (ich habe hier auch eine Version für die begleitende Laute), den ich sehr schätze. Das habe ich schon in dem Post Cantate erwähnt. Sie könnten auch Daniel Taylor hören, aber lesen Sie doch einmal des Text von Richard Powers, während im Hintergrund Time stands still läuft. 

Sie können natürlich The Time of our Singing als Oper sehen, hatte gerade Weltpremiere.

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