Seiten

Donnerstag, 7. Juli 2022

Kabul-Wunstorf


Bei der Gründung der Bundeswehr als reiner Verteidigungsarmee hätte niemand geahnt, dass eines Tages ein deutscher Verteidigungsminister sagen würde: Unsere Spur wird die Transformation der Truppe sein. Dafür stehen zwei Sätze. Erstens: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Er ist akzeptiert, auch wenn mir zu wenig darüber diskutiert wird. Der zweite Satz lautet: Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt. ... Grundsätzlich müssen deutsche Soldaten bereit sein, an Orten Verantwortung zu übernehmen, an die wir heute noch nicht denken. Ist das, was der ehemalige Stadtdirektor von Uelzen äußert, jetzt das, was die Engländer im Krieg mit German, German overalls verspotteten? Deutscher Größenwahn? Was Struck 2005 sagte, scheint heute ja schon stillschweigend akzeptiert.

Das habe ich in meinem ersten Jahr als Blogger in dem Post Heeresreform geschrieben. Und einen Post Afghanistan hat es hier schon in meiner ersten Woche als Blogger gegeben. Viele Leser waren damals erstaunt, dass Afghanistan schon im ersten Kapitel des 1851 erschienenen Romans Moby-Dick steht: In dem Kapitel, das die Überschrift Loomings trägt, stellt sich der Erzähler (den wir Ishmael nennen sollen) die Zeitungsschlagzeilen des grand programme of Providence vor, die seine Reise auf einem Walfänger ankündigen:

Grand Contested Election for the Presidency of the United States
Whaling Voyage by the one Ishmael
Bloody Battle in Affghanistan

Die Schlacht in Afghanistan, die hier erwähnt wird, bedeutete die Vernichtung einer ganzen englischen Armee im Jahre 1842. Der einzige Überlebende war ein Dr William Brydon, der einen Bericht darüber geschrieben hat. Vielleicht sollte man diesen Bericht zu den Berichten des Roten Kreuzes und der Feldjäger auf den Schreibtisch der Verteidigungsministerin legen. Und das Gedicht von Theodor Fontane dazu, das Das Trauerspiel von Afghanistan heißt. Oder vielleicht, da Politiker keine Zeit zum Lesen finden (außer Helmut Kohl, der las ja angeblich immer Hölderlin) nur die letzte Strophe:

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.

Angeblich soll das Fontane Gedicht (von dem ich hier eine schrille Darbietung von Nina Hagen habe) in einem kleinen Büchlein über Land und Leute enthalten gewesen sein, das den deutschen Soldaten vor dem Afghanistaneinsatz in die Hand gedrückt wurde. Das wäre sehr vorausschauend gewesen. Ende August sollte es einen Großen Zapfenstreich für die aus Afghanistan heimgekehrten Soldaten geben, die noch in dem sogenannten Resolute Support aktiv waren. Bei deren Ankunft am 30. Juni 2021 glänzte allerdings die Bundesregierung durch Abwesenheit. Die Feier wurde auf den Oktober verschoben.

Als der Brigadegeneral Jens Arlt im August 2021 in Wunstorf ankam, war er schwerbewaffnet. Ich weiß nicht, weshalb. Generäle tragen keine Waffen. Eine Pistole vielleicht. Als der Feldmarschall Archibald Wavell seinen Adjudanten fragte: Peter, have you seen my Browning? suchte Peter Coats vergeblich nach einer Pistole, Wavell suchte die Werke des Dichters Robert Browning. Die Geschichte findet sich in seiner Autobiographie Of Generals and Gardens von Coats. Und der Dichter Robert Browning findet sich in Wavells Gedichtsammlung  Other Men's Flowers.

Die Welt will Bilder. Und so kommt ein General mit einem Sturmgewehr nach Hause. Die normale Dienstwaffe für einen General wäre eine Pistole, aber der Brigadegeneral Arlt will uns durch den Feldanzug und das Sturmgewehr G36 etwas zeigen. Dass er aus einem gefährlichen Einsatz zurück ist. Und dass er noch mit dem G36 Frau Kamp-Karrenbauer umarmen kann. Die Inszenierung wird zu einem Symbol. Das ist in Zeiten des Krieges wichtig. Deshalb trägt der General Patton einen weißen Burberry Trenchcoat und zwei vernickelte Revolver mit Elfenbeingriff. Und Napoleon reitet in heroischer Pose über die Alpen. Aber nur auf dem Gemälde von Jacques-Louis David. In Wirklichkeit ritt Napoleon auf einem Lastenesel seinem Heer hinterher. Das kann man nicht verkaufen. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein kleiner Schritt, das hat Napoleon selbst gesagt.

Wir wollen die Leistung des Brigadegenerals Jens Arlt bei der Evakuierung von Truppen und Zivilisten nicht kleinreden, das Bundesverdienstkreuz hat er zu Recht bekommen. Er war der richtige Mann zur richtigen Zeit. Er hörte es nicht gerne, dass die Presse ihn zum Helden von Kabul stilisierte, aber das war er. Und er hat die zweiunddreißig Jahre seiner Dienstzeit nicht nur am Schreibtisch verbracht, er hat auch eine Ausbildung beim Kommando Spezialkräfte (KSK) durchlaufen. Die Eliteeinheit hat ja in der letzten Zeit Schlagzeilen gemacht, Rechtsradikalismus und verschwundene Munition. Vielleicht bekommt die Nachfolgerin von Frau Kramp-Karrenbauer das ja in den Griff. Mit dem Munitionsdiebstahl hatte ja schon ihre Vorgängerin, die Flinten Uschi, ihre Probleme.

Das Trauerspiel von Afghanistan hieß das Gedicht von Theodor Fontane, dies ist jetzt erstmal der letzte Akt des Trauerspiels. Wusste niemand, was kommt? Hat niemand den russischen Afghanistan Film Die neunte Kompanie von dem Sohn von Sergei Bondartschuk gesehen? Weihnachten 2009 hatte die damalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann in ihrer Weihnachtspredigt den Satz Nichts ist gut in Afghanistan gesagt. Es gab eine öffentliche Diskussion. Nicht darüber, was nicht gut in Afghanistan war, sondern darüber, ob Frau Käßmann das hätte ex cathedra sagen dürfen. Und dann auch noch in der Weihnachtspredigt. Wir sind gut im Verdrängen.

Die damalige dramatische Lage habe niemand vorhersehen können, hat der Außenminister Heiko Maas gesagt, und die Kanzlerin sagte genau dasselbe. Auf diesen Satz, der im eklantanten Gegensatz zur Wirklichkeit stand, hatte man sich offenbar geeinigt. In dem Interview mit Marietta Slomka vom 17. August 2021 windet sich der Minister herum und sagt, dass die Fehleinschätzung ja international gewesen sei. Niemand habe etwas gewusst. Die deutsche Botschaft in Kabul hatte zwar eine Warnung nach der anderen gesandt, aber: Die hören sollen, sie hören nicht mehr. Wenn die Politik schon schläft, was machen denn die in den Generalstäben? Hatten die nicht längst einen Plan B ausgearbeitet? Spielen die in den Stäben keine Szenarien mehr durch? Es war natürlich keine Flucht, die der General Arlt da in den zehn Tagen befehligte. Das mit der Flucht hört niemand gern. Sie fliehen nicht. Gott bewahre! Diesen Franzosen darf man die Wahrheit nicht sagen, wenn sie ihre Eitelkeit verletzt. Lässt Stendhal den jungen Fabrice del Dongo in seinem Roman Die Kartause von Parma nach der Schlacht von Waterloo sagen. Der Autor wusste, wie der Krieg aussieht, er hat Napoleon bis Moskau begleitet.

Auf der Seite der Bundeswehr klingt das Ganze dann so: Die Bundeswehr unterstützte vom 16. bis zum 26. August die Evakuierungsoperation des Auswärtigen Amtes. Die Sicherheitslage in Afghanistan hatte sich nach der Machtübernahme der Taliban verschlechtert. Die Bundeswehr unterstützte die laufenden Evakuierungsoperationen des Auswärtigen Amtes, um deutsche Staatsbürger und Staatsbürgerinnen sowie einheimische Ortskräfte und ihre Familien und weiteren Schutzbedürftigen in Sicherheit zu bringen. Mit Transportflugzeugen vom Typ A400M und A310 wurden insgesamt 5.347 Personen aus mindestens 45 Nationen evakuiert. Die Bundeswehr war bei dieser internationalen Mission eine Führungsnation. 

Musste der letzte Satz unbedingt sein? Die Bundeswehr als Führungsnation? Im Bundeshaushalt für das Jahr sind 211 Planstellen für Generäle ausgewiesen. Das heißt im Einzelnen: Besoldungsgruppe B 6 (Brigadegeneral, Flottillenadmiral): 130, Besoldungsgruppe B 7 (Generalmajor, Konteradmiral) 51, Besoldungsgruppe B 9 (Generalleutnant, Vizeadmiral) 27 und Besoldungsgruppe B 10 (General) 3. Mehr als zehn Prozent machen keinen Dienst bei der Truppe oder in einem Stab, die sitzen im Verteidigungsministerium. Aber auch da ist ihr Beruf ist das Si vis pacem para bellum. Ist da nicht einer dabei, der das alles hätte voraussehen können? An eine Exit Strategie hatte wohl niemand gedacht. Die damalige dramatische Lage habe ja eben niemand vorhersehen können.

An pathetischer Rhetorik in der Art von Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt hat es dem Krieg in Afghanistan nie gefehlt. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte: Ich habe dem amerikanischen Präsidenten George Bush die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands zugesichert. Die Missionen der International Security Assistance Force hatten Namen wie Enduring Freedom (sie sollte zuerste Operation Infinite Justice heißen) oder Resolute Support. Es wurden Milliardensummen ausgegeben, die afghanische Armee besaß zum Schluss nach Angaben der Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) 300.699 Soldaten. Wo waren die im August 2021? Das fragte sich auch General Arlt: Ich habe viele Kampfhandlungen erlebt, in der Hochphase. Militärisch muss man sich sicherlich die Frage stellen und ganz klar umreißen: Was war mit den Sicherheitskräften, die wir aufgebaut haben? Warum sind die so schnell umgekippt? Warum gab es keinen Widerstand? Das ist eine Frage, die ich mir auch stelle. Ich habe vor Ort viele Sicherheitskräfte ausgebildet

Die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP planen die Einsetzung des 1. Untersuchungsausschusses der 20. Wahlperiode zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Den dazu vorgelegten Antrag (20/2352) hat der Bundestag am Donnerstag, 23. Juni 2022, nach knapp 40-minütiger Debatte zur weiteren Beratung an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsführung überwiesen, ist auf der Seite des Bundestags zu lesen. Der Ausschuss soll nach der Sommerpause etabliert werden. Das hatte vor einem Jahr schon Armin Laschet gefordert: Alles das wird zu analysieren sein, auch schonungslos, auch ohne Rücksicht auf Parteien. Aber damals war Wahlkampf, da hat er über das größte Debakel, das die Nato seit ihrer Gründung erleidet, vieles gesagt. Immerhin hat der Bundestag ein Jahr nach den Ereignissen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beschlossen. Wir werden sehen, was daraus wird.

Die Engländer verlieren im Januar 1842 in Afghanistan eine ganze Armee, aber im Sommer des Jahres sind sie mit der Army of Retribution wieder da, um sich für die Massaker von Kabul and Gandamak zu rächen. Vielleicht auch nur, um General Robert Sale zur Hilfe zu kommen, der in Dschalalabad von den Afghanen eingeschlossen ist. Wenn der erste afghanische Krieg vorbei ist, wird der zweite kommen. Afghanistan ist zu einer Spielwiese des Great Game geworden. So hat der Geheimdienstoffizier Arthur Conolly den Konflikt zwischen England und Rußland genannt, der das ganze 19. Jahrhundert andauert. Berühmt wurde der Ausdruck durch Rudyard Kipling, in dessen Roman Kim der Satz Now I shall go far and far into the North, playing the Great Game steht. Der englische Historiker Peter Frankopan hat in seinem Buch Licht aus dem Osten (The Silk Roads) eine völlig neue Sicht auf die Weltgeschichte vorgetragen, in der Afghanistan eine ganz andere Rolle im Weltgeschehen spielt. Den ganzen Text dieses hochinteressanten Buches habe ich hier. Das wird Ralf Stegner, der der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses wird, bestimmt noch lesen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen