Montag, 15. Mai 2017

Munitionsdiebstahl


Als ich las, dass dieser Oberleutnant Franco A. tausend Schuss Munition bei der Bundeswehr geklaut haben soll, überfiel mich ein ungläubiges Staunen. Woher wissen die das so schnell? Normalerweise braucht der Bund Jahre, bis man herausfindet, dass etwas fehlt. In den zehn Jahren zwischen 2003 und 2013 wurden 524 Einbrüche, 294 Sachbeschädigungen, 55 Brandstiftungen und 460 Diebstähle, darunter 14 Munitions- und 30 Waffendiebstähle aktenkundig. Und das sind nur die offiziellen Zahlen, es gibt da noch eine Dunkelziffer. Dass da noch Handgranaten, Sprengkapseln und Sprengschnüre gestohlen worden sind, sowie Zünder und Sprengstoffladungen für Übungshandgranaten, Handgranaten und Sprengkörper, lassen wir mal unerwähnt. Und das Jahr 2014, in dem 35.000 Schuss Munition verschwanden, ist bei all diesen Zahlen noch nicht dabei. Dazu komme ich noch. Übertroffen wurden die 35.000 Schuss aus dem Jahre 2014 vor drei Monaten von einem Polizisten in Pinneberg, der 71.000 Schuss Munition besaß, ohne dafür eine Genehmigung zu haben. Wird das Sammeln von scharfen Patronen zu einem Volkssport?

Meine Herren, sagte der Bataillonskommandeur, richten Sie sich darauf ein, dass Sie um Null Einhundert wieder im Dienst sind. Es war gerade mal zehn Uhr am Abend, das würde nicht für viel Schlaf reichen. Es stand kein Nachtmarsch auf dem Programm, dies war etwas ganz Besonderes. Bei den Engländern war ein wertvoller viktorianischer Silberpokal geklaut worden, da verdächtigt man ja erst einmal die Deutschen. Die Sache war den Limeys auch ein wenig peinlich, deshalb hatten sie das auch nicht dem Bataillonskommandeur persönlich mitgeteilt, das hätte ich gewusst, weil ich der Verbindungsoffizier zu den Engländern war. Die ganze Sache lief schriftlich über die Standortverwaltung. Die englische Armee hatte den Truppenübungsplatz Bergen-Hohne zwar 1958 an die Bundeswehr abgegeben, aber heimlich hatten sie immer noch das Sagen. Weil sie Engländer waren. Und weil die 11. Husaren ein Elitebataillon waren, das schon bei Wellingtons Spanienfeldzug und bei ➱Waterloo dabei war. Hier sehen wir Prince Michael of Kent in der Uniform der 11. Husaren.

Um Null Einhundert (Natosprache) wurden die Türen der Mannschaftsräume aufgerissen und Unteroffiziere und Feldwebel filzten alles. In jedem Raum musste, das hatte der Kommandeur verfügt, ein Offizier anwesend sein. Der wertvolle viktorianische Silberpokal wurde nicht gefunden, dafür aber alles mögliche, was einwandfrei Eigentum der Bundeswehr war. Vier blaue Übungshandgranaten, 120 Schuss Gewehrmunition und Massen von 90 mm Panzerkartuschen vom M48. Auch die ganz großen, die der englische Chieftain Panzer verschießt. Sammler gibt es für alles. Ein Soldat wollte mir erzählen, dass er aus der Kartusche einen Blumentopf für seine Oma machen wollte. Es ist rührend, aber die Juristen reden hier von Eigentumsdelikten zum Nachteil des Dienstherrn. Der wertvolle viktorianische Silberpokal wurde nicht gefunden. Der war übrigens von den Holländern geklaut worden, wie sich Tage später herausstellte.

Diese kleine Geschichte aus dem Januar 1964 (lesen Sie mehr dazu in dem Post ➱Winston Churchill) ist in allen Teilen wahr. Ich erzähle sie nur, um zu zeigen, dass beim Bund geklaut wurde. Ich nehme nicht an, dass sich das geändert hat. Ich habe einmal als Offizier vom Dienst an einem Freitagnachmittag aus schier Schandudel, wie man in Bremen sagen würde, bei den Soldaten der Fernspähkompanie die Kofferräume ihrer Autos kontrolliert. Was dazu führte, dass ich in zwei Stunden einen Lastwagen voll Bundeswehreigentum sicherstellte und die Herren von der FSK 100 die Kaserne erst einmal nicht verlassen durften.

Am Montagmorgen hatte mein Kommandeur einen Anruf vom Kommandeur des 1. Korps und ich danach einen Termin bei meinem Kommandeur (drittes Fenster von links im ersten Stock). Der mir mitteilte, dass der Kommandeur des 1. Korps der Meinung sei, dass die Soldaten der Fernspähkompanie nicht von der Wache kontrolliert werden dürften, weil sie nur ihm unterständen. Das wollte er mir nur mitteilen. Ich wartete, ob da jetzt noch ein Donnerwetter käme, kam aber nicht. Er mochte die FSK auch nicht besonders. Die Staatsanwaltschaft Delmenhorst war im Vorjahr auch nicht der Meinung, dass die Soldaten der Fernspähkompanie außerhalb des Gesetzes stünden. Diejenigen, die eine Disco auseinandergenommen hatten, wurden ganz normal verurteilt. Die Fernspähkompanie (die es inzwischen nicht mehr gibt) ist schon einmal in dem Post ➱Uniformen erwähnt worden, sie kommt da im zweiten Teil des Posts vor. Es ist ein Post, der viele tausend Mal angeklickt worden ist, und alles, was da steht, ist wahr.

Lassen Sie sich nicht erzählen, dass irgendetwas nicht vorhanden ist, wenn Sie zu ihren Einheiten zurückkehren, sagte uns unser Taktikoffizier, ein im Dienst ergrauter Oberstleutnant, als wir die Heeresoffizierschule verließen. Alles, was in der STAN steht, ist auch vorhanden. Ich habe diesen Satz nie vergessen. Es wäre schön, wenn dem so wäre, aber der Stärke- und Ausrüstungsnachweisung (STAN) und das wirklich in der Truppe Vorhandene sind zweierlei Ding. Das ist so ähnlich wie bei den Lehrerzahlen, wo es noch nie einem Bundesland gelungen ist, einmal festzustellen, wieviel Lehrer wirklich Dienst tun.

Wenn eine Bundeswehreinheit routinemäßig eine Inspektion über sich ergehen lassen muss, dann ist natürlich alles da. Selbstverständlich. Weil man sich das Fehlende vorher bei anderen Kompanien zusammengeliehen hat. Oder es sich auf dem kaserneninternen Schwarzmarkt im Tausch gegen Bierkästen gekauft hat. Im Technik Bereich gab es immer einen semikriminellen Ersatzteilhandel. Der Leutnant Milo Minderbinder in dem Roman ➱Catch-22 von Joseph Heller ist keine Erfindung des Autors, die Minderbinders gibt es wirklich. Schlimm ist es auch, wenn man vor einer Inspektion zu viel besitzt. Der Kompaniechef, dem sein Unteroffizier der Waffenkammer nicht erklären konnte, wieso er 17.000 Schuss Gewehrmunition zu viel besaß, hat dieses surplus in der Nacht, bevor die Inspekteure kamen, im Wald vergraben. Natürlich sicherheitshalber eine Wache daneben gestellt.

Im Jahre 2014 sind aus einer Kaserne in Seedorf, einem kleinen Kaff bei Zeven, 35.000 Schuss verschiedener Kaliber geklaut worden. Unbemerkt in den Morgenstunden abtransportiert. Das Verteidigungsministerium ließ verlauten, dass ein Munitionsdiebstahl dieser Größenordnung bei der Bundeswehr seit dreißig Jahren nicht mehr vorgekommen sei. Davor offensichtlich schon, aber darüber schwieg man lieber. 30.500 Schuss aus diesem Diebstahl sind vor zwei Jahren in einer Lagerhalle in Delmenhorst aufgetaucht. Der entscheidende Tip kam von einem Angeklagten in einem Rauschgiftprozess in Bremen. Was dahintersteckte, wie die Munition aus der Fallschirmjägerkaserne in Seedorf in die Lagerhalle in Delmenhorst gelangte, ist nie aufgeklärt worden. Gegen zwei Wachsoldaten, die von der vorgegebenen Wachroute abgewichen waren, hat es Strafbefehle von sechzig Tagessätzen gegeben. Da ist mein fahnenflüchtiger Obergefreiter besser weggekommen, der eine halbe Woche im Puff in Clermont-Ferrand war (lesen Sie mehr dazu in ➱Élysée Vertrag). Er revanchierte sich für die Geldstrafe, indem er sinnlos Panzermunition verballerte, auch eine Form des Munitionsdiebstahls.

Die Bundeswehr nimmt Munitionsdiebstahl sehr ernst. Manchmal geht das bis ins Lächerliche, wenn man das ➱Urteil des Bundesverwaltungsgerichts über einen Fall liest, bei dem es um einen Schaden von 10 Mark geht. Die Bundeswehr schützte vor einem halben Jahrhundert Munition, Waffen und Gerätschaften selbst. Wir bewachten nicht nur unsere eigene Kaserne, sondern mussten von Zeit zu Zeit die atomaren Sprengköpfe für die Honest John Raketen in Dünsen bewachen. Wir sicherten nur den Außenkreis, innen herrschte das 5th US Army Field Artillery Detachment. Die waren voll auf Droge und schossen auf jedes Kaninchen. Nach einer Woche Wachdienst wurden sie ausgeflogen.

Heute bewacht die Bundeswehr so gut wie nichts mehr selbst. Die Armee ist kleiner geworden, die Wehrpflicht ist abgeschafft. Die Bewachung wird von privaten Sicherheitsfirmen übernommen, die nach dem UZw GBw handeln sollen. Die Aufträge werden nach den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit vergeben, sagt das Verteidigungsministerium. Man könnte die Aufträge auch nach qualitativen Kriterien vergeben, aber das tut man nicht. Wie die Bundesregierung sagt: Zurzeit besteht kein bundeseinheitlicher Qualitätsstandard in Form einer Zertifizierung von privaten Sicherheitsunternehmen. Das Ganze kostet den Staat 200 Millionen Euro im Jahr.

Wenn man den ➱Bericht der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken im Jahre 2014 liest, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Bundeswehr und Bundesregierung sind beinahe immer ahnungslos. Ganz besonders gefallen mir Passagen wie diese hier:

Ein eindeutiger Tatbestand ist nicht immer zu ermitteln. Aus Verfahrensfehlern bei der Dokumentation kann ein virtuelles Fehl an Munition entstehen, das als solches nicht feststellbar und damit nicht nachweisbar ist. Damit kann der Tatbestand eines Diebstahls weder entkräftet noch bestätigt werden.
     Eine eindeutige ursächliche Zuordnung als Diebstahl, Fehl oder Verlust ist daher nicht zweifelsfrei möglich und lässt keine Aussage zu Wiederholungsfällen in den einzelnen Kategorien zu.
     Nachfolgend werden Möglichkeiten, die zum Verlust bzw. tatsächlichem oder vermeintlichem Fehl an Munition führen können, genannt:
● Verluste bei Übungen/Schießvorhaben
● Fehl bei Bestandsüberprüfungen
● Fehler in der Buchführung
● Diebstahl.


Das virtuelle Fehl an Munition, das sind Formulierungen, die das Herz der Verteidigungsministerin hüpfen lassen. Und ja, den Diebstahl, den gibt es eben auch. Steht da. Wohin die fehlenden Waffen und die Munition wandern, das weiß die Bundesregierung nicht, der Militärische Abschirmdienst wurde erstaunlicherweise nicht eingeschaltet. Warum auch? Eine eindeutige ursächliche Zuordnung als Diebstahl, Fehl oder Verlust ist daher nicht zweifelsfrei möglich. Wenn Oliver Welke in seiner Heute Show aus der Antwort der Bundesregierung vorgelesen hätte, hätte er bestimmt eine halbe Stunde Lacher gehabt.

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1 Kommentar:

  1. Uups, da hätten sich wohl 1990 ein paar Kameraden neben die Russen am Brandeburger Tor stellen können ;)

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