Die schöne Buchhändlerin hatte, wie viele ihrer Freundinnen, den Chor nicht aufgegeben. Sie war nach dem Abitur dabeigeblieben, weil sie sich mit dem Chorleiter, der ihr Englischlehrer gewesen war, so gut verstand. Manche ihrer Freundinnen waren im Chor geblieben, weil der als ein Eheanbahnungsinstitut galt, aber das war ihre Sache nicht. Es war zwar etwas langweilig, jedes Jahr Weihnachten im Dom der Stadt Bachs Kantaten und das Weihnachtsoratorium singen zu müssen, aber es war natürlich auch eine Ehre, dort singen zu dürfen. Bach hatten sie immer im Repertoire. Andere Chöre waren glücklich, wenn sie Im schönsten Wiesengrunde, An der Saale hellem Strande oder Wer recht in Freuden wandern will hinkriegten. Sie alle hatten neben dem Englischen Fremdsprachen am Lyceum gehabt, manche Französisch, andere Latein. Das half ihnen natürlich auch, Texte aus fremden Sprachen anzugehen, zum Beispiel so etwas:
Dio del cielo,
Signore delle cime,
un nostro amico
hai chiesto alla montagna.
Ma ti preghiamo:
su nel Paradiso
lascialo andare
per le tue montagne.
Das Lied von Giuseppe De Marzi war gerade aus Italien nach Deutschland gekommen. Das konnten die Waldundwiesenchöre natürlich nicht. Es kam jetzt viel an internationaler Musik in das Repertoire der Chöre, in denen zu lange nur Deutsches gewesen war. Ihr Chorleiter hatte es immer gefördert, dass etwas Neues in das Repertoire des Chors kam. Der Chor war für seine Auftritte begehrt, aber der Chorleiter war der Meinung, dass man nicht allen Wünschen nachkommen sollte. Also, den Wunsch nach Seemannsliedern beim Hafenfest, den hatte er abgelehnt. Und dem Pastor hatte er gesagt, dass der Chor keinesfalls am Volkstrauertag Ich hatt' einen Kameraden singen würde. Geistliche Lieder in der Kirche: ja. Aber dies nicht.
Der Chorleiter Dr Friedrich Allmers war schon ein älterer Herr, er sollte eigentlich längst im Ruhestand sein. Aber die Schulleitung beließ ihn in dieser Stellung, weil niemand so gut mit dem Chor umgehen konnte wie er. Und weil er das Klavier besorgt hatte, das in der Aula stand. Das alte hätte kein Klavierstimmer der Welt mehr hingekriegt. Es war dann als Kriegsschaden ausgesondert worden, und das war es auch gewesen. Die amerikanischen Besatzer hatten es furchtbar misshandelt. Dr Friedrich Allmers wusste nicht nur, wie er preiswert an ein erstklassiges Klavier kam, er hatte auch gute Beziehungen zu der Musikwelt. Und sein Chor hatte einen guten Namen. Schließlich war man schon mehrfach im Radio gewesen und hatte bei einem Festival einen dritten Platz errungen. Und es liefen da Verhandlungen für eine Langspielplatte mit alten europäischen Volksliedern, aber die waren ins Stocken geraten. Geplante Titel wie Nimm sie bei der schneeweißen Hand und Lison dormait schienen dem Plattenverlag nicht unbedingt Publikumsrenner zu werden.
Die schöne Buchhändlerin sang gerne. Unter der Dusche und im Auto. Und natürlich im Chor. Das Schöne im Chor war das Gemeinschaftserlebnis. Sie ließ sich von der Musik treiben, war glücklich dabei zu sein. So gut sie sang, zu einer Solistin hätte es bei ihr nicht gereicht. Außer unter der Dusche oder im Auto. Das wusste sie. Es reichte ihr aber, dabei zu sein. Manche ihrer Freundinnen sangen im Chor der Oper mit, da war sie auch einmal bei der Aufführung von Bizets Carmen mit im Chor gewesen. Das Kostüm, das man ihr angedreht hatte, hatte nicht richtig gepasst, es zwickte und zwackte bei jeder Bewegung. Sie hatte es mit nach Hause nehmen und ändern wollen, sie war gut mit Nadel und Faden. Aber das durfte sie nicht. Das ist Eigentum der Oper, das geht nicht aus dem Haus, bekam sie gesagt. Sie hatte sich im Chor der Zigarettenarbeiterinnen bei den Aufführungen unwohl und unglücklich gefühlt. Vielleicht hätte sie die Zigarette, die sie nur in der Hand halten sollte, wirklich rauchen sollen. Glücklicherweise wurde die Oper nach drei Aufführungen abgesetzt, weil zwei der Solistinnen erkrankten und der Sänger des Don José einen Autounfall hatte.
Es war nicht nur die gemeinsame Chorprobe, die sie liebte. Sie gingen hinterher zusammen immer noch in den Fährkrug auf ein Glas Wein. Der Wirt hielt ihnen an den Abenden der Chorproben immer einen Tisch am Fenster frei, sodass sie auf den Fluss schauen konnten. Der Wirt mochte die Sängerinnen, weil sie ihm vor Jahren, als er das Haus gerade übernommen hatte, den ganzen Abend gerettet hatten. Da saß nämlich ein junges Brautpaar einsam im großen Saal, keiner ihrer Gäste war gekommen. Die blonde Braut heulte. Das war zu verstehen. Nach einer halben Stunde kam eine Nachricht, die das Fehlen der Hochzeitsgäste erklärte. Das Ausflugsschiff, mit dem sie kommen wollten, sei im Fluss auf eine Sandbank gelaufen. Es sei niemandem etwas passiert, aber die Hochzeitsgäste müssten noch von Bord gebracht und in einen Bus gesetzt werden. Das könne noch etwas dauern.
Nachdem der Wirt dem Brautpaar die gute Nachricht überbracht hatte, erzählte er es auch den Sängerinnen am Fenster. Und sagte dann plötzlich: Es ist alles so trist und traurig heute, könnten Sie nicht vielleicht etwas singen? Singen, dachte sich die schöne Buchhändlerin, was singt man in einem solchen Fall? Plaisir d'amour ne dure qu'un moment, Chagrin d'amour dure toute la vie? Aber da stand die rothaarige Thea auf und sagte: Mädels: Jungfernkranz. Sie standen auf, gingen durch den leeren Saal, gruppierten sich um den Tisch des Brautpaares, zählten unhörbar eins, zwei, drei und sangen:
Wir winden dir den Jungfernkranzmit veilchenblauer Seide;
wir führen dich zu Spiel und Tanz,
zu Glück und Liebesfreude!
Du auserwählter einz'ger Trost, bleib stets bei mir.
Du, du, du sollst an mich gedenken.
Hätt' ich aller Wünsch Gewalt,
von dir wollt ich nicht wenken.
Dein, dein, dein will ich immer bleiben:
Du gibst Freud und hohen Mut
und kannst mir Leid vertreiben.
Stand still and gaze, for minutes, hours and years to her give place.
All other things shall change but she remains the same.
Till heavens changed have their course and Time hath lost his name.
Cupid doth hover up and down, blinded with her fair eyes.
And Fortune captive at her feet contemned and conquered lies.
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