Damals hieß der Norddeutsche Hof noch Bellevue. So hatte 1846 der Bäckermeister Arend Wieting sein Hotel genannt. Und eine schöne Aussicht hatte man von da oben auf der Geestkante, über die Weser bis weit ins Oldenburger Land: Der Garten des Hotels, etwa 20 m über dem Strome gelegen, gewährt eine reizende, unserem Flachlande eigenthümliche Aussicht, die sich auf der Plattform des Daches zu einer großen und prächtigen Rundschau erweitert: hier sieht man das Schloß und die Thürme zu Oldenburg sowie den Dom zu Verden, schreibt Lüder Halenbeck 1874 in seiner Geschichte Vegesacks. Ich glaube, das war ein wenig übertrieben. Auf diesem Bild aus dem Jahre 1909 kann man sehen, dass das Bellevue sogar einen eigenen Anleger hatte, den man sich mit dem Ruderverein teilte. Und einen kleinen Badestrand gab es hier auch. Nirgendwo anders im Ort gab es einen solchen Weserzugang, die heutige Strandstraße und der Stadtgarten wurde erst in den zwanziger Jahren durch den Bürgermeister Dr Werner Wittgenstein geschaffen.
Hier noch einmal der winzige eingezäunte Privatstrand, den sich seit der Jahrhundertwende das Bellevue und der Ruderverein teilten. Das Hotel ist links hinter Bäumen verborgen, was in der Bildmitte so hoch aufragt, ist die Villa Bischoff. Der Schriftsteller Per Leo, der hier aufgewachsen ist, hat die Villa in seinen Roman Flut und Boden hineingeschrieben. Er hat auch die Bäckerei Schnatmeyer nicht vergesssen, die neben der Villa Bischoff steht: jeden Abend beim Einschlafen weiß Martin, dass sich direkt neben dem Haus eine Bäckerei befindet. Durch das Flurfenster dringt der Schein ihrer Laterne in sein Schlafzimmer, und wenn es im Sommer offen steht, auch der Duft von frischem Schiffszwieback. Jeden Morgen gibt es zur warmen Milch einen davon, mit einer dicken Schicht Butter an ein Schwarzbrot geheftet.
Wir können in dem Familienroman aus der Weserstraße auch lesen: wo auf Höhe des Hotels Bellevue die Breite Straße auf die Weserstraße traf, baute der Schausteller Heinrich Dralle jedes Jahr am ersten Wochenende im September ein Karussell auf. Nach dem Krieg fängt der Vegesacker Markt erst einmal wieder ganz klein an, bevor er dann den ganzen Sedanplatz und den Aumunder Marktplatz belegt. Und alle Straßen dazwischen. Aber zuerst ist der Markt in der Weserstraße gewesen, keiner weiß mehr genau, wann das war. Doch dass ein kleines Karussell vor Giessels Kolonialwarenladen stand und Keunekes Wurstbude vor Schnatmeyer war, daran erinnert sich jeder.
Das Hotel hat seine große Zeit im 19. Jahrhundert, aber nur in Per Leos Roman taucht es in der Literatur auf. Doris Groth, deren Familie in der Weserstraße eine Villa hat, erwähnt es in ihren Briefen und Tagebüchern nicht, Bruns Garten in Leuchtenburg dagegen ständig. Und auch die feine Bremer Gesellschaft in Marga Bercks Liebesroman Sommer in Lesmona meidet das Bellevue. Sie findet sich einmal im Jahr zu einem Volksball im Havenhaus in Vegesack ein: Also ist es eine alte Sitte, daß die Bremer Familien von den Landgütern dieser Gegend sich einmal im Sommer oder alle paar Jahre irgendwann zu einem Volksball im alten Vegesacker Havenhaus treffen. Die Alten sitzen in irgend einer Ecke, und die Jugend tanzt. Ich war noch nie dabeigewesen.
Das Erlebnis im Havenhaus bedeutet der Heldin viel, und so schreibt sie später: Wir tanzten schöner denn je und immer nur wir beide, und wir dachten an den Volksball in Vegesack und an den Abend im Hotel Hillmann nach dem Rennen und an Nizza. Es war ein solcher Rausch und dabei der Abschiedsgedanke in der Kehle. Das Nizza, an das die Erzählerin denkt, ist nicht das Nizza in Frankreich, sondern eine künstliche Grotte im Park des Hauses Lesmona.
Das Bellevue hat nicht nur mit dem Havenhaus, die einen Ballsaal und einen Sommergarten angebaut haben, Konkurrenz bekommen. Denn inzwischen gibt es die Strandlust, die dem Hotel den Rang ablaufen wird, das erste Haus am Platze zu sein. Das war 1857 noch anders gewesen, da hieß es in dem Reiseführer Bremen: Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen für Fremde und Einheimische in dem Kapitel zu Vegesack: Die Heimat der verlassenen hübschen Frauen der Bremer Capitains. Aeusserte Nettigkeit der Häuser, niedliche Gärten und hübsche Aussicht von den hohen Ufern der Weser werden bei jedem Fremden eine angenehme Erinnerung an Vegesack hinterlassen. Die besuchtesten Vergnügungsörter sind: Das Hafenhaus, Belle-Vue (Wieting an der Weserstrasse) ... In einem kleinen Buch aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts Bremen und seine Ausflugsziele wirbt die Strandlust mit Schönste und größte Vergügungsstätte der Bremer Umgegend, direkt am Weserstrom gelegen. Vom Norddeutschen Hof gibt es keine Anzeige. Dabei hatte der Pächter gerade unterhalb des Restaurants einen Sommergarten mit Tanzfläche auf einer Terrasse anlegen lassen. Der wird im Sommer gut besucht. Das hätte sich doch bewerben lassen. Aber die Strandlust hat auch einen großen Sommergarten, sogar mit einem Musikpavillon. Die Strandlust wirbt außerdem mit ihrem neuangelegten Parkplatz, so etwas kann der Norddeutsche Hof nicht bieten. Parkplätze gibt es in der Weserstraße nicht. Auch heute nicht.
Neben dem Norddeutschen Hof hat die Bäckerei Schnatmeyer einen Stollenbunker, der in den Hang eingegraben war. Er diente den Anwohnern in den letzten Kriegstagen 1945 als Schutz, als die Engländer den Ort von Lemwerder aus beschossen. Zwischen Schnatmeyer und dem Hotel Bellevue war eine kleine Flakstellung eingerichtet worden, bemannt von Fünfzehnjährigen. Wenn der Engländer kommt, dann verschwindet ihr aber im Bunker, hatte der alte Schnatmeyer ihnen gesagt. Hier wird wenige Tage vor Kriegsende der Studienrat Dr Alwin Belger, der der Lieblingslehrer meiner Mutter (aber keineswegs der Lieblingslehrer von Ruth Rupp) war, durch einen englischen Tiefflieger zu Tode kommen. Nur wenige Meter entfernt von unserem Heimatmuseum, in dem er die letzten Jahrzehnte mit der Aufarbeitung des Gerhard Rohlfs Nachlasses verbracht hat. Er wollte mal eben durch das Fernglas der Flakstellung neben Schnatmeyer schauen, wäre er im Museum geblieben, wäre ihm nichts passiert. Man hatte ihn noch auf eine Schubkarre vom Polstermeister Ühne Flügel gegenüber gelegt und zum Hartmannstift fahren wollen, aber es war ihm nicht mehr zu helfen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass hier schon einmal Kanonen standen. Aufgestellt 1808 von französischen douaniers in grünen Uniformen im Wietingschen Garten, die die Kontrolle über die Weser haben wollen. Die Kontinentalsperre hat den Schmuggel aufblühen lassen, der Ort lebt davon.
Ende April 1945 türmen die Soldaten unter dem Kommando eines Oberleutnants, der Vegesack bis zur letzten Patrone verteidigen wollte. Übrig bleiben die russischen Kriegsgefangenen, die sie zur Einrichtung der Flakstation mitgebracht hatten. Das Hotel ist voll, Flüchtlinge aus Ostpreussen, alte Männer, die in letzter Minute zum Volkssturm eingezogen worden waren und jetzt nicht wissen wohin. Die Küche arbeitet noch. Die Engländer erobern den Ort, auf der Strandlust weht die englische Flagge, aber nur für einige Tage. Die Amerikaner haben den englischen Verbündeten klar gemacht, dass sie unbedingt Bremen brauchen. Wegen Bremerhaven, das wird jetzt zum Port of Embarkation für die Amerikaner. Die US Army richtet im Hotel ihr Vegesacker Hauptquartier ein, der Pächter und seine Familie dürfen als Hausangestellte bleiben. Der spätere Direktor des Gymnasiums Dr Johannes Schütze arbeitet jetzt als Übersetzer des Stadtkommandanten. Als die Amerikaner 1947 abziehen, überlassen sie das Haus amerikanischen Zivilangestellten. Als die ausziehen, gehört das Haus einem Jugendklub unter amerikanischer Leitung. Erst 1953 kann der Pächter wieder in sein Hotel.
Das Haus ist nicht mehr dasselbe, es verkümmert über die Jahre. Die Freimaurer kommen nicht mehr, weil die 1968 ihr Logenhaus zurückbekommen haben. Nur der Schachklub bleibt dem Hause treu. Draußen am Haus wird eine Reklame für Haake-Beck montiert, das blaue Emailleschild des ADAC bleibt an der Wand, obgleich der ADAC das Hotel schon lange nicht mehr empfiehlt. Der Pächter hat nicht das Geld für eine Renovierung, und den Eigentümer interessiert es nicht. Der Eigentümer ist übrigens die Stadt Vegesack. 1976 wird das ehemalige Bellevue abgerissen. Die Norddeutsche Volkszeitung schreibt dazu: Mit Riesenschritten kommt der Abbruch des ehemaligen Hotels Norddeutscher Hof in der Weserstraße in Vegesack voran. Der einst stolze gastronomische Betrieb, in dem fast 130 Jahre unzählige gesellige und informative Veranstaltungen stattgefunden haben, gleicht nur noch einem Trümmerhaufen. In wenigen Tagen werden die Nordbremer von dieser Stelle einen guten Durchblick zur Weser haben. So kann man das auch formulieren. Das gute Durchblick kann man mit belle vue übersetzen. Dieses Doppelhaus ist einer der Neubauten auf dem Grundstück, der andere Bau (in dem der ADAC sitzt) ist so hässlich, dass es kein Bild davon im Internet gibt.
Die Weserstraße ist zu einer Spielwiese für Immobilienspekulanten geworden, die repräsentiven riesigen Villen der Kaiserzeit locken sie an. Die Villa Bischoff wurde inzwischen verkauft. Sie ist äußerlich unverändert. Die Villa Danziger (seit 1928 das Theresienhaus) neben dem Norddeutschen Hof wurde abgerissen und durch einen Neubau ersetzt, der den Namen Bellevue trägt. Die Danzigers und die Schröders sind miteinander verwandt, sie haben im Ort noch eine Villa (Bild), die viel schöner ist als die beiden gelbbraunen Kästen in der Weserstraße. Die Villa Schröder wurde an Olaf Mosel verkauft, der mit seinem M-Projekt seine Finger überall drin zu haben scheint.wird zur Zeit umgebaut, ob der Anbau, wo die netten beiden Damen Hannelore Arfmann und Ingeborg Meyer (deren Vater Direktor des Bremer Vulkans war) wohnten, abgerissen wird, ist noch nicht entschieden. Auch noch nicht entschieden ist, ob es zu einem Abriß des Verwaltungsgebäudes des Vulkans unten in der Weserstraße kommt. Die Villa Fritze ist wie die Villa Bischoff äußerlich unverändert, innen aber entkernt und zu Luxuswohnungen umgestaltet. Alle Ornamente und Verzierungen sind geblieben, das Haus stand unter Denkmalschutz. Ist besser als abreißen. Die Preise sind kaum bezahlbar. Von den Leuten, die vor einem halben Jahrhundert hier lebten, wie unser Nachbar der Malermeister Wenzel, könnte hier niemand mehr wohnen.
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