Heute vor 220 Jahren wurde die Oper La clemenza di Tito (deutsch manchmal nur als Titus) von Wolfgang Amadeus Mozart im Prager Ständetheater uraufgeführt. In der jüngsten Zeit erfreut sich La clemenza di Tito wieder des verstärkten Zuspruchs des Publikums, endet der Wikipedia Artikel. Ja, es ist erstaunlich: zehn Gesamtaufnahmen auf CD in den letzten zwanzig Jahren - die DVDs nicht mitgezählt. Auch Frau Netrebko hat ja schon bei der Oper mitgesungen, dann muss sie wirklich in sein. Es ist ein erstaunliches Phänomen, nach Mozarts Tod waren Die Zauberflöte und La Clemenza di Tito (die im Köchelverzeichnis nebeneinander liegen: 620 und 621) auf Jahrzehnte die beliebtesten seiner Opern. Obgleich sie nicht jeder mochte, Goethes Duzfreund Carl Friedrich Zelter (der zwei Jahre jünger als Mozart ist) auf keinen Fall. So schreibt er 1819 an Goethe: Den "Titus" von Mozart habe ich eben gesehen und gehört, und ich darf wohl sagen, daß er in Weimar besser gelang. Lauter Sängerinnen (4 an der Zahl), die sämtlich Großmütter sein könnten, doch alle von guter Übung. Die Campi muß in ihrer Jugend trefflich gewesen sein; jetzt kommt sie mir vor, als wenn sie schon im Mutterleib alt gewesen wäre. Solch ein Titus soll denn auch noch geboren werden, der in alle Mädchen verliebt ist, die ihn totschlagen wollen.
Mit dem letzten Satz spricht Zelter etwas an, was nicht zu leugnen ist: die Glaubwürdigkeit der Handlung ist gleich Null. Eine psychologische Durchdringung der Figuren, die Mozart in den Da Ponte Opern immer gelingt, findet hier nicht statt. Was bleibt sind edle Gesinnung, cardboard characters, eine musikalische Nummernrevue. Es ist eine Auftragsarbeit gewesen, die er nicht ablehnen konnte, er brauchte das Geld und die königliche Huld. Und so schreibt er dem Anlass gemäß eine opera seria, etwas was längst aus der Mode ist. Sie war gewissermaßen schon zu ihrer Entstehungszeit ein Relikt, schreibt Wolfgang Hildesheimer in seinem Mozart Buch. Mit solchen Relikten hat Mozart 1770 angefangen (Mitridate, re di Ponto), zehn Jahre später hat er mit Idomeneo die letzte opera seria geschrieben. Er hat den Auftrag auch nur gekriegt, weil Salieri abgelehnt hat. Jetzt schreibt er gegen die Zeit an, er schreibt noch in der Kutsche nach Prag. Sein Schüler Süßmayr darf mitschreiben. Wenig später ist Mozart tot, da darf der Anton Xaver Süßmayr noch das Requiem zu Ende schreiben.
Man hat die Oper Titus dann auch schnell vergessen. Ich kann das verstehen, ich mag sie auch nicht. Aber ich habe natürlich eine Aufnahme. Allerdings nur eine einzige, von anderen Mozart Opern habe ich ein Dutzend. Für meine alte Decca Aufnahme von 1967 verlangt ein Händler bei Amazon 182,98 €, für den Preis würde ich sie auch verkaufen. Ich habe die Decca Doppel-CD vor vielen Jahren gekauft, weil es nichts anderes auf dem Markt gab. Und weil es Decca war. Denn mit deren Aufnahmetechnik ist der Opernliebhaber ja immer gut beraten. Diese Decca Aufnahme hat auch noch einen besonderen Stellenwert: This Decca recording certainly kick-started interest in 'Tito' and acted as a catalyst for stage productions and other recordings, sagt Robert J. Farr in dieser lesenswerten ➱Rezension.
Ich finde Werner Krenn (der auch mal in Don Giovanni einen guten Ottavio an der Seite von Joan Sutherland gesungen hat) als Titus sehr gut. Karl Löbl und Robert Werba sind in dem Hermes Handlexikon Opern auf Schallplatten auch dieser Meinung. Das ist meiner Meinung nach das beste Lexikon dieser Art, weil die Autoren wirklich etwas von Oper verstehen und nicht nur Werbetexte von Schallplattenfirmen reproduzieren. Das tut das englische Magazin Gramophone natürlich auch nicht, aber Löbl und Werba rangieren bei Opern für mich noch weit vor den Kritikern von Gramophone.
Werner Krenn hat als Fagottist angefangen und war dann Tenor geworden, wobei seine Karriere bei den Wiener Sängerknaben sicherlich hilfreich war. Als Fritz Wunderlich starb, hat Karajan Werner Krenn sofort unter Vertrag genommen. Er durfte als erstes die Rezitative für Karajans Aufnahme von Haydns Schöpfung singen, die Aufnahme der Arien hatte Wunderlich vor seinem Tod noch vollendet. Werner Krenn, der natürlich keinen Wikipedia Artikel besitzt (Paul Potts, der noch nie eine Rolle in einer Oper von Anfang bis Ende gesungen hat, hat natürlich einen), hat seine Bühnenkarriere irgendwann aus familiären und gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Und ist mit seinem Fagott wieder ins Orchester zurückgekehrt. Hier im Wiener ➱Oboen-Journal des Jahres 2005 gibt es eine kleine Würdigung seiner Person, mehr gibt das Internet nicht her.
Es wäre jetzt unfair wenn ich für den Rest der Besetzung Zelters Lauter Sängerinnen (4 an der Zahl), die sämtlich Großmütter sein könnten, doch alle von guter Übung wiederholen würde. Es sind nicht nur zu den Zeiten von Carl Friedrich Zelter vier Sängerinnen auf der Bühne. Die Rollen des Sesto und des Annio, die eigentlich für Kastraten geschrieben wurden, werden auch heute meist von einem Mezzosopran gesungen. Obgleich heute natürlich kein Mangel an guten Kontratenören ist. Seit den Tagen von Alfred Deller hat sich da einiges getan.
Die Sängerinnen der Decca Aufnahme sind alle keine Großmütter. Sie sind alle noch jung, in guter Übung dazu. Lucia Popp und Brigitte Fassbaender sind noch keine dreißig, Teresa Berganza mal eben darüber. Über Maria Casula, die die Vitellia singt, weiß ich nichts, außer dass Giuseppe di Stefano über die Frau aus Sardinien gesagt hat: donna e artista di razza dalla voce estesa e in grado di risolvere eccellentemente ruoli da soprano e da mezzosoprano; mi dicono che ora sta insegnando egergiamente canto al Conservatorio di Cagliari e che diverse sue allieve sono in carriera. Die Rolle, die sie singt, ist musikalisch die anspruchvollste Rolle der Oper. Die Sängerin der Vitellia muss stimmlich über zwei Oktaven gehen können, nur mit der Fiordiligi in Cosi fan Tutte verlangt Mozart einer Sängerin etwas Ähnliches ab. Aber dafür schreibt er ihr mit dem ➱Non più di fiori auch eine tolle Arie, eigentlich den einzigen Ohrwurm der Oper. Wenn Sie das Beispiel da eben angeklickt haben, haben sie Vèronique Gens gehört (die natürlich auch in René Jacobs Cosi fan Tutte die Fiordiligi gesungen hat), eine der stilsichersten Mozartsängerinnen der neueren Zeit.
Das Wunderbare an Non più di fiori ist das konzertierende Solo-Bassetthorn im Hintergrund. Das Instrument mit dem warmen, dunklen Klang scheint ein Lieblingsinstrument von Mozart in seinem Sterbejahr zu sein, es taucht auch in der Zauberflöte und dem Requiem auf. Vielleicht könnte man sogar Bachs Cellosuiten darauf spielen. Wenn Sie jetzt glauben, dass ich völligen Unsinn rede, sollten Sie einmal Henk van Twillert zuhören. Das klingt auf einer richtigen Stereoanlage noch viel überzeugender als hier bei ➱YouTube. Seine Aufnahme der Cellosuiten mit einem Bariton Saxophon (Brilliant Classics) wäre mein Geheimtipp für Leute, die schon alles von Bach haben.
Vitellia kriegt nicht nur eine große Arie am Schluß, sie hat mit ➱Deh, si piacere mi voi auch gleich eine große Arie am Anfang. In diesem Beispiel singt Elina Garanca, die ihren Durchbruch vor Jahren in Salzburg mit der kleinen Rolle des Annio hatte. Man kann das auch anders angehen, wie ➱Dorothea Röschmann (Bild) zeigt, die mit dieser Rolle in jüngster Zeit brillierte. Was die Frau aus Flensburg hier macht, ist das, was alle neueren Inszenierungen mit der Oper versucht haben: etwas mehr Pepp in Rolle und Gesamtinszenierung zu geben. Wobei dann auch ganz unterschiedliche Auffassungen einer Figur herauskommen konnten. Vergleichen Sie doch einmal Vesselina Kasarovas Sesto in der ➱Harnoncourt Aufführung in Salzburg (mit viel Blut) mit der Inszenierung von Franz ➱Welser-Möst (ohne Blut) in Zürich. Das Schlimme bei dieser Tendenz zur Dynamisierung der Nummernrevue der opera seria ist natürlich, dass das gefürchtete deutsche Regietheater mit allen seinen Auswüchsen fröhliche Urstände feiert. Muss Vitellia bei ➱Non più di fiori derart unmotiviert über die Bühne rennen? Das lenkt doch alles nur von der Musik ab. Allerdings kann man sich dann schön auf die Frage konzentrieren, weshalb sie im kaiserlichen Palast nur ein Bett vom Sperrmüll haben.
Für die ➱Philippe Jaroussky Fans unter meinen Lesern habe ich auch eine Arie aus La clemenza di Tito. Allerdings ist diese Oper nicht von Mozart, sondern von Johann Adolph Hasse. Denn Pietro Metastasios Libretto aus dem Jahre 1734 ist von vielen Komponisten vertont worden. Hasse hat schon früh über Mozart gesagt: Dieser Knabe wird uns alle vergessen machen. Aber Hasse ist natürlich heute nicht vergessen, wenn es auch leider nicht all seine Opern auf CD gibt. Aber wenn ich ehrlich bin, würde ich eine schöne opera seria von Hasse Mozarts Titus jederzeit vorziehen.
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