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Freitag, 16. Juli 2021

russischer Adel


In Meyers Konversations-Lexikon von 1888 kann man lesen: Großfürst (russ. Weliki Knjas, franz. Grand-Duc), früher Titel der Beherrscher von Moskau sowie einiger andern russischen Fürsten, z. B. derjenigen von Kiew und Nowgorod, der Beherrscher von Litauen und daher später auch der Könige von Polen. Gegenwärtig nennt sich der Kaiser von Rußland „G. von Smolensk, Litauen, Wolhynien, Podolien und Finnland“, und auch alle Prinzen und Prinzessinnen seines Hauses führten seither G. und Großfürstin in Verbindung mit dem Prädikat ‚Kaiserliche Hoheit‘. Nach einer Modifikation der kaiserlichen Hausordnung vom Juli 1886 soll der Titel G., Großfürstin und Kaiserliche Hoheit fortan jedoch nur den Söhnen, Töchtern, Brüdern und Schwestern des Kaisers sowie dessen Enkeln männlicher Nachkommenschaft zustehen. Die übrigen Mitglieder des kaiserlichen Hauses sollen den Titel Fürst, Fürstin oder Prinzessin kaiserlichen Geblüts führen mit dem Prädikat ‚Hoheit‘ oder ‚Durchlaucht‘.

Anna Kareninas Bruder ist ein Fürst. Dann muss der Vater der beiden auch ein Fürst gewesen sein. Dann wäre Anna eine Prinzessin. Oder? Wronski ist ein Graf. Wie Leo Tolstoi, aber welchen gesellschaftlichen Status haben russische Grafen um 1870? Ich habe Schwierigkeiten, mich durch alle Titel und Anreden in Anna Karenina hindurchzufinden. There are many characters in 'Anna Karenin'—too many if we look in it for a work of art in which the action shall be vigorously one, and to that one action everything shall converge, sagt Matthew Arnold in seinem Essay zu Tolstoy. In der Welt von Prousts Faubourg Saint-Germain, Fontanes brandenburgischem Adel oder Powells englischer High Society habe ich diese Schwierigkeiten nicht. Da habe ich das Gefühl jedermann zu kennen. Tolstoi gehörte dem russischen Adel an, er kennt diese Welt. Oder auf jeden Fall Teile davon, den russischen Landadel. 

Ludwig Renn hat über einen seiner Romane gesagt: Man sollte mein Buch auch als historisches Dokument sehen, das einfach festhält, was bald niemand mehr von nahem erlebt haben wird. Ludwig Renn ist adelig, er heißt eigentlich Arnold Vieth von Golßenau, sein Roman heißt Adel im Untergang. So könnte Tolstois Roman Anna Karenina auch heißen. Auch für Matthew Arnold ist Tolstois Roman piece of life: But the truth is we are not to take 'Anna Karenin' as a work of art; we are to take it as a piece of life. A piece of life it isAlle große Literatur ist eigentlich Untergangsliteratur. Herman Melville schreibt über den Walfang, als der keine Rolle mehr spielt, Joseph Conrad beschreibt den Untergang der Welt der Segelschiffe. Thomas Hardys ländliches Wessex geht durch die Industrialisierung immer mehr verloren, in Faulkners Romanen geht die Welt der Großgrundbesitzer des Südens unter. Wie die Aristokratie bei Proust. Oder das k.u.k. Östereich bei Joseph Roth.

Proust war sicherlich in der Welt zuhause, die er beschrieb. Über die Armee wird der élève sous-officier de réserve Proust nicht so viel schreiben. Anthony Powell war in Eton und Oxford, seine Frau kam aus dem englischen Hochadel; die Welt, die er uns in seinem roman fleuve A Dance to the Music of Time vorstellt, ist seine eigene Welt. Die Welt der englischen Upper Class. Der Sohn eines Berufoffiziers wird im Zweiten Weltkrieg Offizier sein, und auch diese Welt spielt bei ihm eine Rolle. Als man ihm den Adelsstand anbietet, lehnt er ab. Der Herr hier auf dem Bild kommt nicht aus dem russischen Adel, obgleich er sehr aristokratisch aussieht. Es ist Anton Tschechow, der Enkel eines Leibeigenen. Tolstoi hat über ihn gesagt, er sei einer der wenigen Schriftsteller, die man, ähnlich wie Dickens oder Puschkin, immer wieder von neuem lesen kann. Allerdings mochte er Tschechow Theaterstücke überhaupt nicht, was er ihm auch schrieb: Anton Pawlowitsch, Shakespeare war ein schlechter Schriftsteller und Ihre Theaterstücke halte ich für noch schlechter.

Theodor Fontane ist nicht adelig, er geht nicht in der Welt des brandenburgischen Adels ein und aus. Auf seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg ist er Gast in vielen Gutshäusern, aber eben nur Gast. Macht das seine Gesellschaftsromane weniger zuverlässig in der Beschreibung der sozialen Zustände? Er war Journalist, bevor er Romanautor wurde, und er war als Journalist ein genauer Beobachter. Und das bleibt er sicher auch in seinen Romanen. Im Jahre 1896 schrieb Fontane an Robert Lessing: Im Winter habe ich einen politischen Roman geschrieben (Gegenüberstellung von Adel, wie er bei uns sein sollte und wie er ist). Dieser Roman heißt: 'Der Stechlin'. Es ist dies der ganz in Nähe von Meseberg gelegene See, den Ihr Herr Sohn gewiß kennt und Sie vielleicht auch. Dieses Gegenüberstellung von Adel, wie er bei uns sein sollte und wie er ist, ist immer wieder zitiert worden. Dubslav von Stechlin ist für Fontane der Typus eines Märkischen von Adel, aber von der milderen Observanz, eines jener erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge verwandeln.

Der alte Fontane ist nicht mehr der Dichter, der den märkischen Adel verherrlicht, das können wir schon seinem Gedicht An meinem Fünfundsiebzigsten entnehmen. Im selben Jahr, in dem er das Gedicht schreibt, können wir in einem Brief von ihm an Georg Friedlaender lesen: Von meinem vielgeliebten Adel falle ich mehr und mehr ganz ab, traurige Figuren, beleidigend unangenehme Selbstsüchtler von einer mir ganz unverständlichen Borniertheit an Schlechtigkeit nur noch von den schweifwedelnden Pfaffen (die immer an der Spitze sind) übertroffen, von diesen Teufelskandidaten, die uns diese Mischung von Unverstand und brutalem Egoismus als „Ordnungen Gottes“ aufreden wollen. Sie müssen alle geschmort werden. Alles antiquiert. Die Bülows und Arnims sind zwei ausgezeichnete Familien, aber wenn sie morgen von der Bildfläche verschwinden, ist es nicht bloß für die Welt (da nun schon ganz gewiss), sondern auch für Preußen und die preußische Armee ganz gleichgültig und die Müllers und Schultzes rücken in die leergewordenen Stellen ein. Mensch ist Mensch.

Dieser Herr findet sich im Juli 1860 in der Liste der Kurgäste von Bad Kissingen als Graf Leo Tolstoi, Kaiserl. russ. Lieutenant a.D. Er ist nicht mehr in der Armee, aber offenbar ist er noch stolz auf seinen Dienstgrad. Er weiß, was der Krieg bedeutet. In die Armee ging er, um seinem bisherigen Leben zu entkommen, dem typischen Leben des russischen Adels: Alkohol, Frauen, Kartenspiel. Der junge Graf landet im Kaukasus, danach im Krimkrieg. In der Armee beginnt er zu schreiben, über seine Kindheit, über den Krieg. Seine Sewastopoler Erzählungen werden die Keimzelle eines der größten Bücher der Weltliteratur sein: Krieg und Frieden. Es ist ein Roman, in dem alle Offiziere adelig sind. Wenn man Offizier in der russischen Armee ist, ist man das automatisch. Bis 1762 gab es eine Dienstpflicht für den Adel, Andrej Bolotow hat von der Aufhebung profitiert. In Krieg und Frieden haben wir Prinzen, Fürsten und Grafen, es ist verwirrend. Aber neben ihnen haben wir auch Personen von einfachem Adel. Man hat häufig bei Tolstoi das Gefühl, dass ihm die einfachen Menschen näher stehen. 

Wie der Hauptmann Tuschin, der nichts Offizierhaftes an sich hat und eine Art Komplementärfigur zu Mütterchen Russland ist. Der seinen General, den Fürsten Bagration (der in Bondartschuks Film genau so aussieht wie auf den Portraits, die es von ihm gibt), auf eine seltsame Weise grüßt: wobei er mit einer verlegenen, ungeschickten Bewegung, ganz und gar nicht in der Weise, wie Militärpersonen zu salutieren pflegen, sondern eher ähnlich wie Geistliche den Segen erteilen, drei Finger an den Mützenschirm legte. Er wird zum stillen Helden der Schlacht: Wohin er feuern solle und mit welcher Art von Geschossen, darüber hatte Tuschin von niemandem Befehl erhalten; sondern er hatte sich mit seinem Feldwebel Sachartschenko, vor dessen Sachkenntnis er großen Respekt hatte, beraten und war zu der Ansicht gelangt, daß es zweckmäßig sei, das Dorf in Brand zu schießen. Der Hauptmann hat Respekt vor der Sachkenntnis des Feldwebels, in der Welt der Fürsten im Stabsoffiziersrang ist von Respekt für die Feldwebel nicht die Rede.

Thomas Mann hat über Tolstois Roman Anna Karenina gesagt: Was ich ungescheut den größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur nannte, ist ein Roman gegen die Gesellschaft. Hätte Tolstoi eine bürgerliche Liebesgeschichte schreiben können? Offenbar braucht er das Militär, das im Zarenreich allgegenwärtig ist. Auch wenn die Soldaten und Offiziere in diesem Roman keine so große Rolle spielen wie in Krieg und Frieden. Man hat manchmal das Gefühl, dass dieser Graf Wronski als eine Art Byronischer Held konzipiert war, aber dazu fehlt ihm doch viel. 

Und man hat auch immer wieder das Gefühl, dass der Tolstoi, der ein Offizier einfacher Linientruppen war, seine Phantasiefigur Wronski mit ein klein wenig Verachtung betrachtet. Tolstoi war im Krieg, Wronski nicht. Romane, in denen junge Frauen sich in schneidige junge Kavallerieoffiziere verlieben, gibt es schon genug, die schneidigen Kavallerieoffiziere sind längt im Dienstmädchenroman gelandet. Das hier ist Bathsheba Everdene in Thomas Hardys Roman Far from the Madding Crowd, die dem Sergeant Troy von den 11th Dragoon Guards verfallen ist. Hardys Roman ist kein Dienstmädchenroman, aber der Autor kann es nicht lassen, das Stereotyp des schneidigen Kavalleristen zu verwenden. Ohne den Kavallerieoffizier geht es offenbar nicht im Roman. Die Handlung von Anna Karenina würde nicht funktionieren, wenn Wronski ein Hauptmann der Pioniertruppen in der Provinz wäre.

Der Bruder von Anna Karenina beschreibt seinem Jugendfreund Lewin den Grafen Wronski: Wronski ist einer der Söhne des Grafen Kirill Iwanowitsch Wronski und einer der hervorragendsten Vertreter der Petersburger 'jeunesse dorée'. Ich habe ihn in Twer kennengelernt, als ich dort angestellt war und er zur Rekrutenaushebung hinkam. Er ist furchtbar reich, ein schöner Mann, hat viele gute Beziehungen, Flügeladjutant, und dabei zugleich ein sehr liebenswürdiger, guter Kerl. Aber er ist mehr als nur so ein guter Kerl. Nach dem, wie ich ihn hier kennengelernt habe, ist er ein gebildeter, sehr gescheiter Mensch; er wird es noch einmal weit bringen. Jetzt wissen wir mehr. Der russische Film von Karen Schachnasarow aus dem Jahre 2017 hat darauf geachtet, dass mit den Uniformen alles stimmt. Auf seinem Schulterstück hat er noch ein silbernes Abzeichen, das ihn als einen Flügeladjutanten ausweist. 

Er ist Rittmeister eines Garderegiments in St Petersburg, in den Garderegimentern dienten nur Offiziere von erblichem Adel. Nicht immer waren sie in der Geschichte Russlands zuverlässige Diener des Zaren. Katharina die Große kam mit Hilfe von Gardeoffizieren zur Macht. Und unter den Dekabristen finden sich viele adelige Offiziere der Garderegimenter. Mit all dem hat Wronski nichts zu tun, Politik ist nicht seine Sache. Das Regiment ist sein Leben, er ist im Pagenkorps erzogen worden. Sein militärischer Rang ist mit dem eines Majors der Linientruppen vergleichbar. Freunde von ihm sind schon Generäle, dafür hätte er aus St Petersburg weg in umkämpfte Provinzen gehen müssen, aber er bleibt lieber in St Petersburg. Er gefällt sich darin zur jeunesse dorée zu gehören, militärische Ambitionen fehlen ihm: Sobald er nach Petersburg gekommen war, begann man von ihm wie von einem neu aufsteigenden Sterne erster Größe zu sprechen. Ein Altersgenosse und Schulkamerad Wronskis, war er doch schon General und sah der Ernennung auf einen Posten entgegen, wo er Einfluß auf den Gang der Staatsangelegenheiten haben konnte; Wronski dagegen war zwar ein unabhängiger, vielbewunderter, von einem reizenden Weibe geliebter Mann, aber doch immer nur ein Rittmeister, dem man es überließ, unabhängig zu sein, soviel ihm nur irgend beliebte. ›Selbstverständlich beneide ich Serpuchowskoi nicht und habe keinen Anlaß, ihn zu beneiden; aber seine Beförderung ist mir ein Beweis, daß man nur den richtigen Zeitpunkt abzuwarten braucht, dann kann ein Mann wie ich schnell vorwärtskommen. Vor drei Jahren war er noch in derselben Stellung wie ich. Nehme ich den Abschied, so verbrenne ich meine Schiffe hinter mir. Bleibe ich im Dienst, so verliere ich nichts. Sie hat selbst gesagt, daß sie ihre Lage nicht zu verändern wünscht. Und im Besitze ihrer Liebe kann ich Serpuchowskoi nicht beneiden.‹ Und mit langsamen Bewegungen seinen Schnurrbart drehend, stand er vom Tische auf und ging im Zimmer auf und ab. Seine Augen glänzten besonders hell, und er fühlte sich in jener festen, ruhigen, frohen Gemütsstimmung, die sich bei ihm immer einstellte, wenn er über seine Lage zur Klarheit gelangt war. Alles war, ganz wie bei früheren Rechnungsabschlüssen, reinlich und klar. Er rasierte sich, nahm ein kaltes Wannenbad, zog sich an und verließ das Haus.

Der Order, nach Taschkent zu gehen, folgt unser Rittmeister nicht. Jetzt, wo er an der Seite Annas lebt, ist ihm das zu gefährlich. Er quittiert den Dienst. Er wird aber, das wird im Roman mehrfach erwähnt, immer noch seinen Offiziersmantel tragen. Er bekommt beim Abschied (und vielleicht hat sein Freund Serpuchowskoi das bewirkt) allerdings noch einen Titel: Stallmeister außer Diensten. Das klingt nach nichts, aber es bedeutet sehr viel, es ist der dritthöchste Rang in der Rangtabelle des Hofes. Er ist jetzt ein Oberst. Damit übertrifft er Annas Bruder, der gerade Kammerherr geworden ist, das ist der vierthöchste Zivilrang. Das weiß ich alles nur, weil ich die Fußnoten der Anna Karenina Übersetzung von Rosemarie Tietze gelesen habe. Wo auch steht, dass der neue Rang des Fürsten Stepan Arkadjewitsch Oblonski dem eines Generalmajors gleichkommt. Ich glaube, das ist etwas zuviel des Guten. Tolstois Leser wussten, was welcher Titel, was welche Uniform (hier ein Bild aus Troupes imperials de Russie 1857-1862 von C.A. Piratzky) bedeutet. Wir Leser heute sind Übersetzern und Kommentatoren dankbar, dass sie uns das in ihren Fußnoten erklären.

Dass ein Rittmeister eines Garderegiments, der noch dazu Flügeladjutant ist, einen höheren militärischen Rang als den eines Hauptmanns hat, habe ich in dem Buch Von Puschkin bis Gorki: Dichterische Wahrnehmungen einer Gesellschaft im Wandel von Gottfried Schramm (dem Sohn des berühmten Historikers Percy Ernst Schramm) entnommen. Das ist ein wirklich schönes Buch, in dem der Historiker zu einem Literaturkritiker wird und aufzeigt, wie russische Literatur, russische Gesellschaft und russische Geschichte zusammenhängen. Er erklärt die Literatur mit der Gesellschaft und die Gesellschaft mit der Literatur. Zum Rittmeister Wronski und dem hohen Beamten Karenin hat er auch einiges zu sagen.

Auf einem Bahnhof hat Anna den Grafen Wronski zum erstenmal gesehen: Mit dem erfahrenen Urteile des Weltmannes hatte Wronski beim ersten Blicke auf die äußere Erscheinung dieser Dame ihre Zugehörigkeit zur besten Gesellschaft festgestellt. Er entschuldigte sich und schickte sich nun an, in den Wagen einzusteigen, fühlte sich jedoch veranlaßt, sich noch einmal nach ihr umzusehen, nicht deshalb, weil sie sehr schön war, auch nicht wegen ihrer vornehmen Erscheinung und bescheidenen Anmut, die in ihrer ganzen Gestalt zur Erscheinung kam, sondern weil in dem Ausdrucke des lieblichen Gesichtes, als sie an ihm vorbeiging, etwas ganz besonders Angenehmes und Freundliches gelegen hatte. Als er sich umschaute, wandte sie gleichfalls den Kopf zurück. Die glänzenden grauen, durch die dichten Wimpern schwarz erscheinenden Augen richteten sich mit prüfender Aufmerksamkeit und freundlichem Ausdrucke auf sein Gesicht, als ob sie in ihm einen Bekannten erkenne, wandten sich dann aber sofort von ihm ab und der vorüberströmenden Menge zu, als wenn sie dort jemand suchten. Dieser kurze Blick hatte Wronski doch die verhaltene Lebhaftigkeit erkennen lassen, die wie ein Schimmer auf ihrem Gesichte spielte und zwischen den glänzenden Augen und den roten, leise lächelnden Lippen hin und her huschte. Es war, als schlösse ihr Wesen eine solche Überfülle von Lebenslust ein, daß diese sich unwillkürlich bald in dem Glanze der Augen, bald in dem Lächeln des Mundes bekunden müsse. Und wenn sie diesen Glanz in den Augen absichtlich dämpfte, so leuchtete er wider ihren Willen in dem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf.

So beginnt die Geschichte von Anna und Wronski, Anna verliebt sich. Von Liebe war in ihrer Ehe mit dem zwanzig Jahre älteren seelenlosen Bürokraten nichts zu spüren (lesen Sie mehr dazu bei der Professorin Alena Petrova). Mit Karenin verurteilt Tolstoi die Menschenfeindlichkeit und Verlogenheit der zaristischen Aristokratie, sagt Wieland Herzfelde im Nachwort zu der Ausgabe des Aufbau Verlags. Die Ehen des russischen Adels sind Zweckehen. Meistens bringen die jungen Frauen viel Geld und Grundbesitz mit in die Ehe. Wie Dolly, die Ehefrau von Annas Bruder, der dann das Geld verprasst. Der Fürst Alexander Schtscherbazkij und seine Gattin hätten nichts dagegen, dass ihre Kitty den Rittmeister Wronski heiratet. Das wäre eine gute Partie. Und darum geht es dem Adel, es geht nicht um Liebe, es geht um die gute Partie. Aber die Schtscherbazkijs, die Lewin für die einzig ehrliche Familie in Moskau hält, forcieren das nicht. Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art, ist der erste Satz des Romans. Fünf miteinander verwandte und verschwägerte Familien. Alle adelig. Wenige glücklich. Vielen fehlt das, was Fontanes Major Dubslav von Stechlin besitzt, eine tiefe, so recht aus dem Herzen kommende Humanität.



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