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Sonntag, 6. August 2023

der blaue Koffer

Ich habe vor Monaten geschrieben, dass ich jetzt Krieg und Frieden zum dritten Mal lese, und das in der Übersetzung von Barbara Conrad. Ich lese ja noch neben dem Schreiben, aber vieles bleibt liegen. Was mir ein schlechtes Gewissen macht. Ich bin von Lesern gefragt worden, ob ich nicht mal etwas über Walter Kappacher schreiben könne. Das wollte ich auch, und er wird immerhin in die richtigen Männer schon mal erwähnt. Woraus sie folgern können, dass ich Kappachers Roman Der Fliegenpalast gelesen habe. Vor fünf Jahren habe ich in dem Post Lesedefizite geschrieben:

     Ich komme mit der Lektüre von der Strudlhofstiege nicht voran. In der Zeit, in der ich hundert Seiten von Heimito von Doderer lese, schaffe ich drei Romane von Joseph Roth. Manche Österreicher sind sperrig. Den Mann ohne Eigenschaften habe ich letztens noch einmal zu lesen versucht, ging nicht. Dagegen war Brochs Tod des Vergil, den ich noch einmal las, ein Klacks. Aber jetzt habe ich etwas Neues entdeckt: Walter Kappacher. Der ist in diesem Jahr achtzig geworden und schreibt seit beinah einem halben Jahrhundert. Ist an mir vorbeigelaufen, ist mir peinlich. Aber im neuen Jahr, da schreibe ich über ihn. Das habe ich mir fest vorgenommen.

Habe ich wieder nicht getan. Weil immer wieder irgendetwas dazwischen kommt. Aber ich möchte aus der Strudlhofstiege das schöne Gedicht zitieren, das dem Roman vorangestellt ist:

Wenn die Blätter auf den Stufen liegen 
herbstlich atmet aus den alten Stiegen 
was vor Zeiten über sie gegangen.
Mond darin sich zweie dicht umfangen 
hielten, leichte Schuh und schwere Tritte, 
die bemooste Vase in der Mitte 
überdauert Jahre zwischen Kriegen.
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.


Nein, es kommt immer wieder etwas dazwischen. Also zum Beispiel so ein schräges Buch wie Altweibersommer, schräge Bücher sind bei mir immer gut aufgehoben. Selbst ein Ekel wie Céline hat in seinen Romanen große Momente (und hier im Blog zwei Posts: deux histoires d'amour und Louis-Ferdinand Céline). Vor einem halben Jahr hat mir Alban Nikolai Herbst einen Kommentar zu dem Post amour fou geschickt und mich darauf aufmerksam gemacht, dass Gerd-Peter Eigners unveröffentlichter Roman Der blaue Koffer: Ein Werdegang jetzt erschienen ist: Wie gut, daß es diesen Ihren Text gibt, den ich soeben erst gefunden habe. Ein kurzer Hinweis, der Sie, hoffe ich, interessieren wird: Gerd-Peter Eigners nachgelassener ich nenne ihn einmal Werdensroman "Der blaue Koffer" ist. herausgegeben von Christoph Haacker und mir, soeben im Arco Verlag erschienen. Unbekannter weise grüßt ANH.

Dass ein berühmter Mann wie Alban Nikolai Herbst meinen Blog liest, ehrt mich natürlich. Alban Nicolai Herbst hatte nach Eigners Tod in seinem Blog eine sehr schöne Würdigung veröffentlicht. Dass Der blaue Koffer erschienen war, wusste ich schon, aber die 32 € waren mir zu teuer. Ich dachte, ich warte noch, der Preis wird sicher fallen. Es ist ja traurig, dass Gerd-Peter Eigner kein Erfolgsautor ist. Hans Christoph Buch sprach in seiner Rezension von einer gewissen Sperrigkeit des Stils, den hat Eigner beinahe immer. Außer in Brandig. Mit dem Warten war das richtig, weil ich den Roman jetzt für zwölf Euro bekommen habe.

Doch das bedeutet wieder sechshundert Seiten lesen. Vierundsiebzig Jahre eines Lebens, das ihn aus dem Flüchtlingslager in Schlicktown nach Bremen, Paris, Kreta und Italien führte. Er hat sich in der Welt herumgetrieben, war einmal Gelegenheitsarbeiter in Les Halles in Paris. Mit dem Herumtreiben hat er das nicht so gesehen, er hat sich als Seßhafter in verschiedenen Ländern und Orten bezeichnet. Ich habe nicht alles von Eigner gelesen. Brandig habe ich damals aus einem Grabbelkasten gefischt, das war derselbe Grabbelkasten, in dem auch Irina Liebmann lag. Manchmal habe ich das Gefühl. dass ich meine ganze Bildung nur den Grabbelkästen verdanke. Brandig halte ich für einen genialen Roman, das habe ich wohl schon in dem Post amour fou deutlich gemacht. Ich beschloss damals, an dem Autor dranzubleiben. Was nicht immer leicht war. Wegen der Sperrigkeit des Stils. Es gab im Internet einmal tolle Seiten über Gerd-Peter Eigner, aber eines Tages waren die plötzlich alle verschwunden. Sie sind jetzt in der Way Back Machine von Internet Archive wieder aufgetaucht. An dieser Stelle sind auch die Erzählungen von Hans Fander gerettet, ich bin immer dankbar, dass es im Internet solche Seiten gibt.

Ich lasse den blauen Koffer noch eine Zeit ungeöffnet und lese erst einmal in Krieg und Frieden weiter. Das gibt Ruhe und Sicherheit. Und Geborgenheit in einer Welt, die ich durch zweimalige Lektüre schon kenne. Der Schriftsteller Gerd-Peter Eigner hatte 1971 angefangen zu schreiben, sein letztes Buch Der blaue Koffer ist ein unvollendetes Werk. Wenn ich eine Empfehlung geben sollte, wie man sich dem Autor nähern soll, dann würde ich sagen, lesen Sie Brandig. Worüber ein Rezensent schrieb: Wer Gerd-Peter Eigners Roman 'Brandig', der in diesem Herbst bei Hanser erschienen ist, nicht lesen will, muß sich von mir auf den Kopf zusagen lassen, daß er eine der wesentlichsten Neuerscheinungen des Jahres 1985 verpaßt und verpassen will, also nichts von Literatur versteht. Die den Roman in den höchsten Tönen lobenden Rezensionen finden Sie hier rechts auf der Seite zum Anklicken. Wenn Ihnen die Geschichte einer amour fou gefallen hat, dann lesen Sie alles, was auf den Seiten der Way Back Machine steht. 

Gerd-Peter Eigner ist ein in Deutschland – leider – relativ unbekannter Autor. Und das war – leider – schon zu Lebzeiten Eigners der Fall. Was auch daran liegen mochte, dass Eigner ein schwieriger Autor war. Vor allem aber liegt es daran, weil es eine Literatur ist, die aufgrund ihres Formbewusstseins nicht einfach und leicht zugänglich ist. Das schreckt ab. Es bleibt zu hoffen, dass »Der blaue Koffer« zur Wiederentdeckung Eigners beiträgt, sagt Lars Hartmann in einer schönen Besprechung von Der blaue Koffer. Eigner hat Literaturpreise bekommen, 2009 den Eichendorff Preis, 2010 den Nicolas Born Preis und 1979 einen Aufenthalt in der Villa Massimo. Er hat in den führenden literarischen Organen exzellente Kritiken für sein Werk bekommen, aber er entzog sich dem Literaturbetrieb. War nie im Rampenlicht, war in keinen Talkshows. Schriftsteller werden heute im Fernsehen gemacht, wir leben in einer seichten Zeit. Ildikó von Kürthys Werk ist literarisch von geringem Wert, aber ihre Auflagen gehen in die Millionen. Das wird Eigner nie erreichen, seine Romane werden bei ebay zu sehr kleinen Preisen angeboten. Was natürlich eine Chance für den Leser ist, diesen Autor zu entdecken. Ich kann da noch Lichterfahrt mit Gesualdo und Die italienische Begeisterung empfehlen.

Verwahrloser Wenn sie ihn fragten wer bist du gewesen antwortete er der der ich bin der mir Unbekannte der mir ein Leben lang erzählt hat sein Leben der nicht aufhört sein Leben der nicht stockt und wissen läßt wo er stolperte irrte stürzte auf die Schnauze fiel sich die Nase blutig schlug sich erbrach und im Erdkreis den er unter sich begrub verbiß ausriß das Gras und den Sand fraß und sich erhob und im Wanken zertrat die Angst den Wurm den er zum Himmel geschissen hatte im Sturz dem Aufruhr seines Gedärms Der Wanderer der Fliehende nie Fliegende nie Kriechende der Wegtaucher unter den Brücken die sie ihm bauten der Brandstifter kein Brecher kein Rächer ein Gezüchtigter ein Gezeichneter vielleicht der Spieler Verspieler der der sich aufbäumt im Bett der Gewißheit ein Schlafloser und Ordnungsliebender Verwahrloser der der er war

Das steht in dem Gedichtband Mammut, über den Alban Nikolai Herbst natürlich auch geschrieben hat, den gibt es leider nicht preiswert. Ich habe aber in dem Post amour fou daraus das Gedicht Geliebte zitiert.

1 Kommentar:

  1. Unter Nichtakademikern gibt es den sogenannten SUB: den Stapel ungelesener Bücher... buchige Grüße aus Neustrelitz

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