Ich kann mich noch gut daran erinnern, ich war damals dabei. Mein Vater hatte für mich extra einen kleinen hölzernen Klappstuhl mitgenommen, damit ich auch etwas vom Spiel sehen konnte. Mein Vater kriegte immer gute Karten, weil der Vater einer seiner Sprechstundengehilfinnen DFB-Funktionär war. Vier Wochen nach dem Endspiel gab es die erste Ausgabe der Bild Zeitung, die sich dann prompt fragte, weshalb Sepp Herberger nur die Verlierer dieses Tages in die Schweiz mitnahm. Denn vom Deutschen Meister Hannover 96 war niemand beim Gewinn der Weltmeisterschaft dabei.
Meine Jugend gehörte dem Fußball, ich war Straßenfußballer wie wir alle im Nachkriegsdeutschland. Aus Gründen, die ich bis heute nicht verstehe, durfte ich nicht in den Fußballverein. Dabei hatte mein Vater vor dem Krieg in einer Mannschaft des Bremer Sport Vereins gespielt, aber ich durfte nicht in einen Fußballverein! Doch mein Vater nahm mich - und das ist jetzt ein wenig schizophren - an beinahe jedem Wochenende mit, wenn er zum Fußball ging. Später, als wir ein Auto hatten, bestand meine Mutter darauf, dass es am Wochenende auch mal einen Ausflug gibt. Aber mein Vater schafft es immer wieder, rechtzeitig zum Spielschluss in Bremen in der Nähe des Weserstadions zu sein. Und dann fährt er neben einer Straßenbahn her und lässt sich von den Leuten auf dem offenen Perron der Straßenbahn das Spiel erzählen, Autoradios gab es noch nicht.
Da er beim BSV gespielt hatte, gehen wir eigentlich immer zum BSV, selten zu Werder. Außer natürlich Weihnachten 1949, wenn der BSV gegen Werder spielt. Und 2:4 verliert. Und was habe ich damals gefroren! Die kleinen Schnürstiefel für Kinder taugen für die kalten Winter in dieser Zeit wenig, ich friere immer an den Füßen. Die von Oma selbstgestrickten Socken sind kratzig. Jahrzehnte später wird mir ein Buchhändler erzählen, dass er von den Socken der Nachkriegszeit eine richtige Sockenphobie bekommen hätte und heute nur noch Seidensocken tragen könne. Ist wahrscheinlich die kleinste Macke, die man aus der Nachkriegszeit davontragen kann. Es ist im Stadion schweinekalt, hier fegt der Wind nur so durch. Das Weserstadion ist damals viel kleiner als heute, ringsherum ist nichts, hier sagen sich Fuchs und Hase Gute Nacht. Amerikaner, die sonst überall auf Bremens Straßen sind, weil wir eine amerikanisch besetzte Zone sind, sind hier nie zu sehen. Die verstehen diese Sportart nicht. Das Stadion ist selten voll, außer wenn der Erzfeind aus Hamburg kommt. Egal, ob die in der Oberliga Nord gegen den BSV oder Werder spielen, jetzt geht da jeder Bremer hin. Da ist dann auch schon mal so voll wie 1955, wo der HSV Spieler Herbert Wojtkowiak nur mit Hilfe des Schiedsrichter und der Polizei den Eckstoß ausführen kann. Werder hat an dem Tag gewonnen. In meiner Erinnerung hat Werder sowieso immer gegen den HSV gewonnen, aber das stimmt wohl nicht ganz.
Ich verdanke dem Weserstadion viele schöne Stunden, ich verdanke dem Fußball sowieso viel, nicht nur wegen der zehn Jahre, die ich jeden Freitag in einer Unimannschaft gespielt habe. Vielleicht nicht soviel wie ➱Albert Camus, der einmal gesagt hat Alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtung weiß, verdanke ich dem Fußball. Man muss dabei bedenken, dass Albert Camus in seiner Jugend ein hervorragender Fußballtorwart gewesen war. Mein Torwartheld hieß damals nicht Camus sondern ➱Dragomir Ilic, der die ganzen fünfziger Jahre für Werder spielte.
So aufregend das Spiel um die Deutsche Meisterschaft am 24. Mai war und so toll es war, den Franzosen Ben Barek im Oktober 1954 beim Länderspiel Deutschland gegen Frankreich in Hannover zu sehen, es gibt zwei Spiele im Weserstadion, die ich nie vergessen werde. Das erste war ein Freundschaftsspiel von Werder gegen den englischen Klub Bolton Wanderers. Da gab es ein Vorspiel, Schüler Bremen gegen Schüler Hamburg. Bei den Hamburgern war so ein kleiner Dicker, der phänomenal spielte. Schoß den Ball gegen die Latte, holte ihn sich wieder. Schoß ihn dann in die Mauer von Abwehrspielern, holte sich den Ball wieder und beim dritten Versuch war er dann drin. Und alle sagten aus dem wird noch mal was! Keiner kannte seinen Namen. Aus ihm ist noch etwas geworden, denn ein Jahr später kannte ihn jeder. Es war Uwe Seeler.
Und uns Uwe, wie er wenig später heißen wird, war auch der Held am zweiten Weihnachtstag 1957, als der HSV zu einem irregulären Gastspiel gegen Braunschweig in Bremen ist. Das ist ein Spiel gewesen, das Uwe nie vergessen hat. Er wird das Spiel als das denkwürdigste Spiel seiner Karriere bezeichnen. Der HSV hat für ein Spiel Platzverbot am Rothenbaum, es hat Ausschreitungen gegeben, nachdem Uwe Seeler im Spiel des HSV gegen Bremerhaven zum ersten Mal in einer Karriere vom Platz geflogen ist. Es wird das einzige Mal in seiner langen Karriere sein. Der Platzverweis war eine glatte Fehlentscheidung gewesen, und nach dem Spiel wollten die Zuschauer dem Schiedsrichter an den Kragen. Nun müssen die Hamburger zur Strafe hier in Bremen gegen die Blau-Gelben spielen. Das Weserstadion ist voll, und alle sind auf der Seite der Braunschweiger Löwen. Bremer sind nun mal keine Fans der Hamburger.
Zwei Jahre zuvor, nach dem Gewinn der ➱Weltmeisterschaft, die ganz Fußballdeutschland verändert hatte, ist mein Vater mit uns nach Hamburg gefahren. Stadtbummel und Eis im Alsterpavillion essen. Aber vorher müssen wir noch etwas Wichtiges erledigen. Geradezu verschwörerisch führt uns Vaddi in ein großes Möbelgeschäft, lässt zahlreiche Verkäufer stehen, sucht zielsicher einen bestimmten Mann und tut dann so, als wolle er einen Teppich kaufen. Wir brauchen bestimmt keinen Teppich, und es wäre Unsinn, dafür ganz nach Hamburg zu Betten-Holm zu fahren. Bis mir plötzlich klar wird, wer das ist, mit dem Vaddi das redet. Jupp Posipal. Einer der Helden von Bern, im letzten Jahr der einzige deutsche Spieler, der in der Weltauswahl im Wembley Stadion gegen England gespielt hat. Der sich mit seinem ungarischen Gegenspieler Zoltan Czibor während des Endspiels auf Ungarisch unterhält. Wenn wir Glück gehabt hätten, hätten wir auch noch Dieter Seeler hier sehen können, der steht nämlich auch auf der Lohnliste bei Albert Götz. ➱Albert Götz mit seiner Firma Betten-Holm ist die Verkörperung des Wirtschaftswunders: ein dutzend Läden in Hamburg, ein eigener Fußballverein, dicke Autos, schöne Frauen. Wenig später ist er pleite.
Aber an diesem nassen und dunklen Nachmittag humpelt Posipal nach einer Viertelstunde verletzt auf dem Platz rum. Und was wäre die Hamburger Abwehr ohne Jupp Posipal? Jetzt, wo Posipal nicht mehr so richtig laufen kann, geht in der HSV Abwehr gar nichts mehr. Zur Pause ist der Ball viermal im Tor von Horst Schnoor gewesen. 4:0 für Braunschweig (oben), zum großen Vergnügen der Bremer Zuschauer. Das Spiel ist gelaufen. Es ist ein nasser, kalter Tag, ich überlege, ob ich jetzt gehen soll. Noch mal in die Innenstadt rein, die Nase an den Schaufensterscheiben plattdrücken und dann mit dem Zug zurück. Aber ich bleibe, wie alle anderen Zuschauer, doch noch.
Der Hamburger Trainer Martin Wilke (links) würde ja gerne Posipal auswechseln, aber das kann er nicht. Das mit dem Auswechseln ist in der Oberliga noch nicht erfunden. Hier wird man entweder vom Platz getragen oder man spielt weiter. Das würde den fußballspielenden Millionären heute, die sich bei jeder Muskelverhärtung auswechseln lassen, sicherlich wehtun. Von einer Winterpause ist auch nicht die Rede, dieses Spiel findet am zweiten Weihnachtsfeiertag statt. Die Spieler bleiben auch meistens ihr Fußballerleben lang bei einem Verein, der moderne Menschenhandel ist noch nicht erfunden. Es gibt auch noch keine Spielerberater, die Spieler verdienen eh nix, wenn sie nicht wie Posipal oder Dieter Seeler einen Job bei Betten-Holm hätten. Da denkt noch niemand daran, mit einem Porsche oder einem Ferrari zum Spiel zu kommen. Wenn man damals den Osterdeich entlang zum Weserstadion ging, konnte es einem passieren, dass Spieler von Werder Bremen auf dem Fahrrad an einem vorbei radelten. Das von der Ehefrau frisch gewaschene Trikot und die selbst geputzten Fußballschuhe hinten auf dem Gepäckträger. Die ist noch wirklicher Fußball, der nicht verleugnet, dass er mal ein Arbeitersport war. Fußball für Männer, kein Nutella Werbespot.
In der Halbzeitpause hat Martin Wilke einen genialen Einfall, er stellt Posipal jetzt als Mittelstürmer auf. Der läuft da nicht mehr viel, aber er ist eine Anspielstation und verteilt die Bälle mit Übersicht. Die Übersicht ist heute ja ein wenig aus dem Fußball verschwunden, wo alle nur noch wild und sinnlos hin und her rennen. Fußball in den fünfziger Jahren war langsamer, ein wenig wie Frauenfußball heute, aber dafür mit mehr Übersicht. Tempo ist nicht alles. Ich habe mal die alten Herren der legendären ➱HSV Mannschaft (Uwe war leider nicht gekommen) gegen eine Landesauswahl von Schleswig Holstein spielen sehen. Die waren alle viel jünger und viel, viel schneller, aber sie haben trotzdem verloren.
Mit Posipal als beinahe unbewegliches Sturmzentrum kommt der HSV jetzt ins Laufen. Plötzlich fallen Tore, Uwe schießt das erste. Und dann geht es los, selbst Posipal gelingt in der 60. Minute ein Treffer. Zwei Minuten vor dem Abpfiff schießt Uwe das sechste Tor für den HSV. 6:4. Da mussten selbst die Bremer Zuschauer widerwillig Beifall spenden. Am Ende der Saison steht der HSV zwei Punkte vor Braunschweig und ist Norddeutscher Meister. ➱Werder landet auf Platz sieben. Vaddis BSV ist da schon nicht mehr dabei, der war schon 1955 abgestiegen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen