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Donnerstag, 18. Juli 2019
Der Graf von der Insel
Nein, ich schreibe nicht über den Grafen von Monte Christo, ich schreibe heute mal eben über den französischen Dichter Charles Marie René Leconte de Lisle. Eigentlich hieß er nur Leconte, aber er fügte dem Namen ein de Lisle hinzu, weil er von einer Insel kam. Leconte de Lisle ist ein Wortspiel zu le comte de l’île, dem Grafen von der Insel. Die Insel, auf der Leconte geboren wird, heißt heute La Réunion, bei seiner Geburt hieß sie Île Bourbon, wenige Jahre zuvor war es die Île Bonaparte. Die Insel wird in diesem Blog schon in den Posts Mauritius und Waltz into Darkness erwähnt. Der französische Titel des Films ist La Sirène du Mississippi, fragen Sie mich nicht, weshalb. Auf deutsch heißt Truffauts Verfilmung des Romans von Cornell Woolrich übrigens Das Geheimnis der falschen Braut. Und im Gegensatz zu dem Roman beginnt Truffauts Film auf der Insel Réunion. Wie das Leben von Leconte de Lisle. Das natürlich nichts mit Catherine Deneuve zu tun hat, ich brauchte das nur als Aufmacher.
Der Dichter war einmal sehr berühmt, heute scheint Leconte de Lisle (der am 18. Juli 1894 starb) beinahe vergessen zu sein. Er hat klassische Philologie studiert und Ilias und Odyssée übersetzt. Die klassische Bildung scheint in seiner Dichtung immer wieder durch. Man kann das an dem Gedicht Die Aeoliden sehen, das es hier in deutscher Übersetzung gibt. Der Komponist César Franck hat es vertont, und viele Komponisten - wie zum Beispiel Debussy oder Marcel Prousts Freund Reynaldo Hahn - haben die Dichtungen von Leconte als Ausgangspunkt ihrer Kompositionen genommen.
Diese Karikatur zeigt uns den Dichter, der seine Gedichte unter dem Arm trägt (sein Werk findet sich übrigens ganz bei Wikisource), mit dem linken Arm trägt er einen Stuhl. Es ist kein gewöhnlicher Stuhl, wir können die Buchstaben V und H lesen, ein Zeichen dafür, dass Leconte der Nachfolger von Victor Hugo in der Académie Française sein wird und dessen durch den Tod freigewordenen Stuhl besetzen wird. Ob er wirklich auch noch Vergil übersetzt hat, wie das Tintenfass unten links andeutet, ist fraglich. Der Romanist Pierre Flottes führt in der Bibliographie von Lecontes Übersetzungen keine Vergil Übersetzung auf. Doch dass im Theater hinten im Bild Les Érinnyes gespielt werden, das ist richtig.
Les Érinnyes ist ein Versdrama im Stil der griechischen Tragödie, das auf Aischylos' Orestie beruht. Es wurde von Jules Massenet vertont, mit dem Leconte befreundet war. Obgleich die Aufführung ein großer Erfolg war, gefiel sie Leconte überhaupt nicht: il est vrai que la musique de Massenet n’ayant aucun rapport avec mes vers, mes situations et l’époque où se passe l’action, a dû par cela même attirer un plus grand nombre d’auditeurs que de spectateurs . Ces 80 musiciens font cependant un affreux tapage couvrant la voix de mes acteurs et me donnant des accès de rage (‘ ) Ce bruit infernal ( ) me donne des envies de meurtre ( ) c’est un affreux supplice, heureux les sourds.
Der Romanist Hugo Friedrich hat gesagt: Modernes Dichten ist entromantisierte Romantik. In seiner Dichtung wollte Leconte weg von der Romantik, wollte hin zu einer objektiven Dichtung. Was immer das ist, jede Zeit erfindet für sich eine Dichtungstheorie. L’histoire de la Poésie répond à celle des phases sociales, des événements politiques et des idées religieuses ; elle en exprime le fonds mystérieux et la vie supérieure ; elle est, à vrai dire, l’histoire sacrée de la pensée humaine dans son épanouissement de lumière et d’harmonie, sagte er in seiner Antrittsrede an der Akademie, die Victor Hugo gewidmet ist.
Man könnte zu ihm viel sagen, ein Blogpost reicht für sein Werk kaum aus. Die Verbindung mit Rilke, die im Wikipedia Artikel geäußert wird (Für deutsche Leser von speziellem Interesse ist sein Gedicht 'Le Rêve du jaguar' (deutsch 'Der Traum des Jaguars'), das Rainer Maria Rilke zu seinem Panther inspiriert haben könnte), wird allerdings von den meisten Romanisten nicht geteilt. Es gibt noch mehr Tiere in den Gedichten von dem Dichter aus Réunion, zum Beispiel La panthère noire oder die Elefanten. Les Élephants aus der Sammlung Poèmes barbare ist der erste Satz von Benjamin Godards Symphonie orientale. Und auch das Gedicht Le Colibri, das ich zum Schluss präsentieren möchte ist vertont worden, mehrfach. Hier die Version von Ernest Chausson.
Le vert colibri, le roi des collines,
Voyant la rosée et le soleil clair
Luire dans son nid tissé d'herbes fines,
Comme un frais rayon s'échappe dans l'air.
Il se hâte et vole aux sources voisines
Où les bambous font le bruit de la mer,
Où l'açoka rouge, aux odeurs divines,
S'ouvre et porte au coeur un humide éclair.
Vers la fleur dorée il descend, se pose,
Et boit tant d'amour dans la coupe rose,
Qu'il meurt, ne sachant s'il l'a pu tarir.
Sur ta lèvre pure, ô ma bien-aimée,
Telle aussi mon âme eût voulu mourir
Du premier baiser qui l'a parfumée
Ich habe dazu auch eine deutsche Übersetzung:
Der grüne Kolibri, König der Berge,
Sieht den Tau und das Licht der Sonne
In sein Nest aus feinem geflochten Gras erscheinen
Und fliegt in die Luft wie der strahlende Dämmer.
Hastig fliegt er zu den nachbaren Quellen,
Wohin der Bambus den Laut des Meeres trägt,
Wo sich die roten Aschoka ihre duftenden Flügel öffnen,
Die sein Herz mit einem Blitzschlag durchdringen.
Die güldene Blume wählt er als Stange,
Wo er so viel Liebe im Rosenblatt nippt,
Daß er stirbt, unwissend, ob er den Nektar ausgetrunken habe.
Ebenso auf deinen Lippen, oh, meine Geliebte
Hatte meine Seele vom ersten Kuß sterben wollen,
Mit dem sie parfümiert wurde.
Es würde zu lang, wenn ich jetzt noch mein Lieblingsgedicht von Leconte de Lisle präsentieren würde. Es heißt Mon poète, il est vrai und Wikisource hat den Text. Der Dichter hat es mit zwanzig Jahren geschrieben, ein halbes Jahrhundert vor der Aufnahme in die Académie Française, aber das dichterische Talent ist schon zu erkennen. Man kann mit der Übersetzungsmaschine DeepL eine deutsche Version des Gedichts erstellen. Aber so gut diese Maschine ist, sie macht auch witzige Fehler. Die dritte Zeile der dritten Strophe, J’approche doucement du sopha blanc et rose, übersetzt die Maschine mit Ich nähere mich langsam der weißen und rosa Sopha.Von einem Sofa ist da nicht die Rede. Da ich schon einmal bei dem Möbelstück bin, möchte ich noch William Cowper erwähnen, der das längste Sofagedicht der Literatur geschrieben hat. Da kriegt DeepL das mit dem Sofa aber richtig hin.
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