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Sonntag, 13. Oktober 2019

Hafenrundfahrt


Vielleicht hindert uns ein unbezwinglicher Widerstand, an die Vergangenheit, an die Geschichte zu glauben, es sei denn in der Form des Mythos. Die Photographie hat, zum ersten Mal, diesen Widerstand zum Schweigen gebracht: von nun an ist die Vergangenheit so gewiß wie die Gegenwart, ist das, was man auf dem Papier sieht, so gewiß wie das, was man berührt, hat Roland Barthes in Die Helle Kammer gesagt. Es ist ein Buch, das Götz mir mal geschenkt hat, ich habe das sogar gelesen, würde es aber nicht unbedingt zur Lektüre empfehlen. Es geht weniger um die Photographie als um seine Mutter und den Tod. Aber Barthes kann einfache Dinge immer so schön kompliziert ausdrücken. Der amerikanische Photograph Lewis Hine hat das einfacher gesagt: Wenn ich die Geschichte in Worten erzählen könnte, brauchte ich keine Kamera herumzuschleppen.

Ein altes Photo, irgendwann mal oben links gelocht, ich weiß nicht weshalb, bringt die Vergangenheit zurück, die so gewiss wie die Gegenwart ist. Das sind wir auf diesem Photo vom Anfang der fünfziger Jahre, Eintagesreise mit dem Bus der Firma Elbracht nach Hamburg. Die Kriegsschäden auf der Autobahn kann man bei der Fahrt noch spüren. Und auch in Hamburg sieht man noch die Zerstörungen des Bombenkriegs, aber Ruinen haben wir in Bremen genug, das interessiert uns jetzt nicht. Unser Hamburg heißt Hafenrundfahrt. Ein so großes Schiff wie dieses bekommen wir nicht, wir bekommen nur eine kleine offene Barkasse.

Auf dem Photo sieht unser Klassenlehrer Herr Blume aus wie ein alter Mann, alle Lehrer sehen damals wie alte Leute aus. Aber das ist in dieser Zeit so, der Krieg und die Nachkriegszeit haben an ihnen gefressen. Und außerdem gibt es noch nicht diesen Jugendlichkeitswahn heutiger Generationen. Männer tragen wie selbstverständlich Anzüge mit Weste und Hut (unser Herr Blume auf diesem Photo auch). Meistens in einem grau, das hechtgrau heißt. Dass Rentner in Adidas Plastikanzügen und Adiletten über die Straße schlurfen, kann sich damals keiner vorstellen. Neben Herrn Blume sind noch zwei mitreisende Mütter auf dem Bild der Hafenbarkasse an den Landungsbrücken (eine Hafenrundfahrt muss ja in Hamburg sein, obgleich wir so etwas auch im Hafen von Bremen hätten haben können). Und 35 Schülerinnen und Schüler sind auf dem Photo (drei fehlen), sehr viel mehr gehen auf die Barkasse auch nicht drauf.

Die Klassen der Volksschule sind jetzt voll, wir sind die geburtenstarken Jahrgänge nach dem Krieg. Und wir haben noch Parallelklassen. Mit unserer Klassenstärke liegen wir unter dem Bundesdurchschnitt, der 1950 bei 44 Schülern liegt. Es ist sicherlich nicht leicht, in solch großen Klassen zu unterrichten, aber im Gegensatz zu heute gibt es keinen hohen Lärmpegel in der Klasse und keine wirklichen Probleme mit der Disziplin. Man kriegt schon mal was mit einem Lineal auf die Finger, aber niemals bei Herrn Blume, der hier milde lächelnd nicht in die Kamera guckt. Der hat nie gebrüllt und nie geschlagen. Wir wollen ja lernen. Bildung, Schulbücher und Schulspeisung sind frei, sonst gibt es in dieser Zeit nichts. Außer einem gravierenden Lehrermangel. Die sechs Jahre Volksschule für jeden in Bremen sind neu, das haben uns die Amerikaner oktroyiert (in Hamburg und Berlin gibt es das auch). Es hat uns nicht geschadet, wir haben durch das Gemeinschaftserlebnis in der Nachkriegszeit untereinander eine große Solidarität. 

Dies ist kein zufälliger Schnappschuss, kein Photo das Robert Frank gemacht hätte Fotowerkstatt Landungsbrücken Landungsbrücke 1 ist auf die Rückseite des Photos gestempelt. Die Fotos waren fertig, wenn die Barkasse nach der Rundfahrt wieder bei den Landungsbrücken anlegte. Man hatte etwas an der Hand, das an diesen Tag erinnerte, auch noch nach Jahrzehnten. Ich kenne heute noch die Namen von allen, die auf dem Photo sind und weiß, wo sie damals wohnten. Der Photograph verstand sein Handwerk, er setzt alle ins Bild. Das Auge macht das Bild, nicht die Kamera, hat Gisèle Freund gesagt. Unser Photograph hatte ein gutes Auge. Die drei jungen Grazien im Vordergrund, die mit einer Parallelbewegung ihre Arme über die Bordwand lehnen. Werner (unser bester Fußballer), der uns neben dem langen Roder etwas zu zurufen scheint. Die kleine Annegret, die so schön singen konnte, drängt sich neben der großen blonden Gabi nach vorn, Ingrid neben ihr auch. Die Personen auf diesem Bild leben.

Die hier nicht. Derselbe Ort, dieselbe Zeit, ich habe das Bild im Internet gefunden. Es sind Schüler aus einem anderen Ort, einem kleinen Dorf im Nirgendwo. Wir kommen aus einer Kleinstadt, die Teil von Bremen ist. Macht das den Unterschied? Man fragt sich, was ist mit denen los? Werden die in der Schule verprügelt? Was wird aus denen werden, wenn sie schon in der Kindheit nicht fröhlich sind? Sobald ich nun das Objektiv auf mich gerichtet fühle, ist alles anders: ich nehme eine 'posierende' Haltung ein, schaffe mir auf der Stelle einen anderen Körper, verwandle mich bereits im voraus zum Bild. Diese Umformung ist eine aktive: Ich spüre, daß die Photographie meinen Körper erschafft oder ihn abtötet, ganz nach ihrem Belieben. Noch einmal Roland Barthes, auf diesem Bild hier scheinen die Körper abgetötet.

Zwischen dem Fotografen und seinem Bildmotiv etabliert sich ein komplexes Gewebe aus Aktion und Reaktion (aus Dialog), obwohl die Initiative natürlich aufseiten des Fotografen liegt und der fotografierte Mensch der geduldig (oder auch ungeduldig) Wartende ist. Auf seiner Seite führt dieser zweifelhafte Dialog zu jener Mischung aus Befangenheit und Exhibitionismus (dem Produkt des Umstands, der Mittelpunkt einer objektivierenden Aufmerksamkeit zu sein), die eine ‚aufgesetzte Haltung‘ zur Folge hat (der Wartende erschwindelt das Motiv). Das führt aufseiten des handelnden Fotografen zu jener seltsamen Empfindung, zugleich Zeuge, Ankläger, Verteidiger und Richter zu sein, einer Empfindung des schlechten Gewissens, die sich in seinen Gesten in ein Objekt zu verwandeln. In Anbetracht dessen, dass Fotografieren ein Scheindialog ist, erschwindelt auch er das Motiv.

Sagt Vilém Flusser. Viele Philosophen, die nicht in der Lage wären, einen Film in eine achtzig Jahre alte Leica einzulegen, reden über die Photographie. Doch all die schönen Theorien über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit sind entstanden, bevor es die Millionen von Handyphotos gab. Es gibt heute einfach zu viele Bilder. Ich habe auch ganze Alben und Kartons voller Photographien, aber es nichts Digitales dabei. Sie sind alle mit einem Photoapparat gemacht und im eigenen Labor entwickelt. Das Bild von der Hafenrundfahrt habe ich beim Aufräumen gefunden. War in einem dicken Pappumschlag zusammen mit all den Bildern, die ich seit Jahren suchte. Die Gabi hat davon einige bei einem Copy Shop einscannen lassen. Ein halbes Dutzend davon ist jetzt in den Blog gewandert: Käpt'n Biet mit seiner Charatan Pfeife, Heidi und Ingrid in der St Martins Kirche von Zetel, Frank auf der Fahrt nach Helgoland, und Jay als Cricketspieler und in Uniform. Für all diese Bilder brauche ich die Theorien von Roland Barthes und Vilém Flusser nicht. Aber das Photo von der Gruppe mit den toten Gesichtern aus der Elbtalaue, das beunruhigt mich noch immer.

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