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Freitag, 2. Juli 2021

Satyrspiel


Die Zahl von fünf Millionen Lesern war für mich keine echte Überraschung, ich sah sie jeden Tag unten auf der Seite kommen, wo Readers since July 2010 steht. Aber es war doch ein Einschnitt. Ich hatte mir überlegt, ob ich jetzt aufhören und etwas ganz anderes machen sollte: Ich stehe hoch und kann und muß noch höher steigen; ich fühle mir Hoffnung, Mut und Kraft. Noch hab ich meines Wachstums Gipfel nicht erreicht; und steh ich droben einst, so will ich fest, nicht ängstlich stehn. Das sagt bei Goethe der Graf Egmond, ich habe das schon in dem Post Egmond aan Zee zitiert. Aber mit dem Grafen Lamoral von Egmond geht es nicht gut aus, auch wenn er Ritter vom Goldenen Vlies ist. Ich verzichte mal auf das Zitat. Je höher man steht, desto höher ist die Fallhöhe, das sagt uns die Dramentheorie. Das Gedicht am Dienstag, das musste an dem Tag sein, jetzt brauche ich etwas ganz anderes für den Neuanfang. Für die Plus 5 Millionen Zeit. 

Ich nehme mal etwas ganz Altes. Ich habe in meinen unveröffentlichten Bremensien ein kleines Kapitel gefunden, das mit 1968 zu tun hat, es heißt Satyrspiel. Es folgt auf ein langes Kapitel über die Bremer Straßenbahnunruhen, das hier vor elf Jahren unter dem Titel Heinrich Hannover schon veröffentlicht wurde. Heinrich Hannover hat das damals gelesen, weil ihm die Gudrun das Manuskript nach Worpswede gebracht hatte. Auch in dem Kapitel Benno Ohnesorg steckt viel Autobiographisches. Wie die Geschichte, dass ich den Bremer Polizeipräsidenten von Bock und Polach mit dem blauen Opel Admiral meines Vaters zu unserem Bataillonsball kutschiert habe. Das ist der Mann, der drei Jahre später bei den Unruhen die Devise Draufhauen, draufhauen, nachsetzen ausgibt. Die Reputation des ehemaligen Waffen-SS Offiziers war in Bremen schon vor 1968 schwer angeschlagen. Er wusste nicht, dass er nur zum Bataillonsball eingeladen wurde, weil er so schöne Töchter hatte.

Von 1968 habe ich, offen gesagt, die Schnauze voll. Nicht von den alten Erfahrungen, die auch meine Studentenjahre gewürzt haben und nun, ein halbes Leben zurückliegen. Was das Thema 68 so degoutant macht, ist seine mediale Zubereitung zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Jahre später. Bei fast allem, was man dazu lesen, sehen, hören kann, stellt sich alsbald ein Gefühl des Widerspruchs ein, das vereinfacht in drei Wörtern ausgedrückt werden könnte: Nicht schon wieder! oder, protest-literarisch gesagt: Alles war anders! Das ist nicht von mir, das ist von Friedrich Christian Delius (der hier einen Post hat), aber er hat ja so recht. Das, was wir mit 1968 bezeichnen, hatte viele Facetten. Das waren die Straßenbahnunruhen in Bremen im Januar, das waren die Unruhen in Paris im Mai. Und dann die Unruhen an den deutschen Universitäten. Die vielleicht im Herbst 1967 angefangen hatten, als zwei Studenten bei der Rektoratsübergabe ein Banner mit der Aufschrift Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren durch das Audimax trugen. 1968 wurde ich zum Oberleutnant der Reserve ernannt, aber ich beschloss, dass ich mit der Bundeswehr nichts mehr zu tun haben wollte. 1968 begann auch die Liebesgeschichte mit dieser Frau, die schon häufig in diesem Blog war, aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Ich beginne mal mit dem Satyrspiel, alles, was da steht ist wahr, in manchen Fällen wurden die Namen ein klein wenig geändert. Den Text habe ich vor zwölf Jahren geschrieben, ich lasse ihn so, wie er ist:

Jeden Abend sitzt der Chef der Inneren Medizin der Universitätsklinik an meinem Bett. Er ist ein reizender älterer Herr. Er redet mit mir nicht über meinen Gesundheitszustand, er redet darüber, wie er 1968 erlebt hat. Ich bin offensichtlich der erste, mit dem er beinahe zwanzig Jahre danach reden kann. Der Patient bekommt die Funktion eines Beichtvaters, eines Psychiaters. Zuerst bin ich irritiert, dann amüsiert. Aber ich höre ihm zu, ich nehme an, ein Psychiater würde das gleiche tun. Von Zeit zu Zeit mache ich das, was der Engländer so nett als humming noises bezeichnet. Ich bekomme in dieser Woche seine Version von 1968. Irgendwann wird er sagen: Wir haben das ja immer alles als blutigen Ernst genommen. Wir haben nicht gemerkt, dass das alles zur Hälfte nur Spaß war. Ulk, Quatsch. War es sicherlich, wobei man natürlich auch Satire und Verspottung des Gegners als Waffen eines Konflikts sehen kann. 

Meine erste große Demonstration wird mich mit zweieinhalbtausend anderen Studenten zum Kultusministerium führen. Es ist ein schweinekalter Januartag. Ich friere in meinen dunkelgrünen englischen Clarks Desert Boots, obgleich ich dicke Skisocken angezogen habe. Das erinnert mich an die Nachkriegszeit und das Weserstadion. Ich habe im Weserstadion immer im Winter gefroren, als ich klein war. Der Kultusminister zeigt sich nicht. Wir werden Wir sind eine kleine radikale Minderheit skandieren. Wir sind die Hälfte der Universität, die Uni Kiel ist damals noch klein. Der Kultusminister ist eine Woche später nicht mehr Kultusminister. Auf dem Weg zum Landeshaus, der völlig friedlich verläuft, gibt es einen kleinen Zwischenfall. Das Transparent, das wir mitführen, verstößt offenbar gegen geltende Gesetze. Ich versuche, in die Buchhandlung Wolff in der Brunswick zu kommen, das Besitzerehepaar wirft sich verzweifelt gegen die Tür: Sie können alles von uns haben, bitte zerstören Sie unseren Laden nicht! Ich habe nicht den geringsten Wunsch, den Laden zu zerstören, ich möchte nur Klebeband haben. Ich bezahle das auch. Ich bekomme mein Klebeband, das Ehepaar Wolff will kein Geld dafür. Sie verriegeln hinter mir die Tür und lassen die Jalousien herunter. 

Wir überkleben die von der Polizei monierte Stelle des Transparents. Das Plakat zeigte den Namen des amtierenden Kultusministers, einen schwarzen Hut, eine braune Aktentasche und drei stilisierte blaue Wellenlinien. Für Nichteingeweihte rätselhaft. Aber irgendjemand in der Polizeispitze hatte das Bilderrätsel lösen können und drohte nun mit dem Abbruch der Veranstaltung. Jedem von uns war die Botschaft dieses Plakats klar: ein Vorgänger des Kultusministers hatte in der Mittagpause seinen schwarzen Hut und seine Aktentasche an das Fördeufer gelegt und war ins Wasser gesprungen. Selbstmord. Das Plakat war eine Botschaft an Herrn von Heydebreck, dass ihm Ähnliches geschehen könne. Die Auseinandersetzung findet noch nicht mit Knüppeln und Gegengewalt statt, sondern eher auf dem Niveau der Emblembücher.

Kurt Denzer hat 1965 einen Film gedreht, der Floret Academia heißt und der eine respektlose kleine Wochenschau der Feiern zum dreihundertjährigen Jubiläum der Universität bietet. Schwarzweiß, schnelle Schnitte. Professoren im Talar, Dekane und Rektor mit Amtsketten. Lübke mit silbernem Schlips, passend zu seinen Haaren. Floret Academia ist der zweite Film des Jungfilmers. Kurt studiert Latein und Germanistik, promoviert über die Filmdramaturgie des Dritten Reiches, wird Studienrat. Kurt ist ein Produkt der Studentischen Arbeitsgemeinschaften, Abteilung Film, er wird später deren Leiter. Danach bekommt er ein eigenes kleines Filminstitut. Er leitet das Festival des archäologischen Dokumentarfilms. Ich habe zahlreiche Filme von ihm gesehen, aber dieses Floret Academia gefällt mir am Besten. Der Film ist frech, aber er ist kein Propagandaprodukt, er hat durchaus Kunstcharakter. 

Das Beunruhigende sind noch Jahrzehnte danach die Gesichter der Würdenträger. Viele kenne ich noch. Manche sind Ehrenmänner, viele sind Nazis gewesen. Viele haben Schmisse im Gesicht. Der Ministerpräsident, der die Jubelfeiern der Universität eröffnet, heißt Helmut Lemke. 32 Jahre zuvor hatte das NSDAP-Mitglied Lemke als Bürgermeister von Eckernförde in SA-Uniform gesagt, dass alle, jeder an seiner Stelle, die Hammerschläge des Dritten Reiches auszuführen hätten. Er wird im ersten Monat seines neuen Amtes Sozialdemokraten und Kommunisten verhaften lassen, viele von denen werden von den Nazis umgebracht werden. Der Anteil ehemaliger Nationalsozalisten im Kabinett Lemke wird 66 Prozent betragen. So jemanden braucht man als Ministerpräsidenten, dagegen darf man nicht demonstrieren. Ihr müsst nur diesen Typen nur ins Gesicht sehen, hat der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz in Berlin gesagt, er hat offensichtlich nicht Helmut Lemke damit gemeint. Der Satz könnte auch der Titel von Kurts Film sein. Der Photograph Michael Ruetz wird ihn zum Titel seines Photobuches über die APO in Berlin 1966 bis 1969 nehmen.

Jay, kann ich mal rechts von Dir gehen? fragt Doro, wir marschieren die Beselerallee entlang, wieder einmal zum Kultusministerium. Natürlich kannst Du das. Aber warum? Wir wechseln die Seiten. Da drüben wohnen meine Eltern, sagt Doro, die brauchen mich jetzt nicht unbedingt zu sehen. Ihre Eltern stehen der CDU nahe, wie man so schön sagt, ihre Mutter war Sekretärin bei Konrad Adenauer. Die Tochter ist die Revolutionärin unseres Seminars. Sie wird den Professor X mehrfach vor das Verwaltungsgericht in Schleswig zerren. Sie macht aber Examen bei ihm, mit der Note sehr gut. In diesen Dingen ist X, der weit rechtsaußen steht, erstaunlicherweise nicht nachtragend. Auch das DKP-Mitglied Claus, mit dem er sich immer zofft, bekommt eine Eins im Examen. Doros ältere Schwester studiert auch an der Uni, sie schreibt Gedichte, die in der Sammlung von studentischer Lyrik, Makrelen für Kalliope (mit einem Vorwort von Karl Otto Conrady), veröffentlicht werden. Ihre zwei Gedichte sind die schwächsten in dem Band. Niemand kann ahnen, dass sie eines Tages den Posten von Helmut Lemke bekommt. Wir haben im Seminar eine familiäre Atmosphäre, die Revolutionäre werden als aufmüpfige Kinder betrachtet, aber eben doch zur Familie gehörend. Bei der Examensfeier umarmt der stockbesoffene Claus den Professor und lallt: Du bist mir von allen mein liebster Professor.

Das Klima in anderen Instituten ist völlig anders. Bei uns scheint in dieser Zeit noch etwas vom britischen common sense durch. Nur einmal in all den Jahren holt ein Professor die Polizei. Und die rückt gleich wieder ab, weil da gar nichts war. Außer dem verletztem Stolz eines Ordinarius. Bei uns werden die Studenten nicht auf Anweisung eines Professors im Hörsaal photographiert (das Rektorat hat dafür extra aus Steuergeldern Photoapparate für alle Ordinarien angeschafft) wie bei den Romanisten, wo ein rechtsradikaler Rotweinsäufer Direktor des Seminars ist. Die Studenten schäumen ihm sein Institut mit Feuerlöschern aus, alles schön weiß. Hätte der Verpackungskünstler Christo seine Freude dran gehabt. Obgleich ich die DKP für völlig schwachsinnig halte, gehe ich zu einer Demo für Claus, der wegen seiner Parteimitgliedschaft keine Stelle als Lehrer erhalten wird. Ich bin da mit Schlips und Kragen, sehr englisch, mit einem Bowler auf dem Kopf. Am Demonstrationsziel Gewerkschaftshaus angekommen, treffe ich Claus, der mich zur Seite in einen Hauseingang reißt: Jay, bist Du verrückt, hierher zu kommen? Da oben sind die Kameras vom Staatsschutz. Du bist doch Beamter. Das versaut Dir Deine Karriere. Ich trete aus dem Hauseingang, grüße höflich mit abgenommenem Bowler zu den Kameras auf dem Dach und sage: Claus, ich demonstriere hier für Dich. Ich bin Deinetwegen hier. Ich nehme ein Grundrecht wahr

Diese Episode mag beleuchten, welche Solidarität wir Kriegsjahrgänge untereinander haben, auch wenn wir politisch unterschiedlicher Meinung sind: égalité, fraternité. Die einzigen, für die wir keinerlei Solidarität empfinden, sind die Rechtsradikalen, die jetzt auch überall unter den Studenten auftauchen. Wir haben auch so eine Gruppe, die die Anglistik vor der roten Flut retten will. In der Bremer Talkshow III nach 9 wird die Moderatorin Marianne Koch von dem konservativen Journalisten Matthias Walden gefragt, wie sie es finden würde, dass ihre Kinder eines Tages von diesen Chaoten unterrichtet würden. Die Antwort kommt knapp und lapidar: Was soll daran schlimm sein? Sie werden jetzt von alten Nazis unterrichtet. Mein Doktorvater, der gerade das Kapitel über John le Carrés Small Town in Germany im Manuskript meiner Doktorarbeit gelesen hat, ist der Meinung, dass der Engländer in seinem Roman in Bezug auf die Darstellung der neuen rechten Gefahr in Deutschland übertreibt. 

Als ich ihm aufliste, in wie vielen der Länderparlamenten die NPD inzwischen vertreten ist (angefangen mit meiner Heimatstadt Bremen), schaut er mich betroffen an. Er hat das nicht gewusst. Die Ordinarien gucken alle wie die Kaninchen auf die Schlange, die rote Gefahr und marxistische Splittergruppen heißt. Sie blicken nicht mehr auf die Wirklichkeit außerhalb des nun umkämpften Elfenbeinturms. In der ersten Phase der so genannten Revolution hat die Universität noch von allen respektierte Professoren als Rektoren. Wolf Herre züchtet zu Forschungszwecken seltsame Tiere, kreuzt Pudel mit Wölfen, man kann die in Mondscheinnächten hören, wenn wir Hilfskräfte noch das schreiben, was der Professor am nächsten Tag im Hörsaal vorträgt. Da setzt sich bei seinen PuWos doch der Wolf durch, und der heult eben beim Mondschein. Wolf Herre soll in der CDU sein, aber als Rektor wird er sich öffentlich gegen den Kultusminister stellen und dessen Karriereende beschleunigen. 

Der Medizinprofessor Ludwig Weisbecker (dessen Sohn eines Tages bei der RAF landet und von der Polizei erschossen wird) wird (ähnlich wie der Domprediger Günter Abramzik in der Bremer Revolution) vermittelnd und zuhörend von Institut zu Institut gehen. Ludwig Weisbecker hat im KZ gesessen, er kann sich, trotz völlig ungerechtfertigter Angriffe auf seine Person, nicht zu der Position der Hardliner verstehen. Er ist für Jahrzehnte der letzte Rektor, der weiß, wo die einzelnen Institute der weit über Kiel verstreuten Uni sind. Aber der rechtschaffene Mann, der sich ehrlich bemüht, einen geraden Weg zu sehen, wird nach einer Veranstaltung niedergeschlagen, erleidet einen Kreislaufschock. Der Konflikt erhält eine neue Dimension. Es ist jetzt viel fremdes Pack an der Uni, von irgendwoher zugereist, um die Heilsbotschaft des Kommunismus zu verbreiten. 

Weisbecker hat nicht nur Ärger mit den Studenten, schlimmer sind seine Kollegen. In seiner Abschiedsrede wird er sagen: Nicht achten kann ich diejenigen, die bei anderen ihre Unzufriedenheit mit meiner Amtsführung äußern, es aber nicht wagen, mir das auch zu sagen. Verachten kann ich nur diejenigen – es sind nicht nur Kollegen des Lehrkörpers –, die den hochschulpolitischen Dissens in die private Sphäre übertragen und genußvoll eine Reihe kleiner niederträchtiger Lügen über meine Familie erfinden beziehungsweise weiterverbreiten. Der Mann, der sich bei seinem Amtsantritt in einem Interview auf die Seite der Studenten gestellt hat, ist mit seiner Idee vom Überleiten von Emotionen auf einfache, durchschaubare evolutive Konzeptionen gescheitert.

Wenig später wird sich das Rektorat im Hochhaus wie in einem Führerbunker verschanzen, kein Kontakt mit der Realität mehr. Danach werden keine liberalen Persönlichkeiten mehr Rektoren sein, sondern nur noch Opportunisten und Erfüllungsgehilfen. Der Höhepunkt ist ein kleiner (in jeder Bedeutung des Wortes) Juraprofessor. Der lässt selbst einen völlig harmlosen Menschen wie unseren amerikanischen Lektor Richard bespitzeln, weil ihm irgendjemand erzählt hat, dieser nette Kalifornier wäre links. Der kleine Rektor bekommt eines Tages im Fahrstuhl des Hochhauses einen Mensaeintopf mit zwei Henkeln auf den Kopf gesetzt und wird damit photographiert. Ein schönes Bild. Meinem Freund Hombre, der zu Demos nur noch mit Zahnbürste geht, weil er immer festgenommen wird (er ist der sanfteste Mensch, den ich kenne), droht ein durchgeknallter Ärchäologieprofessor an, dass er ihn aus dem öffentlichen Dienst entfernen lassen wird. Nur weil Hombre bei einer Party ein paar linke Sprüche losgelassen hat. Wohin sind wir gekommen? Wir machen die gleiche Erfahrung, die die 1848er auch gemacht hatten. Die Reaktion schlägt zurück.

Kiel ist nicht Frankfurt oder Berlin. Hier wird nicht mit Adorno oder Habermas diskutiert oder ein neues Modell der bürgerlichen Gesellschaft nach Hobbes, Rousseau, Locke oder Hegel entworfen. Wir sind Norddeutsche, die ruhige Vernünftigkeit ist hier zuhause, sagt man. Wenn es hier einen Kampf gibt, dann ist es ein Kampf für bessere Studienbedingungen, gegen das feudalistische System der Ordinarienuniversität, gegen die alten Nazis, die überall im Establishment sind (der Untersuchungsbericht des Landtages aus dem Jahre 2016 spricht da eine deutliche Sprache), in der Politik wie in der Universität. Dafür braucht man keine Ideologie, keine marxistisch-leninistische Philosophie. Die Maximen für moralisches Handeln kann man der Nikomachischen Ethik entnehmen. Der große Alexandre Kojève hatte den Berliner SDS Mitgliedern, die den französischen Philosophen fragten, was sie lesen sollten, gesagt: Lernt Griechisch und lest die Klassiker der griechischen Philosophie. Ist ein etwas größeres Programm als die Lektüre der kleinen roten Mao Bibel. 

Es ist sowieso erstaunlich, welche Klatschenkallis jetzt alle als Philosophiestudenten eingeschrieben sind. Leute mit dieser Intelligenzstufe tauchen Jahre später in dem Film Ein Fisch namens Wanda wieder auf und werden dann von Kevin Kline gespielt. Sie tun so, als verständen sie, was sie läsen. Bis sie von Jamie Lee Curtis belehrt werden, dass Aristoteles kein Belgier war. Kants Kategorischer Imperativ hilft einem nicht bei Grün über den Zebrastreifen, höhnt diese neue Sorte von Philosophen und kommt sich dabei besonders witzig vor. Die Werte gehen verloren. Pierre Bourdieu berichtet in La Distinction, dass die französische Bourgeoisie an den Untergang des Abendlandes glaubt, als die ersten Gymnasiallehrer keinen Schlips mehr im Unterricht tragen. Die erste Generation des studentischen Protestes geht noch mit Schlips und Kragen zu einer Demonstration, ich ebenso wie Hermann Rademann in Bremen (der mit einem Burberry bekleidet den Bremer Senat in die Knie zwingt), ein äußerliches Zeichen der bürgerlichen Zugehörigkeit. 

Der Unterschied zwischen dem privaten Bürger und dem öffentlichen Bürger (der immer mehr verloren geht, wie Richard Sennett in The Fall of Public Man gezeigt hat) ist uns noch bewusst. Wir sind in der Volksschule und auf dem Gymnasium unter dem Druck der Amerikaner zu einem idealen Demokratieverständnis erzogen worden, wie es das in Deutschland vorher so noch nie gegeben hat. Auch nicht in Weimar. Bei der Bundeswehr wird dank des Konzepts der Inneren Führung und der Ächtung aller falschen militärischen Tradition dieses Idealkonzept fortgesetzt, aber auch da setzt jetzt ein konservativer Backlash ein. Und in dem Augenblick, als wir den idealdemokratischen Kindergarten mit dem antiken Tugendkatalog im Gepäck verlassen, da sind wir die Bösen, weil wir rigide auf diesen abendländischen Werten bestehen, von denen die Politiker nur faseln? Es ist ein Wesensmerkmal des pikarischen Romans, dass der Held wie zum Beispiel Simplicius Simplicissimus durch die Welt irrt und sie nicht versteht. Aber irgendwann gibt es diesen pikaresken Weltschock, plötzlich erkennt der tumbe Tor die Welt in all ihrer Bösartigkeit. Unser pikaresker Weltschock ist jetzt.

Ich kaufe eines Tages im Antiquariat Eschenburg ein dickes Konvolut der Kieler Blätter, der Universitätszeitschrift aus der Zeit der Nazis. Die Hälfte der Beiträger, die hier wortreich ihrem Führer huldigen, kenne ich noch. Die lehren alle noch an dieser Universität. Der Theologe Martin Redeker (NSDAP Mitglied seit dem 1. Mai 1933), der 1939 aus der Universitätskirche gepredigt hatte: Was im Weltjudentum und im Materialismus an satanischer Kraft der Zersetzung sich zusammenballt, sehen wir allzu deutlich, ist jetzt auch noch Landtagsabgeordneter. Er wäre gerne Kultusminister geworden. Er wird in einer Vorlesung, von den Studenten verbal attackiert, mit hochrotem Kopf brüllen, dass seine Vorlesungen auf dem neuesten Stand der theologischen Forschung sind. Dabei fegt er mit einer theatralischen, ungeschickten Armbewegung den ganzen Manuskriptstapel vom Katheder. Studenten in der ersten Reihe sammeln die Blätter wieder ein und legen sie auf den Tisch neben dem Pult. Nicht alle. Ein Blatt hängt photokopiert eine Stunde später überall in der Uni aus. Es zeigt, dass die Vorlesung, die auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand ist, auf Papier geschrieben wurde, das auf der Rückseite Adler und Hakenkreuz trägt. Quod erat demonstrandum.

Es gibt willkommene Abwechslungen von den schweren Fragen, wie der ideale Staat richtig zu organisieren sei, die schon seit Plato die Philosophen nicht hat eins werden lassen. Die politisierten Studenten des SDS und der ML-Gruppen, die jetzt zum Teil ihre Arbeit in den Basisgruppen als Vollzeitjob haben, finden Entspannung im Kino. Bei Western und Eddie Constantine (Nachtvorstellung im Regina) ist der ganze sozialistische und kommunistische Asta zum Mitschießen dabei. Ein jährlich wiederkehrender Höhepunkt ist die Eröffnung der Kieler Woche durch den Bundespräsidenten Heinrich Lübke. Die Zeitschrift Pardon hat unter dem Titel Redet für Deutschland eine Langspielplatte herausgebracht, auf der die schönsten Beispiele seiner rhetorischen Kunst versammelt sind. Der Titel ist (wenn auch heute als CD) nach über vierzig Jahren immer noch erhältlich. Manches von dem, was heute noch Millionen erfreut, ist in Kiel auf dem Rathausmarkt gesagt worden. Seine letzte Rede wird er nicht vom Rathaus herab, sondern vom Balkon des Landeshauses halten. Diesmal sind beinahe nur Studenten als Zuhörer dieser Kultveranstaltung gekommen. Er ist seinen Zuhörern hier näher, allerdings ist er auch den Kommentaren näher. Wenn Sie weiterhin so ungezogen sind, erzähle ich Ihnen nichts mehr von der Kwiiin, droht er uns an. Erzählt dann glücklicherweise doch noch von der Queen. Ist besser als Else Stratmanns Geschichten von Lisbeth Jahre später.

Aber 1968 ist nicht 1968 zuende. Die Paranoia geht weiter. 1977 diskutiert der Bremer Senat über eine Lehrerin, die im Unterricht das Gedicht Die Anfrage von Erich Fried aus der Gedichtsammlung So kam ich unter die Deutschen behandelt hat. Es ist mir immer noch nicht klar, was Literaturbehandlung im Unterricht den Bremer Senat angeht, aber so sind die Zeiten. Der Abgeordnete Bernd Neumann, Vorsitzender der Bremer CDU, wird sich in seinem Hass auf den jüdischen Exilanten in London zu der Forderung nach einer neuen Bücherverbrennung hinreißen lassen: Ja, so etwas würde ich lieber verbrannt sehen, das will ich Ihnen ganz eindeutig sagen! Er nimmt diese Bemerkung auch nicht zurück. Er versucht sogar noch zu erreichen, dass die Lehrerin disziplinarisch gemaßregelt wird. Als er im Jahre 2005 Staatsminister für Kultur wird und ihn Journalisten mit dieser Geschichte konfrontieren, ist die Bemerkung von damals für ihn aus dem Zusammenhang gerissen. Wie gut, dass keiner der Journalisten die Geschichte von der Helgolandfahrt kennt. Ich habe die ganze Diskussion von damals, Zeitungsausschnitte, Flugblätter und offene Briefe, gesammelt und aufbewahrt, weil mir das so ungeheuerlich erschien. Ich glaube, ich werfe das mal jetzt weg.

In meinem Tagebuch von 1968 findet sich keine Erwähnung von irgendwelchen politischen Ereignisssen. Da stehen die Bücher drin, die ich gelesen habe, die Filme, die ich gesehen habe, die Musik, die ich hörte, die Frauen, mit denen ich flirtete. Ich habe kein Telephon, keinen Fernseher. Es gab ein anderes Leben.

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