Ich komme mit der Lektüre von der Strudlhofstiege nicht voran. In der Zeit, in der ich hundert Seiten von Heimito von Doderer lese, schaffe ich drei Romane von Joseph Roth. Manche Österreicher sind sperrig. Den Mann ohne Eigenschaften habe ich letztens noch einmal zu lesen versucht, ging nicht. Dagegen war Brochs Tod des Vergil, den ich noch einmal las, ein Klacks. Aber jetzt habe ich etwas Neues entdeckt: →Walter Kappacher. Der ist in diesem Jahr achtzig geworden und schreibt seit beinah einem halben Jahrhundert. Ist an mir vorbeigelaufen, ist mir peinlich. Aber im neuen Jahr, da schreibe ich über ihn. Das habe ich mir fest vorgenommen.
Das habe ich 2018 in dem Post Lesedefizite geschrieben und habe es im letzten Jahr in dem Post der blaue Koffer wiederholt. Im Jahr 2019 wird in dem Post die richtigen Männer immerhin schon mal ein Roman von Kappacher erwähnt: In seinem Roman Der Fliegenpalast lässt Walter Kappacher die Hauptfigur Hugo von Hofmannsthal über dessen Henry James Lektüre sagen: Es hatte ihm wohlgetan, an der sicheren Hand des Autors in die Geschichte hineingezogen zu werden. Das ist eine schöne Sache, vom Autor geleitet zu werden, aber nicht immer wollen die Autoren die Leser leiten. Für die Geschichte Sommerurlaub wollte ich das auf keinen Fall. In dem Post Geburtstagsfeier schrieb ich: Mit meiner schönen Buchhändlerin komme ich auch nicht weiter. Sie ist gerade dabei, sich mit dem Renault Händler zu verabreden. Ist sich aber nicht sicher, ob das mit ihnen was werden könnte. Ich könnte sie jetzt natürlich unter der Dusche Arabellas Arie ✺Aber der Richtige, wenn's einen gibt für mich auf dieser Welt singen lassen, aber das wäre zu viel an Symbolik. In der Geschichte sind wie in 'Sommerurlaub' Sprache und Emotionen abgespeckt, keine Symbolik, wenig Adjektive. Und keine sichere Hand des Autors zieht in die Geschichte hinein.
Das hätte Walter Kappacher gefallen, er erinnerte sich: wie mich (der von Literaturtheorien nicht die geringste Ahnung hatte) nach meiner allerersten Lesung in einem Hörsaal der Salzburger Universität anschließend Studenten aufmerksam machten, meiner Prosa fehle die Reflexion. Darauf wusste ich nichts zu antworten, erinnerte mich erst auf dem Heimweg, wie schwierig es gewesen war, alles derartige aus dem Text herauszustreichen.
Mein Freund Peter in Hamburg hat mir vor Jahren gesagt, ich müsse Walter Kappacher lesen. Er hat mir auch vor ganz vielen Jahren gesagt, ich müsse Erwin Chargaff lesen. Habe ich getan, und Erwin Chargaff hat hier auch schon einen Post. Vielleicht ist der Peter von Chargaff auf Kappacher gekommen, denn die beiden waren befreundet. Chargaff hatte Kappacher im Jahr 2000 nach New York eingeladen. Und Chargaff hat über Kappacher gesagt: Er schreibt eine Art Hochquellprosa. Unendlich viel Arbeit geht in einen Stil, den man zuerst nicht wahrnimmt. Kappacher hat nach Chargaffs Tod das kleine Buch (es sind 26 Seiten) Hellseher sind oft Schwarzseher: Erinnerungen an Erwin Chargaff geschrieben.
Es war ein langer Weg, bis Kappacher diesen Hochquellprosa Stil fand. Es war ein langer Weg, bis er zu schreiben anfing. Er hatte kein Abitur, sondern nur einen Volksschulabschluss. Machte eine Lehre als Motorradmechaniker, fuhr Rennen mit dem Moppät. Arbeitete in einer →Werkstatt: Diese Welt der Motoren barg für mich ein großes Geheimnis: Wie funktionierte das alles, all die zusammenhängenden, wirkenden Einzelteile, das wollte ich begreifen lernen. Das Auto als Fahrzeug interessierte mich nicht, vielmehr das Rennmotorrad, seit ich jeden ersten Mai zur nahen Autobahn lief und das Training und das Rennen zum jährlichen Großen Preis von Österreich verfolgte, während welchem die Autobahn für zwei Tage gesperrt wurde.
Nach der Lehrzeit machte er dann etwas ganz anderes. War Schauspielschüler (nachdem ich Oskar Werner auf der Bühne erlebt hatte, wollte ich zum Theater. Zu spät hatte ich gemerkte, es war nicht die Schauspielerei, es war die Sprache Goethes, Lessings, Kleists, die mich faszinierte, die ich im Theater kennen und lieben gelernt hatte) und Volontär in einem Reisebüro. Fing an zu lesen, holte alles nach, was im fehlte. Denn das wahre Leben ist die Literatur, wie Proust uns am Ende der Recherche sagt.
Kappacher konnte sich noch an sein erstes Buch erinnern: Das erste Buch, an das ich mich erinnere, wahrscheinlich von der amerikanischen Militärbehörde an die Haushalte verschickt: Schlechtes, bräunliches Papier. Der Titel auf dem Umschlag: Buchenwald. Wie hatte ich mich gefreut, als mein Vater es weggelegt hatte: Ein Buch. Ich hatte mir einen Wald vorgestellt, in dem Bücher von den Bäumen hingen. Stattdessen baumelten ausgemergelte tote Männer an Stricken. Und er wusste auch noch: Wie ich mir aus der Bibliothek des Amerikahauses ein Buch von James Fenimore Cooper auslieh, mit dem magischen Titel 'Der Lederstrumpf'. Und darauf ein für mich mühsam zu lesendes Buch von Jack London: 'Martin Eden', ein Roman, welcher von einem jungen Mann handelte, der Schriftsteller werden möchte.
Der Roman ist sicherlich ein autobiographisches Werk des jungen Jack London, unser Leser mit dem krausen Leserleben behält das im Kopf. Seit der Volksschulzeit wurde ich ein Leser. Leidenschaftlich gerne las ich die wöchentlichen Kriminalschmöker meines Vaters, sobald er sie auf die Seite gelegt hatte. Später lieh ich mir von Schulkameraden einige Bände Karl May. Mit ungefähr zehn Jahren wünschte ich mir zu Weihnachten einen dicken Packen Schreibpapier – ich wollte ebenfalls einen Roman schreiben. Es blieb beim Wollen. Es wird noch etwas dauern, aber er wird Schriftsteller werden. Mit siebzig Jahren schreibt er den Roman →Der Fliegenpalast, den die Frankfurter Allgemeine als Vorabdruck ins Feuilleton nimmt. Kappacher gelingt im 'Fliegenpalast' nicht nur eine behutsame und doch beinahe intime Annäherung an den Dichter, sondern überdies auch noch das subtile Psychogramm eines alternden Mannes und feinsinnigen Künstlers. Und dass sich Kappacher, der die Siebzig überschritten hatte, in der Figur des zur Melancholie neigenden Dichters selbst gespiegelt hat, ist kaum zu leugnen, schreibt Peter Mohr in literaturkritik.de. Den Roman hatte Kappacher schon früher begonnen. Im Jahr 2000 hatte er die Erzählung Vorübergehende Abwesenheit: Ein Capriccio geschrieben. Die gab es allerdings nur als Privatdruck, den Kappacher an seine Freunde verschenkte.
In einem Interview hat Kappacher zu dem Roman Der Fliegenpalast gesagt: Die gescheiten Leute haben gesehen, dass es kein oder nicht nur ein Hofmannsthal-Buch ist, sondern ein Buch über einen Menschen, der älter wird, der Angst hat, mit seiner Arbeit nicht mehr fertig zu werden, der einsam ist und gleichzeitig voller Menschenscheu ... Alles, worunter dieser Mensch Hofmannsthal leidet, ist mir bestens bekannt - außer, dass ich kein berühmter Autor bin. Ich war beim Schreiben des Buchs etliche Male vorm Aufgeben. Das Scheitern hat praktisch jeden Tag vor der Tür gestanden, bis ich - wahrscheinlich beim Spazierengehen - draufgekommen bin, dass es auch ein Buch über mich ist. Als ich das eingesehen habe, ist es leichter gegangen.Als er mit vierzig Jahren zu schreiben begann, gab er seinen Beruf als Reisekaufmann auf. Er hat als Autor Förderer gehabt, nicht nur Erwin Chargaff. Seine ersten Schreibversuche wurden auf die Empfehlung von Martin Walser in der Stuttgarter Zeitung veröffentlicht: Ohne mir zu sagen, ob sie etwas taugten oder nicht (wie ich gehofft hatte), schickte er sie weiter zur 'Stuttgarter Zeitung'. Als ich mich nun mit ihm bekannt machte, fragte er, wie es mir mit dem Schreiben gehe. Als wir ins Wohnzimmer traten, blickte Walser auf die Bücherwand und meinte: 'Die Manesse-Bändchen stehen auch bei mir ganz oben'. Peter Handke hat sich dafür eingesetzt, dass Kappacher 2004 der Hermann Lenz Preis verliehen wurde. Kappacher gönnt sich von dem Preisgeld eine Amerikareise. Die Preisverleihung hatte ihn einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Und seine Heimatstadt Salzburg wird ihn mit dem Kulturpreis der Stadt und dem Ehrendoktortitel auszeichnen.
Er hat im Alter angefangen zu photographieren. Im Jahre 2004 hat er am Grabensee bei Obertrum (wo er von 1996 bis 2014 lebte) begonnen, das Schilf zu photographieren. Es ist immer der gleiche Uferabschnitt im Umkreis von 150 Metern. Da spielt sich alles ab. Hauptsächlich im Spätherbst und im Winter. Im Sommer ist gar nichts, da gibt es nur üppig sprießendes Schilf, aber das ist für mich kein Motiv. Für andere ist üppig sprießendes Schilf schon ein Thema. Mein Onkel Karl, der Bildhauer, war auch ein großer Naturbeoachter. Und er hat ein Schilfgedicht geschrieben, für das er allerdings das Schilf des Sommers brauchte:
das grüne schilfhalmdickichtin den wind gestellt
beschränkt den blick
gelassen neigen
die schäfte
vor dem übersteigen
der schwestern sich
Kappacher photographiert im Winter die Eisschollen, unter denen das Schilf ist. Seine Photos der Seenlandschaft sind von einer ganz eigenartigen Art. Schönheit des Vergehens hieß der erste Photoband, der siebenundfünzig Photos vom Grabensee durch die Jahreszeiten zeigt. In seinem Photobuch schreibt er dazu: Unsere Gegenwart misstraut dem Schönen. Es sei nicht mehr zeitgemäß, sich angesichts der Schrecken von Kriegen, Gemetzel und Katastrophen mit schönen Dingen zu beschäftigen, lese ich immer wieder einmal. Aber die Welt des Menschen war wohl seit jeher gekennzeichnet von Schrecknissen, Kriegen, Hungersnöten und anderen Katastrophen. Die große Mehrheit der Menschen ist anscheinend nicht imstande, mit ihrer Mitwelt in Frieden zu leben. Es ist sehr schwer, an so etwas wie Aufklärung zu glauben. Die großen Künstler haben davor nicht die Augen verschlossen, sie haben ja auch selber daran gelitten. Sie übten Kritik an der Welt, wie sie war, indem sie schöne Werke schufen. Über seine Tätigkeit als Photograph hat er gesagt: Das Fotografieren hat mich gelehrt, besser zu schauen - jetzt, nach hunderten von Bildern, wäre die Kamera längst überflüssig.
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