Mittwoch, 17. Mai 2017

Züchtigung


Am frühen Abend, wir waren gerade auf dem Hof der Kasseler Jugendherberge beim Kicken, kam ein Bus mit blonden Schwedinnen an. Denen wir natürlich durch unsere Fußballkünste imponieren mussten. Was mir durch einen missglückten Fallrückzieher von Klaus L, für den er von jedem Schiedsrichter die rote Karte bekommen hätte, einen Nasenbeinbruch eintrug. Und meine Chancen sehr minimierte, bei den blonden Schwedinnen anzukommen. Nach einer durchwachten Nacht habe ich am nächsten Morgen mit meinem Freund ▹Wuddel einen Arzt gesucht. Wir nahmen nach einigen Kilometern Wanderung den ersten, auf dessen Schild HNO stand. Der hat den Nasenbeinbruch fachmännisch gerichtet, ein Pflaster drüber, fertig. Ich hatte keinen Krankenschein, war in keiner Kasse, ich habe meine Adresse hinterlassen, er hat meinem Vater nie eine Rechnung geschickt. Ärzte behandelten sich und ihre Angehörigen damals noch ohne Honorare. Das ist heute nicht mehr so.

Eigentlich wollte ich sofort wieder zurück ins Bett, aber der sadistische Herbergsvater (der mir in der Nacht eine emaillierte Schale ans Bett gebracht hat, damit ich das Blut da reinspucken konnte) holt mich da wieder raus, Wuddel und ich müssen zwei Stunden lang im Hof Kartoffeln schälen. Dafür packt er uns dann zur Belohnung zu einer ganz fremden Jugendgruppe in den Bus, die einen Nachmittagsausflug macht.

Irgendwann gibt es einen Halt an einer Talsperre oder einem großen See. Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich liege neben Wuddel unter einem schattenspendenden Baum im Gras, oben auf einem Hügel. Noch weiter oben steht der Bus an der Straße. Tief unter uns ist das Wasser. Über uns ein wunderbarer Sommerhimmel mit weißen Wattewölckchen, die Zeit steht still. Gut, ich habe eine kleine Gehirnerschütterung und habe die ganzen Schmerzmittel geschluckt, die mir der Doc gegeben hat. Ich bin high, und ich erlebe das alles ein wenig in slow motion. Das ist mir schon klar. Man hat immer wieder diese Augenblicke, in denen man alles registriert. In denen einem ist, als ob man träumt. And I asked myself about the present: how wide it was, how deep it was, how much was mine to keep. Eine blonde Schwedin an meiner Seite wäre jetzt auch schön gewesen, aber ich bin froh, dass Wuddel bei mir ist. Ich muss nachher, tüddelig wie ich bin, noch den Hügel hoch. Was für mich ein kurzer Augenblick eines besoffenen Glücks war, war für die Menschen hier achtzehn Jahre zuvor eine ▹Tragödie.

Am 17. Mai 1943 haben die Engländer im Rahmen der Operation Chastise (chastise heißt Züchtigung) Angriffe mit neuartigen Rollbomben gegen die Edertalsperre, die Möhnetalsperre und die Sorpetalsperre geflogen. Das ist für die Engländer ein gefeierter Sieg gewesen. Der Film ▹The Dam Busters ist leider bei YouTube verschwunden, ich habe hier aber einen kleinen ▹Ersatz und eine interessante Dokumentation (und bei OK.RU. habe ich den Film doch gefunden). Zur 70-Jahrfeier des Ereignisses hat man mit alten Lancaster Bombern den Angriff in England über dem Derwent Reservoir in Derbyshire noch einmal simuliert, so etwas lieben die Engländer ja. Vor allem, weil die Lancaster Piloten genau an dieser Stelle den Angriff auf die deutschen Talsperren eingeübt haben.

Ich habe inzwischen Paul Brickhills The Dam Busters gelesen, und ich besitze eine DVD des gleichnamigen Films. Damals mit meiner gebrochenen Nase, wusste ich nichts über die Operation Chastise, jetzt weiß ich beinahe alles darüber. Die 617. Staffel der Royal Air Force, die heute noch existiert, gab sich nach den Angriffen ein Abzeichen, das drei Blitze, eine gebrochenen Damm und das Motto Après moi le déluge zeigt. Aber die Sintflut, die Trinkwasser und Elektrizitätsversorgung des Ruhrgebiets für Wochen lahmlegt, tötet auch viele alliierte Kriegsgefangene. Luftmarschall Harris (Bild) war gegen die Operation Chastise, ihm schwebte schon damals so etwas wie ▹Dresden vor. Wir verdanken ihm Sätze wie: Trotz all dem, was in Hamburg geschehen ist, bleibt das Bomben eine relativ humane Methode. Arthur Harris war übrigens der einzige britische Air Marshall, der keinen Adelstitel erhielt.

Wenn es nach Harris gegangen wäre, hätte es überhaupt keine Spitfires gegeben, es wären nur Bomber gebaut worden. Aber es waren die Spitfires, die die ▹Battle of Britain gewonnen haben. Für Harris ist Flächenbombardement die Devise, neben dem Vornamen Bomber hat er noch einen zweiten Vornamen, Butcher, der Schlächter. Jeder zweite RAF Soldat verliert unter seinem Kommando das Leben. Weil Harris Deutschland brennen sehen will. Lübeck bombardiert er vor Dresden mal zu Probe, weil historische Stadtkerne so schön brennen. Hat er gesagt. Wenige Jahre nach seinem Tod hat Queen Mum ein Denkmal für Harris enthüllt. Viele Engländer waren der Meinung, dass sie da doch ein paar Pink Gins zuviel getrunken hätte und besser zu Hause geblieben wäre. So it goes.

Dieses So it goes steht immer wieder in Kurt Vonneguts Roman ▹Slaughterhouse Five. Vonnegut war als Kriegsgefangener in Dresden, er hat die Schrecken der Bombennacht erlebt. Wenn wir heute an die Dresdener Bombennacht und deren Opfer denken, scheinen wir nur über Rechtsradikale zu reden. Vonneguts Romanheld Billy Pilgrim hätte das seltsam gefunden. Sind die Neonazis dafür da, dass wir es vermeiden können, über Dresden nachzudenken? Diese junge Frau protestiert gegen Pegida. Deshalb hat sie sich mit dem Spruch Bomber Harris Do It Again beschriften lassen. Ist vielleicht sophisticated, aber ich verstehe es nicht. So it goes.


1 Kommentar:

  1. Ich finde immer die Geschichten besonders schön, besonders gut geraten, die aus einer persönlichen Geschichte plötzlich auf etwas ganz anderes verweisen. So wie hier. Als Dresdner stimme ich Ihnen aus vollstem Herzen zu.
    Von blonden Schwedinnen zu dieser Schlussfigur: Das muss Ihnen erst einmal einer nachmachen.

    AntwortenLöschen