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Dienstag, 5. Oktober 2021

Kunstretter


In seiner Komödie Besucher läßt Botho Strauß seine Hauptfigur Karl Joseph sagen: In Bremen vierundsechzig oder fünfundsechzig — ich gastierte im Danton— da hatten wir einen jungen Kollegen, der ist eines Abends, also es war schon Viertel eins. Dantons Tod, eine Viecherei, kein Bus fuhr mehr, da ist er plötzlich zur Rampe gelaufen, mitten im Text, und fragt ins Publikum hinunter, ob ihn jemand nach der Vorstellung mit nach Lesum nehmen kann. Dort hat er nämlich gewohnt. Ich nehme an, dass Botho Strauß diese Stelle extra für seinen Hauptdarsteller Will Quadflieg geschrieben hat, denn der hatte sein Landhaus im Kirchspiel Lesum. Der kleine Ort ist jetzt also in der deutschen Literatur, aber da ist er schon länger. Das wissen Sie, wenn Sie den Post Sommer in Lesmona gelesen haben. Nach Lesum will ich heute noch einmal hin, denn da wurde der Mann geboren, über den ich heute schreibe, ein Maler und Schriftsteller, ein Organist und ein Kunstretter. Und so gut wie unbekannt. Ich lasse ihn noch einen Augenblick ohne Namen.

Wenn wir nach der Lektüre von Marga Bercks Roman Sommer in Lesmona den Ort Lesum mit Parks und Villen verbinden, dann müssen wir auch bedenken, dass es hier seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch Industrie gibt, eine Wollwäscherei, Zigarrenfabriken und eine Porzellanfabrik. Die von Bremer Kaufleuten gegründeten Fabriken siedeln sich hier an, weil der Ort nicht zu Bremen gehört. Das hat etwas damit zu tun, dass Bremen nicht Mitglied des Deutschen Zollvereins ist. Ich bleibe mal eben bei der 1872 gegründeten Wollwäscherei, die gegenüber des Burger Bahnhofs lag. Der Vater des bis jetzt anonymen Mannes (welcher 1923 dieses Bild malt) ist da nämlich der Direktor. Nicht der Besitzer. Der Vorstand der Firma ist George Alexander Albrecht, ein berühmter Mann. Er ist schon mehrfach in diesem Blog erwähnt. Zum Beispiel in dem Post Knoops Park, weil er eine Tochter des Barons Knoop geheiratet hatte. Er kauft sich in Leuchtenburg den Nachbau des irischen Lowther Castle, und wird dort mit seiner Familie wohnen. Sein Urenkel Ernst Albrecht wuchs hier auf. War mal Ministerpräsident von Niedersachsen. Und der Vater von Ursula von der Leyen.

Die Wolle zu waschen ist das eine, die Wolle zu kämmen das andere. Und so wird George Alexander Albrecht zusammen mit anderen Bremer Kaufleuten 1883 in Blumenthal (das damals noch nicht zu Bremen gehört) die Bremer Wollkämmerei (BWK) gründen. Einer der Gründer ist übrigens der Wollhändler Johannes Fritze, den kennen Sie aus dem Post die Villa Fritze. Die BWK, die einmal die größte Wollkämmerei der Welt war, ist inzwischen auch schon Geschichte. Die Nordwolle der Brüder Lahusen, die beinahe den Bremischen Staat ruinierten, auch.

Im damals nicht bremischen Lesum beginnt 1892 das Leben des Anton Hugo Körtzinger. Auf dem kleinen Fluß Lesum wird er als fünfjähriger Junge segeln, zur Freude seiner Mutter, deren Vater Kapitän eines Segelschiffs war. Den in Vegesack geborenen Kapitän Bernhard Gärdes, der mit der Bark Ocean Auswanderer nach New York und Baltimore schippert, hat der junge Hugo Körtzinger allerdings nicht mehr kennengelernt. Das Meer und die Seefahrt werden für ihn aber noch eine große Bedeutung haben. Nicht nur wegen des Bildes Seemannsfrau mit Kind am Meer aus dem Jahre 1942. Denn 1931, als es dem jungen Maler wirtschaftlich schlecht geht, bekommt er eine Anstellung als Bordmaler beim Norddeutschen Lloyd.

In sechzehn Seereisen wird er um die ganze Welt kommen, hier hat er seine Staffelei in Spitzbergen aufgestellt. Er wird jetzt Bilder verkaufen, Aufträge bekommen, aber was noch wichtiger ist, er wird viele Freundschaften schließen. In den dreißiger Jahren ist viel Prominenz an Bord der Schiffe. Körtzinger hatte das Realgymnasium in Vegesack besucht, dieselbe Schule, die ich besuchte. Er ging wie ich in die Vegesacker Kirche, und er hat da mit zwölf Jahren begonnen, Orgel zu spielen. 1937 wird er sich eine Orgel kaufen, die er in seiner neugebauten Werkstatt in Schnega aufstellt.

In das kleine Kaff am Rande der Lüneburger Heide hatte es ihn verschlagen, denn Helene Peltret, die er 1914 geheiratet hat, kommt aus dem Ort. Er wird sie bei den meisten seiner Seereisen mitnehmen. Im Jahr seiner Hochzeit meldet er sich als Freiwilliger zum Militärdienst und landet bei der Reserve Ersatz-Eskadron des Kürassierregiments von Seydlitz in Halberstadt. Hat einen Reitunfall, der ihn davor bewahrt, den wirklichen Krieg kennenzulernen und wird aus gesundheitlichen Gründen vor dem Kriegsende entlassen. Er bleibt in Schnega, behält aber sein Bremer Atelier, bis das im Zweiten Weltkrieg zerstört wird.

Zwei Ehepaare auf dem Markusplatz in Venedig, sie sind auf einer Kreuzfahrt eines Lloyd Dampfers hier angekommen. Die Herren haben Tauben auf dem Hut. Links sehen wir den Bordmaler Hugo Körtzinger, der Herr rechts wird für den Künstler immens wichtig. Er heißt Hermann Fürchtegott Reemtsma und ist Millionär. Unser Künstler hat ihn auf einer Schiffsreise kennengelernt, jetzt sind die beiden befreundet. Sie werden zeitlebens befreundet bleiben. Reemtsma wird zum wichtigsten Mäzen des Malers. Dank seiner finanziellen Zuwendungen kann Körtzinger sich in Schnega ein Studio neben seinem Haus bauen und sich eine Orgel kaufen.

Aber er tut auch viel für Reemstma, er wird der wichtigste Kunstberater des Hamburger Millionärs. Seine Leistung beim Aufbau der Kunstsammlung Reemtsmas wird heute noch auf der Seite der Reemtsma Stiftung gewürdigt. Auf diesem Bild vom August 1934 umrahmen Körtzinger und Reemtsma den Bildhauer Ernst Barlach. Im Hintergrund ist der noch unvollendete Fries der Lauschenden zu sehen. Körtzinger, der dank der Hinweise des Bremer Bildhauers Dietrich Kropp schon früh Barlachs Werk kannte, hatte den Künstler und den Sammler zusammengebracht. Reemtsma wird zu einem Mäzen Barlachs: Ich bin Ernst Barlach nie anders begegnet als mit großer Ehrfurcht vor seiner Kunst. Ich bin 1934 zu ihm gefahren, weil mich seine Kunst, der ich erst zwei Jahre zuvor bewusst begegnet war, anging. Alles Weitere, was daraus erfolgte, war innere Verpflichtung und hat nichts mit Mäzenatentum zu tun, hat Reemtsma 1948 geschrieben.

Mit den Nationalsozialisten hatte Körtzinger nichts am Hut, er notiert 1933 in seinem Tagebuch: Dieser Quacksalberpolitiker ...  fürchterlich, daß ein solcher Mann in Deutschland Reichskanzler werden kann. Er betrachtet mit Sorge, wie Barlach angefeindet wird, seine Kunst plötzlich zu entarteter Kunst oder Verfallskunst wird. Nach Barlachs Tod wird Körtzinger eine kleine Schrift mit dem Titel Freundesworte: Ernst Barlach zum Gedächtnis herausgeben. Er wird bei der Beerdigung Barlachs ein plattdeutsches Gedicht vortragen, das mit den Versen Ligg Du man sachten, swig still, / lat spöken dar buten, wat will! beginnt. Körtzinger hat Joseph Goebbels mit einem Telegramm vom Tod Barlachs informiert, ich weiß nicht, ob das eine rührende oder eine ironische Geste ist. Er wird nach dem Tode Barlachs dafür sorgen (und das wird er Goebbels niemals mitteilen), dass zwei von Barlachs Werken der Vernichtung durch die Nazis entgehen. Der Güstrower Schwebende Engel wurde zwar eingeschmolzen, aber den Nachguss vom Originalmodell hütete Körtzinger auf seinem Hof in Schnega. Das hier ist der Kieler Geistkämpfer, wie er seit 1954 vor der Kieler Nikolaikirche steht.

Im Jahre 1948 sieht der Geistkämpfer so aus. Zersägt, zerlegt, in Holzkisten verpackt, hat er den Krieg auf Körtzingers Hof überstanden. Ernst Barlach ist 1938 gestorben, er hat das nicht mehr erfahren, dass Körtzinger zwei seiner Hauptwerke gerettet hat. Die Bronzegießerei Hermann Noack aus Berlin, die 1928 den Geistkämpfer gegossen hatte, restaurierte in den fünfziger Jahren die Teile im Innenhof des Kieler Rathauses. Wenn sich der Oberbürgermeister Andreas Gayk, der Kiel nach dem Krieg wiederaufbaut, nicht für den Ankauf der Statue eingesetzt hätte, stände sie wahrscheinlich immer noch in der Lüneburger Heide. Wahrscheinlich hat der Schäferhund von Körtzinger da auch mal dran gepinkelt.

Das Wikipedia Lexikon hat für mein Gymnasium eine Internetseite auf der es auch eine Kategorie für berühmte ehemalige Schüler gibt. Jürgen Trittin ist dabei und manche meiner Mitschüler, die hier schon im Blog vorkommen (wie Charlie KottkampClaus Jäger oder Bernd Neumann). Aber der Name Hugo Körtzinger fehlt in dem Artikel. Wer immer diese Liste aufgestellt hat, wusste wahrscheinlich nicht, dass es diesen wirklich bedeutenden Mann gibt. Doch der Maler und Kunstretter ist nicht ganz vergessen, es gibt einen Förderverein Hugo Körtzinger, und die Werkstatt in Schnega ist mit Mitteln der Reemtsma Stiftung renoviert worden und kann besichtigt werden.

Postscriptum: Professor Arne Körtzinger, der der Großneffe von Hugo Körtzinger ist, hat mir eine nette Mail geschrieben und mir gesagt, dass er dafür gesorgt hat, dass Hugo Körtzinger jetzt auch auf der Seite des Gerhard Rohlfs Gymnasiums unter den berühmten Schülern steht.


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