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Samstag, 10. Juli 2021

Une fillette d’un blond roux

Anna Karenina und Graf Wronski müssen noch etwas warten, ich stecke noch immer bei Proust fest. Das habe ich schon in Eine Liebe von Swann gesagt, aber es ist immer noch so. Weil ich beim Wegräumen all der Bücher, die ich für den Post aus dem Regal geholt hatte, sah, dass ich von Rudolf Schottländers Übersetzung nur den zweiten Band besaß. Warum nicht auch den ersten kaufen und lesen? Die wenigen Exemplare des Originals von 1926, die auf dem Markt waren, waren mir zu abgegriffen oder zu teuer. Warum nicht die preisgünstige Parkland Ausgabe kaufen? Die bekam ich bei booklooker von einer reizenden, gebildeten Dame für fünf Euro verkauft; Proust ist wirklich preisgünstig geworden, den Band Combray des Aufbau Verlags (Übersetzung: Eva Rechel-Mertens) kriegt man bei booklooker schon für 25 Cent. Davon habe ich inzwischen mehrere gekauft und an Freundinnen verschenkt. Und ihnen gesagt, dass man unbedingt Proust lesen muss. Gerade in den Zeiten von Corona.

Ich begann also, Combray in der Übersetzung von Rudolf Schottländer zu lesen, an dessen Übersetzungstil ich mich gewöhnt hatte, da ich gerade große Teile von Eine Liebe Swanns in der schönen Ausgabe von 1926, die mich vor vielen Jahren mal zwanzig Mark gekostet hatte, wiedergelesen hatte. An einer Stelle geriet ich ins Stolpern und fragte mich: steht das so bei Proust? Es war die Stelle, wo Marcel zum erstenmal die kleine Gilberte Swann sieht. Vorher hatten wir die poetische Beschreibung der Weißdornhecke, die ja für den Roman beinahe so prominent ist wie die berühmte Madeleine zum Tee. Und nun schaut ihn ein kleines rotblondes Mädchen mit blitzenden Augen herausfordernd an: 

Une fillette d’un blond roux qui avait l’air de rentrer de promenade et tenait à la main une bêche de jardinage, nous regardait, levant son visage semé de taches roses. Ses yeux noirs brillaient et comme je ne savais pas alors, ni ne l’ai appris depuis, réduire en ses éléments objectifs une impression forte, comme je n’avais pas, ainsi qu’on dit, assez «d’esprit d’observation» pour dégager la notion de leur couleur, pendant longtemps, chaque fois que je repensai à elle, le souvenir de leur éclat se présentait aussitôt à moi comme celui d’un vif azur, puisqu’elle était blonde: de sorte que, peut-être si elle n’avait pas eu des yeux aussi noirs,—ce qui frappait tant la première fois qu’on la voyait—je n’aurais pas été, comme je le fus, plus particulièrement amoureux, en elle, de ses yeux bleus.

Und dann kommt diese Stelle: Doch dann, als sie weitergingen, ohne sie gesehen zu haben, und mich überholt hatten, ließ sie ihre Blicke in ganzer Länge hinter mir herlaufen, freilich ohne besonderen Ausdruck, ohne daß es wirkte, als sähe sie mich, aber mit einer Unverwandtheit und einem verhohlenen Lächeln, das ich nach den mir beigebrachten Begriffen von guter Erziehung nur als einen Beweis kränkender Verachtung interpretieren konnte; und ihre Hand skizzierte gleichzeitig eine unanständige Gebärde, die öffentlich an einen Unbekannten gerichtet, nach dem kleinen Knigge, den ich in mir trug, nur einen Sinn haben konnte: den einer Schamlosigkeit.

Dinge wie verhohlenes Lächeln, kränkende Verachtung, unanständige Gebärde und Schamlosigkeit. Ich griff zur Suhrkamp Ausgabe, bei Eva Rechel-Mertens klang das nicht ganz so bösartig: schoß sie einen langen Blick zu mir herüber, der ganz ohne Ausdruck war und mir gar nicht zu gelten schien, aber so starr und mit einem versteckten Lächeln darin, daß ich ihn auf Grund der Vorstellungen von guter Erziehung, die man mir beigebracht hatte, nur als eine Bekundung äußerster Verachtung auffassen konnte; gleichzeitig machte sie flüchtig mit der Hand eine nicht ganz anständige Bewegung, die, wenn sie öffentlich einem Unbekannten gegenüber ausgeführt wurde, nach dem kleinen Höflichkeitskodex, den ich in mir trug, eindeutig eine ganz bewußte Ungezogenheit war.

Eine unanständige Gebärde ist etwas anderes als eine nicht ganz anständige Bewegung, und Schamlosigkeit ist etwas anderes als eine ganz bewußte Ungezogenheit. Rechel-Mertens glättet, das tut sie immer, dadurch macht sie Proust leichter lesbar für uns. Rudolf Schottländers Übersetzung ist ruppiger. Aber was war das für eine kleine schmutzige Gebärde, die die kleine Gilberte da macht? Wir müssen lange warten, bis uns der Erzähler die Sache verrät. Wir müssen bis zum Anfang des letzten Bandes Le Temps retrouvé warten, nach einigen tausend Seiten kommt der Erzähler noch einmal auf diese geste indécent zurück. In einem Gespräch mit Gilberte gesteht Marcel, daß er als Kind in Combray in sie verliebt war. Und er erfährt von Gilberte, daß sie ihn auch mochte (Moi je vous aimais. Et même deux fois je me suis jetée à votre tête. – Quand donc? – La première fois à Tansonville, vous vous promeniez avec votre famille, je rentrais, je n’avais jamais vu un aussi joli petit garçon) und ihn damals mit dieser unanständigen Geste dazu einladen wollte, an den schmutzigen Spielen der Kinder des Ortes in den Ruinen des Glockenturms von Roussainville teilzunehmen.

In dem Film Die wiedergefundene Zeit (Le Temps retrouvé) von Raúl Ruiz sind neben Marcello Mazzarella, der Proust spielt, Emmanuelle Béart als Gilberte und Catherine Deneuve als ihre Mutter Odette zu sehen. Der Regisseur hat die erste Begegnung von Marcel und Gilberte in seinem Film nicht vergessen. Die Béart ist sicher zu schön als Gilberte, man hat ja beim Lesen eines Roman immer andere Bilder der Frauen im Kopf als die, die uns eines Tages der Film präsentieren wird. Die Begegnung mit Gilberte (die vielleicht so ausgesehen haben mag wie die Béart, als die noch jung und noch kein Opfer des Schönheitschirurgen war) hinterläßt bei Marcel Spuren: Indessen ging ich weiter und trug nun für immer etwas mit nach Hause, was Kindern meines Alters kraft undurchbrechlicher Naturgesetze eigentlich noch unzugänglich war: eine erste Art von Liebesseligkeit in Gestalt eines rötlichen jungen Mädchens mit Sommersprossenhaut...

Die Wiederbegegnung mit Gilberte im letzten Band des Romans wird unserem Marcel das ganze schöne Bild seiner Jugend in Combray zerstören. Schmutzige Spiele in den Ruinen des Glockenturms von Roussainville gehörten nicht zu den Jugenderinnerungen, die Marcel hatte. In seiner langanhaltenden Liebe hat er nicht gemerkt, dass sich Gilberte ihm immer mehr entzieht. Er tröstet sich mit schönen Sätzen wie: Unser Glaube, daß ein Wesen an einem unbekannten Leben teilhat, in das seine Liebe uns mit hineintragen würde, ist unter allem, was die Liebe zu ihrer Entstehung braucht, das Bedeutungsvollste, dem gegenüber alles andere nur noch wenig ins Gewicht fallen kann. 

Und selbst, wenn er beschlossen hat, dass er sie nicht mehr liebt, kann er sie nicht vergessen. So können wir im vierten Band der Recherche lesen: Swann me quitta sans me serrer la main pour ne pas être obligé de faire des adieux dans cette salle où il avait trop d’amis, mais il me dit: 'Vous devriez venir voir votre amie Gilberte. Elle a réellement grandi et changé, vous ne la reconnaîtriez pas. Elle serait si heureuse!' Je n’aimais plus Gilberte. Elle était pour moi comme une morte qu’on a longtemps pleurée, puis l’oubli est venu, et, si elle ressuscitait, elle ne pourrait plus s’insérer dans une vie qui n’est plus faite pour elle. Je n’avais plus envie de la voir ni même cette envie de lui montrer que je ne tenais pas à la voir et que chaque jour, quand je l’aimais, je me promettais de lui témoigner quand je ne l’aimerais plus.

Es hat für Proust eine wirkliche Gilberte gegeben, die er als den Rausch und die Verzweiflung meiner jungen Jahre (ivresse et désespoir) bezeichnet hat. Céleste Albaret, die ihm den Haushalt und das Leben besorgt, sagt uns, er habe gesagt: j'étais fou d'elle. Es ist eine kleine Russin namens Marie de Bénardaky, die er beim Ballspiel auf den Champs-Élysées 1886 kennengelernt hatte. Dass er sie mag, dass er verrückt nach ihr ist, hat er ihr aber nie gesagt. In silence the heart raves. It utters words Meaningless, that never had A meaning heißt es so schön in Robert Penn Warrens Gedicht True Love. Proust schreibt seine Kinderliebe in seinen Roman: Da wir aber, wenn wir lieben, außerstande sind, als würdige Vorgänger des Wesens zu handeln, das wir sein werden, wenn wir nicht mehr lieben, können wir uns unmöglich den Geisteszustand einer Frau vorstellen, der wir trotz unseres Wissens, daß wir ihr gleichgültig sind, in unseren Tagträumen unaufhörlich, um uns glücklich einzulullen oder über unser Leid zu trösten, die gleichen Worte in den Mund gelegt haben, als wenn sie uns wirklich liebte.

Aber ist das alles wirkliche Liebe, oder steht es nur auf dem Papier? Liebt unser Marcel diese Gilberte Swann wirklich? Es gibt da eine andere Lesart: Als er es endlich schafft, in das Heiligtum des Hauses Swann einzudringen, wird deutlich, dass er in Gilberte eigentlich gar nicht deren Person, sondern die ganze geheimnisvolle Aura begehrt hat, die sich für ihn mit ihr verbindet: die Schönheit ihrer Mutter, das Prestige ihres Vaters,  die Gesellschaft ihres Salons einschließlich des bewunderten Bergotte. Die snobistische Komponente seiner Liebe zeigt sich denn auch darin, daß er diese jetzt von der Tochter auf die Mutter verlagert, ihr Besuche in Abwesenheit von Gilberte abstattet und mit ihr spazierengeht. In dem Maße, in dem Marcel sich an den Umgang mit Gilberte gewöhnt und das Geheimnis ihres Universums gelüftet ist, verblasst seine Liebe zu ihr.

Das steht in dem schönen Proust ABC von Ulrike Sprenger. In dem Post Spargel habe ich erwähnt, dass ich mein Exemplar verschusselt hatte. Ich habe die ganze Proust Abteilung aufgeräumt, aber ich fand das Buch nicht. Reclam hat das Buch gerade wieder neu aufgelegt, passgenau zum hundertfünfzigsten Geburtstag von Proust; da hätte ich eins bestellen können, ich bekomme bei dem Verlag Autorenrabatt. Aber ich wollte die alte Ausgabe haben, an die ich mich gewöhnt hatte. Ich suchte bei ebay und fand ein einziges preisgünstiges Exemplar, ich machte dem Händler per e-Mail ein Angebot. Wir gerieten e-mailmäßig ins Schwätzen, er sandte mir seine Telephonnummer und bat um einen Rückruf. Und mitten in der Nacht hatte ich mit einem Unbekannten, der sich in der Recherche gut auskannte, eine wunderbare Unterhaltung über Proust, Frankreich und die Katzen auf dem Père Lachaise. Mein Proust ABC bekam ich zum Discountpreis. Wenn Sie eine gepflegte Kunsthandlung und ein gutes Antiquariat suchen, dann kann ich Hans L. Merkle in Kirchheim nur empfehlen.

Ulrike Sprenger hat ihre Doktorarbeit über Proust geschrieben und ist jetzt Professorin für Romanistik. Sie hat auch ein Buch über Proust und die Frauen herausgegeben, das ich aber nicht besitze. Weil die Mitherausgeberin dieser Berichte eines Symposions der Proust Gesellschaft Barbara Vinken heißt, und die lese ich nicht. Punkt. Über die habe ich schon in den Posts Damenmode und Lederjacken kleine Bösartigkeiten verlauten lassen. Es gibt ein anderes Buch, das auch den Titel Proust und die Frauen hat, das hat allerdings als Autorin niemand anderen als Ursula Voß. Die ist keine Professorin und hat keinen Wikipedia Artikel, aber sie gehörte zu den Gründern der Marcel Proust Gesellschaft und ist die Proust Kennerin schlechthin. Sagt ihr Verlag, ich kann da nicht widersprechen. 

Ich habe ihr hervorragendes Buch Kleider wie Kunstwerke: Marcel Proust und die Mode schon in dem Post über die Pariser Haute Couture und in dem Post Orchideen erwähnt. Und für Proust & Gilberte habe ich ihre Bücher Proust und die Frauen und Kindheiten um Marcel Proust benutzt. Diese Dame hier, eine Prinzessin de Polignac, hat Proust natürlich gekannt. Die Kunstmäzenin, die auch einen Salon unterhält, hieß vor ihrer Heirat Winnaretta SingerDie Prinzessin ist in die Musik verliebt wie eine Nähmaschine in den Stoff!, hat Jean Cocteau über sie gesagt. Ist nicht besonders geistvoll, das mit der Nähmaschine ist natürlich eine Anspielung auf ihre Herkunft, sie ist eine Tochter des Nähmaschinenkönigs Isaac Merritt Singer. Winnaretta Singer hat sich auf diesem Portrait selbst gemalt, als eine junge Intellektuelle mit einem Buch in der Hand. Sie wird zuerst einen Prinzen namens Louis de Scey-Montbéliard heiraten. 

Ihre Schwester Isabelle wird einen französischen Herzog heiraten und 1896 Selbstmord begehen. Hat sich aber kurz zuvor noch von Jean Béraud als Madame Récamier Replik malen lassen. Winaretta wird sich um die Kinder ihrer Schwester kümmern. Diese transatlantic marriages sind jetzt große Mode, der berühmte englische Journalist W.T. Stead (der mit der Titanic untergegangen ist) hat das als gilded prostitution bezeichnet. Die Bezeichnung hat Maureen E. Montgomery mit ihrem Buch 'Gilded Prostitution': Status, Money and Transatlantic Marriages aufgenommen. Die Töchter der amerikanischen Millonäre des Gilded Age heiraten jetzt in die europäische Aristokratie. 

Wie diese von Giovanni Boldoni gemalte Dame, über die Marcel Proust sagte: Ich sah noch nie ein Mädchen mit einer solchen Schönheit, Intelligenz, sowie Güte und Charme. Sie heißt Gladys Marie Deacon und wird Proust (der ihr Gast bei der standesamtlichen Trauung war) nach Blenheim einladen, das der Herzog von Marlborough von der Mitgift seiner ersten Frau Consuelo Vanderbilt hatte renovieren lassen. Aber Proust ist zu krank, um der Einladung zu folgen. Auf die Hochzeit mit dem Herzog hatte Gladys fünfundzwanzig Jahre warten müssen; sie war schon die Geliebte des Herzogs, als der die Vanderbilt Erbin heiratete. If I was only a little older I might catch him yet. But hélas! I am too young though mature in the arts of woman's witchcraft and what is the use of one without the other, hat sie damals gesagt. Prinzessinnen, Herzoginnen und Damen, die wir aus dem Posts Demimonde und les grandes horizontales kennen, das ist die Welt von Proust.
 
Wenn John Singer Sargent die Prinzessin de Scey-Montbéliard malt, trägt sie ein Abendkleid. Nicht von der Eleganz dieses Kleides von Worth hier, aber immerhin ein Abendkleid. Sargent wird sie nicht nur malen, er wird auch für sie Bilder von Manet kaufen. Die Prinzessin mit dem Millionenvermögen liebt Bilder von Manet. Sie wird La Lecture besitzen und den größten finanziellen Beitrag für den Ankauf von Manets Olympia beisteuern. Von dem Prinzen Louis läßt sie sich nach vier Jahren scheiden und heiratet den dreißig Jahren älteren Prinz de Polignac. Proust schreibt sie erstaunlicherweise nicht in seinen Roman hinein. Diese Dame in dem Lilienkleid von Worth schon: Ich hatte mich, in Wirklichkeit leider, dafür entschieden, die Frau zu lieben, die vielleicht die größte Zahl von verschiedenartigen Vorteilen auf sich vereinigte und in deren Augen ich deswegen nicht hoffen konnte, auch nur irgendein Ansehen zu genießen; denn sie war ebenso reich wie der Reichste, der daneben nicht auch noch adlig war, ganz zu schweigen von ihrem persönlichen Charme, durch den sie tonangebend und unter allen gewissermaßen die Königin war. Die Gräfin Greffulhe, die unerreichbar für Proust ist, wird für ihn zur Herzogin von Guermantes werden. 

Die jungen Damen mögen Gilberte oder Albertine heißen, sie mögen Kleider von Charles Worth oder Fortuny tragen, immer gilt für sie: nur gucken, nicht anfassen. Aber wie das Leben so ist, sie bleiben nicht forever young, nicht ewig jung und schön. Beim letzten Treffen mit Gilberte erkennt Marcel seine Gilberte nicht wieder, sie ist eine dicke Dame geworden: Une grosse dame me dit un bonjour pendant la courte durée duquel les pensées les plus différentes se pressèrent dans mon esprit. J’hésitai un instant à lui répondre, craignant que, ne reconnaissant pas les gens mieux que moi, elle eût cru que j’étais quelqu’un d’autre, puis son assurance me fit au contraire, de peur que ce fût quelqu’un avec qui j’avais été lié, exagérer l’amabilité de mon sourire, pendant que mes regards continuaient à chercher dans ses traits le nom que je ne trouvais pas. Tel un candidat au baccalauréat, incertain de ce qu’il doit répondre, attache ses regards sur la figure de l’examinateur et espère vainement y trouver la réponse qu’il ferait mieux de chercher dans sa propre mémoire, tel, tout en lui souriant, j’attachais mes regards sur les traits de la grosse dame. Ils me semblèrent être ceux de Mme de Forcheville, aussi mon sourire se nuança-t-il de respect, pendant que mon indécision commençait à cesser. Alors j’entendis la grosse dame me dire, une seconde plus tard : « Vous me preniez pour maman, en effet je commence à lui ressembler beaucoup. » Et je reconnus Gilberte.

Als sie noch jung und noch nicht dick war, sah sie vielleicht so aus. Auf jeden Fall auf dem Bild Gilberte Swann et des amies au Bois de Boulogne von Kees van Dongen. Das finde ich sehr witzig. Heute vor hunderfünfzig Jahren wurde Marcel Proust geboren. In der Zeit reden Barbara Vinken und Jochen Schmidt miteinander. Der Reclam Verlag und Suhrkamp machen für ihre Verlagstätigkeit Werbung im Internet. Suhrkamp kann auf die neu erschienenen frühen Erzählungen Der geheimnisvolle Briefschreiber verweisen, Reclam auf die Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer und die erheblich überarbeite Neuauflage des Proust ABC von Ulrike Sprenger. Die hat jetzt ein Vorwort von Alexander Kluge bekommen, mit dem Ulrike Sprenger bei dctp.tv zusammenarbeitet. Kluge hat da einen interessanten Gedanken:

Der Vater Marcel Prousts war ein Arzt. Er war verantwortlich für Frankreichs Abwehr der vierten und der fünften Attacke der Cholera. Eine seiner Antworten war die Quarantäne. Diese Abschottung wiederholt sich dann in den Räumen, in denen der Poet Marcel Proust, sein Sohn, lebte und arbeitete. Kork-Täfelung, schwere, schalldichte Vorhänge, Verdunkelung gegen die Werbewelt, Hysterie, die Elektrizität und Unruhe der Gegenwart: Davor schützt das abgeschottete Zimmer den Dichter. In dieser Trennung von der Aktualität gedeiht seine Einbildungskraft.
       Die Quarantäne, die wir derzeit erleben, ist nicht freiwillig gewählt. Neben der Spiegelung des Ernstes der Lage ist eine solche Quarantäne aber auch heute ein 'literarisch wirksames Instrument'. Die Abschottung begünstigt die Konzentration. Sie potenziert das Organ des Poetischen: die Introspektion. Es geht um die Neuordnung der Eindrücke, das Entstehen neuer Übersichtlichkeiten in den Labyrinthen der Erfahrung. Das ist das Thema von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Für den Dichter ist die Abschottung ein Instrument der Wahrnehmung. Wie eine der Optiken im aufkommenden Zeitalter des Stereoskops, der Fotografie und des Films.
       Dem Gehäuse, in dem der Hieronymus Proust dichtet, und auch der Abgeschlossenheit, zu der wir derzeit gezwungen sind, entspricht, wie gesagt, der Cordon Sanitaire, den der Vater Marcel Prousts als Arzt entwarf. 

Proust in den Zeiten der Corona. In Essen gibt es eine Buchhandlung, die Proust Wörter+Töne heißt. Die hat auch einen Lieferservice, die bringt Ihnen Proust mit ihrem Proust-Mobil ins Haus. Die nette Dame, die mir Schottländers Übersetzung verkauft hat, hat mir gesagt, dass ihr Buchhändler in den Corona Tagen mehr Proust verkauft hätte, als je zuvor. Das hätten wir uns denken können, denn Proust hat gesagt, dass sein Buch unter den zerstreuten Geistern eine Einheit schaffen und  den verwirrten Herzen die Ruhe wiedergeben kann (il ferait aussitôt l' unité dans les esprits épars et rendrait le calme aux cours troubles).



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