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Donnerstag, 20. Oktober 2022

Jean-Pierre Melville

Heute vor 105 Jahren wurde der französische Regisseur Jean-Pierre Melville geboren. Er war schon häufig in diesem Blog, zum Beispiel in den Posts Lino Ventura und Yves Montand, in denen viel über seine Filme steht. Seine Filme kann man heute beinahe alle als DVD erhalten, das war vor zehn Jahren noch nicht so. Da war es so gut wie unmöglich, die DVD von La Deuxieme Souffle zu bekommen. Es ist erstaunlich, wie wenig es an Literatur über den Mann gibt, der den französischen Gangsterfilm perfektioniert hat. 1973 erschien in Paris Rui Nogueiras Le cinema selon Melville, das 2002 von Robert Fischer als Kino der Nacht: Gespräche mit Jean-Pierre Melville übersetzt und herausgegeben wurde (die englische Ausgabe erschien als Melville on Melville in der Reihe Cinema One). Ich habe von diesem Buch hier eine Leseprobe. Der Filmjournalist Robert Fischer weiß alles über den französischen Film, er wird in diesem Blog schon in dem Post François Truffaut erwähnt.

Das Buch Jean-Pierre Melville, das Peter W. Jansen und Wolfram Schütte für die Stiftung Deutsche Kinemathek bei Hanser herausgegeben haben, kann man immer noch antiquarisch finden. Es enthält als Herzstück eine 110-seitige kommentierte Bibliographie aller Melville Filme von Hans Gerhold, einem Kenner des französischen Films. Sein Buch Kino der Blicke: Der französische Kriminalfilm habe ich schon in dem Post Alain Delon zitiert. In dem von Ivo Ritzer herausgegeben Band Polar: Französischer Kriminalfilm gibt es ein Kapitel über Melville von Bernd Kiefer. Dieses Buch habe ich schon in dem Post Ertrinken verboten erwähnt. Beim British Film Institute ist 2003 das Buch Jean-Pierre Melville: An American in Paris von Ginette Vincendeau erschienen, das war neben Melville on Melville das erste Buch über Melville in englischer Sprache. In Frankreich sind vor fünf Jahren noch zwei Bücher über Melville erschienen: Jean-Pierre Melville, le solitaire von Bertrand Tessier und Jean-Pierre Melville, une vie von Antoine de Baecque. Viel mehr gibt es leider nicht.

Melville schuf sich in seinen Filmen seine eigene Welt, eine filmische Mythologie der Leere, wie Bernd Kiefer das fomuliert hat. Melville war Regisseur, Autor und Produzent, der einzige auteur complet des französischen Films. Er war Soldat gewesen, war aus Dünkirchen dank der Operation Dynamo entkommen und danach in den Widerstand gegangen. Je désire servir sous le nom de Melville, hatte er 1943 in London auf das Dokument des FFL geschrieben. Er verehrte Herman Melville, seit er als Jugendlicher Pierre, or the Ambiguities gelesen hatte: Ich entdeckte Melville, als ich lange vor Jean Gionos 'Moby Dick'-Übersetzung auf englisch 'Pierre, or the Ambiguities' las, ein Buch, das mich für immer geprägt hat ... Was ich von Herman Melville halte, geht viel tiefer als ein brüderliches Gefühl, es ist beinahe die Bewunderung eines Sohnes. Herman Melville ist mein Vater, mein Großvater, mein älterer Bruder - das heißt, ich bewundere ihn nicht nur grenzenlos, sondern empfinde auch Respekt vor ihm. In der Tat , würde mich jemand fragen, wer ich gerne in meinem Leben gewesen wäre, so würde ich ohne Zögern antworten: Herman Melville.

Nach dem Kriege gründete Jean-Pierre Melville seine eigene Produktionsfirma und hatte mit den Studios Jenner in Paris seine eigenen Studios. Hier kann er sich die amerikanischen Filme ansehen, die er liebt. Manche dreißig oder vierzig Mal. Sein Lieblingsfilm ist John Hustons ✺Asphalt Jungle. Melvilles Markenzeichen wird die Ray Ban Sonnenbrille und der weiße Stetson Hut, den er auch während der Dreharbeiten nie abnahm. Was wäre Alain Delon in ✺Le Samourai ohne seinen Burberry und seinen Borsalino? Aber für Melville musste es der amerikanische Stetson sein und der weiße Ford Galaxy, mit dem er nachts durch ✺Paris fährt. Weil er den amerikanischen Gangsterfilm neu erfindet. Und weil seine Filme eigentlich Western sind: Alle meine Originaldrehbücher sind ohne Ausnahme transponierte Western, hat er in dem Interview mit Rui Nogueira gesagt. 

Melvilles Gangster sind sein Phantasieprodukt: Ich habe nie, wirklich nie, realistische Gangsterfilme gemacht. Denn es gibt nichts Langweiligeres und Idiotischeres als das französische Gangsterleben. Deshalb habe ich die Funktion des Gangsters neu erfunden und idealisiert. Ich habe 'französisch' gesagt, aber das gleiche gilt für das Gangstertum der ganzen Welt. Gangster sind Dummköpfe. Ich habe eine Gangster-Rasse erfunden, die nirgends auf der Welt existiert - auch nicht in den USA. Mein Gangster-Typ entspringt nur meiner Phantasie. Er erlaubt es mir, eine Geschichte zu erzählen. Er ist in allem ein Vehikel für ein Abenteuer, für ein - ich wiederhole es - geträumtes Abenteuer. Niemals bin ich dabei auf Realismus aus. 

In der Welt des Kriminalfilms und des Film Noir tragen Gangster und Polizisten beinahe immer einen Trenchcoat. Heinz Rühmann ist als Maigret ein trauriger Beweis dafür, dass nicht jedermann einen Trench tragen kann. Auch Melville sah im Trenchcoat ziemlich peinlich aus, da war es schon besser, dass seine Filmhelden Montand, Ventura, Belmondo und Delon den trugen. Wo seine Filme von einer faszinierenden kalten Schönheit, konsequent unrealistisch, ästhetisiert, stilisiert, permanent voll kühler, sirrender Spannung doch sowieso nichts mit der Wirklichkeit der Unterwelt von Paris zu tun hatten und nur die Realisierungen seiner Träume waren. Der Trenchcoat war für viele Schauspieler das perfekte Kleidungsstück. Sah Alan Delon jemals wieder so gut aus wie in Der eiskalte Engel? Verdankt nicht Humphrey Bogart seinen Mythos seinem Regenmantel? Er hat es selbst gesagt: The role doesn't bother me. I've been doing the role for years. I've worn that trench coat of mine in half the pictures I've been in.

Die Trenchcoats werden als vestimentäres Symbol in dem Genre bleiben, bis zur Karikatur in der Sesamstraße, wo wir diesen Detektiv, aber auch Sherlock Humbug (im Original Sherlock Hemlock), finden. Sie haben bei uns ihre große Zeit in den Edgar Wallace Filmen. Die sind ohne Trenchcoats gar nicht denkbar (lesen Sie mehr dazu in Hexer, Zinker et al.). Alle tragen Regenmäntel, ob sie nun Joachim Fuchsberger, Heinz Drache oder Siegfried Lowitz heißen. Nur Siegfried Schürenberg als Chef von Scotland Yard nicht. Gangster und Kommissare können Trenchcoats tragen, Chefs tun das nicht.

Auf einer filmisch etwas höheren Ebene als dem German Grusel der sechziger Jahre finden wir den Trenchcoat im französischen Kriminalfilm. Hier sehen wir Yves Montand in ✺Le cercle rouge, einem Klassiker von Jean-Pierre Melville, den viele Kritiker für seinen besten Film halten. Und, seien wir ehrlich, Yves Montand oder Alain Delon hätte nie eine Schimanski Jacke getragen. Die französischen Schauspieler haben immer gute Schneider (lesen Sie mehr dazu in dem Post Lino Ventura). Horst Tapperts Anzüge in der Sendung Derrick stammten angeblich alle von Max Dietl, sie sehen aber alle nicht nach einem Maßanzug, sondern eher nach Cheap & Awful aus.

In Le cercle rouge (Vier im roten Kreis) trägt auch André Bourvil als Commissaire Mattei einen Trenchcoat. Die Grenzen haben sich verwischt, in der Welt von Melville sind Gut und Böse nicht mehr zu unterscheiden, Gangster und Polizisten tragen dieselben Klamotten: Die Austauschbarkeit von Gangstern und Polizisten manifestiert sich in den Details der Ikonographie Melvilles: In beiden Welten werden lange schwere Mäntel getragen, breitkrempige Hüte, dunkle korrekte Anzüge oder emblematische helle Trenchcoats mit Gürtel und hochgeschlagenem Kragen, schreibt Hans Gerhold. 

Melville hatte das selbst gesagt: Ich habe in meinen Gangsterfilmen immer wieder versucht, den Polizisten stark dem Gangster und den Gangster stark dem Polizisten anzugleichen. Sie sind meist ähnlich gekleidet, und oft fragt sich der Zuschauer, welches wohl der Polizist und welches der Gangster ist - man kann und man soll sich darüber täuschen. Melville hätte gern Lino Ventura als Kommissar gehabt, aber mit dem hatte er sich verkracht. Bourvil zu nehmen, war ein Wagnis, denn der war in Frankreich nur als Komiker bekannt. Aber Bouvil war genau der Richtige in der Rolle. Er wollte diese Rolle auch haben, niemand wusste, dass er todkrank war und nach den Dreharbeiten sterben würde. Einem Freund hatte er über seine Krankheit gesagt: C'est injuste, je n'ai jamais fumé, ni bu, ma femme m'a toujours soigné avec une cuisine saine. Den fertigen Film hat Bouvil nie gesehen.

Es gibt wenig Frauen in Melvilles maskuliner Phantasiewelt, vor allem keine nackten Frauen. Bilder wie hier Fabienne Dali in Le Doulos sind selten: Ein Mann und eine Frau im Bett, Frauen, die sich ausziehen - das ist kaum mehr zu ertragen. Wir sind sehr weit von dem berühmten amerikanischen Kino der dreißiger Jahre entfernt, wo die Erotik auf einem anderen Niveau warDas war wahre Erotik, die die sexuellen Instinkte der Männer und Frauen kitzelte. Im übrigen gab es damals, als die Frauen auf der Leinwand völlig angekleidet waren, mehr Erotik als heute, wo sie oft ganz nackt sind, sagt Melville. Was Melville hier meint, trifft auch auf den amerikanischen Film Noir zu, auf Filme wie Gilda oder die Filme von Jacques Tourneur.

Im vorletzten Film von Melville gibt es keine Frauen: Ich kehre zu einer alten Liebe zurück, dem Krimi, dem Abenteuerfilm. Zu einem physischen Kino mit Männern. Es gibt keine Frauen in meinem Film, das habe ich nicht absichtlich gemacht, ich bin nicht frauenfeindlich. Aber als ich das Drehbuch schrieb, merkte ich, dass es einfach keinen Platz für Frauen gibt, hat Melville über Le cercle rouge gesagt. In seinem letzten Film hatte er wenigsten Catherine Deneuve für uns. Sie zog sich in Un Flic allerdings auch nicht aus. Und hatte auch nicht viel zu sagen: Dans 'Un flic', il y a une femme qui dit en tout et pour tout: 'Ca va?'. Et une heure et demie plus tard décroche un téléphone et dit: 'Oui'. Et c'est Catherine Deneuve qui a accepté de la faire. Elle a compris qu'étant la seule femme du film tout à coup sa présence devient importante.

Manchmal war Melville vor der Kamera zu sehen, am berühmtesten ist vielleicht sein Auftritt in A Bout de Souffle, wo er einen Schriftsteller namens Parvulesco spielt: Ich habe zugesagt, Parvulesco zu 'spielen', um Godard eine Freude zu machen. Er hatte mich in einem Brief aufgefordert, in seinem Film zu spielen: 'Versuch über Frauen zu sprechen, wie Du gewöhnlich über sie sprichst.' Das habe ich getan. Für die Rolle habe ich mich von Nabokov inspirieren lassen, den ich in einem Fernsehinterview gesehen hatte. Ich war wie er scharfsinnig, eitel, selbstbewußt, ein bißchen zynisch, naiv usw. Wenn ihn in diesem Film Jean Seberg in einem ✺Interview fragt: Nach was streben Sie in Ihrem Leben am meisten? sagt er: Nach Unsterblichkeit. Unsterblich werden und dann sterben. Und dann nimmt Jean Seberg ihre Sonnenbrillle ab und steckt einen Brillenbügel in den Mund. Sie scheint über den Satz nachzudenken. Ich weiß nicht, ob das so im Drehbuch stand oder ob der Satz von Melville ist. Wir lassen dieses devenir immortelle et plus mourir mal so stehen, es passt zu ihm.


Ich habe hier noch den Dokumentarfilm ✺Melville, le dernier samouraï für Sie. Und einige Filme, die Sie sehen könnten. Sollten. Müssen: ✺Bob le Flambeur, ✺Le Doulos, ✺La Deuxieme Souffle, ✺Le cercle rouge, ✺Le Samourai, ✺Un Flic

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