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Donnerstag, 31. August 2023

Vaterlandsverräter?


Ich fange mal mit dem Kingston Trio an. Das ist eine Musik, mit der ich aufgewachsen bin. Meine Heimatstadt war nach dem Krieg eine amerikanische Enklave, deshalb hatten wir das Autokennzeichen AE. Und wir konnten im Radio AFN hören, auch wenn die Eltern das nicht so gern sahen. Mit dem Kingston Trio komme ich natürlich peu à peu zu meiner heutigen Hauptfigur. Es ist etwas Seltsames, was Bob Shane vom Kingston Trio da singt:

Adieu foulards, adieu madras,
Adieu grain d'or, adieu collier chou,
Doudou an mwen i ka pati
Héla, héla, sé pou toujou.
Doudou an mwen i ka pati
Héla, héla, sé pou toujou.

Bonjour, monsieur le Capitaine,
Bonjour monsieur le Commandant.
Mwen vini fè an ti pétisyon
Pou ou laissé doudou mwen ba mwen.
Mwen vini fè an ti pétisyon
Pou ou laissé doudou mwen ba mwen.

Mademoiselle, sé bien trop tard
La consigne est déjà signée
Doudou a ou i ka patiHéla, 
héla, sé pou toujou.
Doudou a ou i ka pati
Héla, héla, sé pou toujou.

Wir sind in der Karibik, also in der Gegend, die Harry Belafonte immer wieder besungen hat. Und in der Gegend, woher die Sea Island Baumwolle kommt. Das Lied ist sehr alt, geschrieben haben soll es François Claude Amour de Bouillé. Es ist ein Abschiedslied in französischer Sprache mit kreolischen Einfügungen. Das Doudou an mwen i ka pati heißt so etwas wie Mon amour s’en va

Das Wort doudou bezeichnet noch heute im Französischen eine kreolische Schönheit. Der Schmuck und die Kleidung (das Madraskleid) werden beschrieben, das Kopftuch (foulard) wird nicht vergessen. In der Art, wie das gebunden und geknotet wird, soll die doudou angeblich signalisieren, ob sie noch zu haben ist. 

Das reicht von Mein Herz ist frei über Mein Herz ist engagiert, aber du kannst dein Glück versuchen und Verheiratete Frau, mein Herz ist genommen bis zu Mein Herz ist riesig, es gibt Platz für jeden, der es will. Ich glaube, da muss man mal einen Ethnologen fragen, ob das stimmt. Vielleicht hat unser junger Marquis etwas mit einer Schönheit aus Guadeloupe gehabt und hat deshalb das Lied geschrieben. Die Karibik ist jetzt voller englischer und französischer Offiziere, dass es da amouröse Verbindungen gibt, können Sie in dem Post Dido lesen.

Den Marquis, der sich schon als Hauptmann im Siebenjährigen Krieg in Deutschland ausgezeichnet hatte, hatte der französische König Louis XV in die Karibik geschickt, damit er Französisch-Westindien gegen die Engländer verteidigt. Zuerst ist er 1768 nur der Gouverneur von Guadeloupe, 1777 wird er Gouverneur von Martinique und St. Lucia und erhält von Louis XV den Befehl, die Amerikaner in ihrem Unabhägigkeitskrieg zu unterstützen. Sein Cousin Lafayette tut das schon, der kämpft an der Seite George Washingtons. Bouillé gelingt nicht so etwas Spektakuläres wie die Schlacht vor der Chesapeake Bay, aber er ist sehr erfolgreich in seinem Kampf gegen die Engländer. Er erobert unter anderem die Insel St Eustatius und nimmt siebenhundert britische Gefangene. Und holt sich 1778 Dominica von den Engländern zurück. Bei der Einnahme von Tobago durch den Admiral de Grasse ist er mit anderthalbtausend Mann auch dabei. 

Als ich Barbara Tuchmanns Buch The First Salute (Der erste Salut) zum erstenmal las, war ich zuerst ein wenig all at sea, wie der Engländer sagt. Ein wenig ratlos. Was haben die ganzen westindischen Inseln, die Schiffe, Flotten und Admiräle mit Amerikas Revolutionskrieg zu tun? Aber dann wurde es mir klar: der Unabhängigskeitskrieg wird nicht durch die Überquerung des Delaware, nicht durch den Sieg von Saratoga oder die Schlacht von Cowpens gewonnen. Er wird durch die Seeschlacht vor der Chesaspeake Bay gewonnen. Und die vielen kleinen Siege der Franzosen, die Männer wie de Boullié einfahren. Hier in der Karibik wird der amerikanische Unabhängigkeitskrieg entschieden. George Washington wird den Marquis nach dem Krieg zum Ehrenmitglied der Society of the Cincinnati ernennen.

Der Name des Generalleutnants de Bouillé findet sich nicht auf dem Arc de Triomphe, aber er kommt in Frankreichs berühmtesten Lied, der Marseillaise vor. In der royalistischen Marseillaise des Blancs allerdings nicht. Aber in der fünften Strophe der Marseillaise, da ist er:

Français, en guerriers magnanimes,
Portez ou retenez vos coups!
Epargnez ces tristes victimes,
A regret s’armant contre nous. 
Mais ces despotes sanguinaires,
Mais ces complices de Bouillé
Tous ces tigres qui, sans pitié,
Déchirent le sein de leur mère! 

Wenn da die Rede ist von diesen Komplizen von Bouillé, all diesen Tigern, die erbarmungslos die Brust ihrer Mutter zerfleischen! dann ist er offenbar ein Feind Frankreichs geworden. Was ist geschehen? Am 31. August des Jahres 1790 hatte der Generalleutnant mit fünftausend Mann die Meuterei in Nancy niedergeschlagen, was ihm den Dank des Königs und der Nationalversammlung eintrug. Wir sind in den Anfängen der französischen Revolution. Die Niederschlagung einer Meuterei, in die auch die Schweizergarden verwickelt sind, ist eine zweifelhafte Sache. Am besten lesen Sie dazu einmal alles, was Thomas Carlyle dazu schreibt. Der Marquis de Bouillé steht fest auf der Seite des Königs. Obgleich er den nicht sehr schätzt, das können wir in seinen Memoiren lesen: 

Louis the Fifteenth however died, and was succeeded, by a prince young and inexperienced with all the virtues which are an ornament to private life, but none of those qualities which were to ,become necessary in a situation so difficult. Instead of retaining the ministers of his predecessor, he dismissed them all without exception, choosing for his counsellor and guide a man above seventy, who having been a minister at the age of fifteen, had retired from his employment in the prime, and vigour of his life, and was now to direct: a young monarch and govern a kingdom in the infancy of his old age. He was a man without resolution, without virtues, without abilities, but at the same time mild, affable, and complying. He employed under him men by no means qualified for their office, remarkable rather for probity than talents. Ein Jahr nach dem Massaker von Nancy wird er das tun, weshalb er zum Feind des revolutionären Frankreichs wird. Er organisiert die Flucht seines Königs. Wir wissen, dass das schiefgegangen ist. Der General de Bouillé wird angeklagt, verurteilt und mit einem Kopfgeld gesucht. Er hat sein Heimatland verlassen und wird nie nach Frankreich zurückkehren.

Wir begegnen unserem Marquis in der deutschen Literatur wieder. Im Jahre 1792 taucht er in den Fantasien auf einer Reise nach Prag von Franz Alexander von Kleist auf. Ich habe das hier im Volltext, man darf es nicht mit Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag verwechseln. Franz Alexander von Kleist ist nach seinem Tod schnell vergessen worden; es ist schön, dass seine Verwandte Sigurd von Kleist, die Vorsitzende des Familienverbands derer von Kleist, sein Werk ins Internet gestellt hat. In den Fantasien auf einer Reise nach Prag besucht der Marquis de Boullié eine Aufführung von Don Giovanni in Prag, die Mozart selbst dirigiert. Und da können wir lesen: 

Rührend war unten im Parterre der Anblick des General Bouillé; und so verdient er sein jetziges Schicksal trägt, so konnt’ ich doch nicht alle Gefühle des Mitleids gegen ihn unterdrücken. Mit leserlichen Chiffren steht auf seiner Stirn sein Unglück geschrieben, und der Kummer scheint das Feuer seines Auges allmählich zu vermindern. Aber doch spricht noch Klugheit und Muth aus seinen Blicken, und jeder erkennt, daß ihn das Schicksal zu mehr, als einem verwaisten Flüchtling bestimmte. Noch nie sah ich ein Gesicht, auf dem der Gram so abgedrückt war, wie auf dem seinigen; und ich kann mir vorstellen, welche schrecklichen Gefühle sein Herz durchbohren. Einem leidenschaftlichen Augenblick zu gefallen, — geblendet von den süßen Schmeicheleyen der Zukunft, geläng es ihm, die Tempel der Freyheit umzustürzen, und die Despotie wieder einzusetzen, mißbraucht er das Vertrauen der Nationalversammlung, wird ein Verräther seines Vaterlandes und seines Volks; — wird von einem angesehenen französischen Bürger, ein vornehmer Bettler im Ausland; und sieht sich nun von niemanden gefürchtet, von wenigen geschätzt, von den meisten verachtet. Wie muß ihn die Reue peinigen, wie der Gedanke ihn erschüttern, daß er vielleicht an dem Blutvergießen vieler Tausend Schuld seyn kann, einen Irrthum zu vertheidigen! Wie ganz arm an großen, schönen Gefühlen muß seine Seele seyn, da ihr der Stolz der Selbstständigkeit mangelt; da sie schlaff genug war, dem Eigennutz zu fröhnen, seinen Winken zu folgen, und auf die seligen Früchte der Freyheit Verzicht zu thun! Wie verwaist muß er sich fühlen, da ihm seine Nation flucht, sein Vaterland als ein Ungeheuer ausspeyt, und kein Herz ihm sich naht, harmonisch gestimmt, aufwallend für die großen Tugenden des Menschengeschlechts, für Freyheit und Liebe! Einsam steht er da, wie eine giftige Pflanze, die kein freundliches Thier besucht, vor der der Wanderer, ohne sie anzublicken, vorübergeht, und um die sich nur Scorpionen sammeln! — Wie lächerlich nehmen sich aber dennoch neben diesem bethörten, unglücklichen Mann die übrigen Französischen Flüchtlinge aus. Schöner kann man es nicht sagen.

Der Marquis de Bouillé wird nach England gehen. Obgleich er einst gegen die Engländer gekämpft hatte, empfangen sie ihn mit Respekt. Sie haben es nicht vergessen, dass er im Unabhängigkeitskrieg immer fair gegen seine Gefangenen gewesen ist. Die Besatzung einer untergehenden englischen Fregatte setzt er in der Nähe einer englischen Garnison an Land und behält sie nicht als Kriegsgefangene. George III bietet ihm eine Summe von 20.000 Pfund Sterling als Geschenk an, aber der Marquis nimmt das nicht an. Bouillé veröffentlicht 1797 in London sein Buch Mémoires sur la Révolution Française depuis son origine jusqu'à la retraite du duc de Brunswick. Mit großem Erfolg. 

Das Chanson, das er 1769 schrieb, als er Gouverneur von Guadeloupe war, wird heute immer noch gesungen. Ich habe hier noch eine wirklich schöne Aufnahme von Henri Salvador für sie. Eigentlich ist es ja ein Lied, das eine Frau singt. Ich habe hier eine Version von Moune de Rivel, die man La Grande Dame de la Chanson Créole genannt hat, die klingt mit meiner neuen Mackie Soundbar ganz vorzüglich. Und ich habe noch eine Aufnahme von einer Sängerin namens Dorothée, die in ihrer Jugend mal in einem Truffaut Film mitspielte. Sie können jetzt bei genauer Betrachtung der Falten und Knoten des Kopftuches raten, ob sie noch zu haben ist.

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