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Freitag, 30. April 2010
Louisiana Purchase
Oben hat noch jemand in Klammern Original dazu geschrieben, auf diesen Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der französischen Republik, der am heutigen Tag vor 207 Jahren in Paris unterschrieben wurde. Der größte Grundstücksdeal in der Geschichte, nicht nur der amerikanischen. Immobilienmakler kriegen einen Herzinfarkt, wenn sie ausrechnen, wie billig ein Quadratkilometer Amerika damals war (sieben Dollar). Für den heutigen Wert von 250 Millionen Dollar bekommt Thomas Jefferson über zwei Millionen Quadratkilometer von Amerika. Eigentlich wollte er ja nur New Orleans kaufen, aber plötzlich ist dieser Deal auf dem Tisch. Da kann Jefferson nicht nein sagen, auch wenn er den Kongress nicht gefragt hat. Der erfährt das erst am 4. Juli, dem Nationalfeiertag. Für Napoleon bedeutet das Ganze, dass er jetzt viel Geld hat und die Österreicher, Preußen und Russen schlagen kann. Und dass der neue Teil von Amerika jetzt eine Pufferzone gegen die Engländer ist, denn ganz im Westen, da haben die Engländer Gebietsansprüche, Oregon gehört ihnen noch.
Der Rest gehört Spanien. Nicht mehr lange, die neue Nation, die neuerdings an so etwas wie Manifest Destiny glaubt, wird sich immer weiter nach Westen ausbreiten. Der englische König George III hatte im 18. Jahrhundert gesagt: nicht über die Appalachen, die Indianer brauchen auch ihren Raum. Er ist der einzige englische König, der sich nominell um die Indianer sorgt. Aber schon vor dem French and Indian War sind die ersten Siedler über die Blue Ridge Mountains und die Alleghenies hinweg. Und wenn ihnen Daniel Boone dann den Weg durch das Cumberland Gap zeigt, sind sie kaum mehr aufzuhalten. Doch was da westlich vom Mississippi ist, das kennen nur die französischen voyageurs. Das muss man erforschen. Und so schickt Jefferson zwei Armeeoffiziere, Meriwether Lewis und William Clark, auf eine Expedition, die sie bis zum Pazifik führt. Ihre Tagebücher und alles, was sie aufgezeichnet haben, sind noch heute eine spannende Lektüre. Aufzeichnungen aus einem Amerika, das es so wenig später nicht mehr geben wird. Captain Meriwether Lewis, der zuvor der Privatsekretär von Jefferson war, wird der erste Gouverneur des neuen Louisiana Territoriums. Aber da hat er schon angefangen zu saufen. War es die jahrelange Einsamkeit in dem virgin land? Ist es, weil ihn alle Frauen abblitzen lassen? Depressiv war er schon immer, William Clark mit seiner ständigen guten Laune ist das Gegenbild zu seinem morosen Kompagnon. Lewis kommt immer mehr herunter, kümmert sich nicht mehr um die wissenschaftliche Aufarbeitung der Expedition. Nach Washington zurückgerufen, stirbt er unter ungeklärten Umständen (Selbstmord? Mord?) in einem Gasthof in der Wildnis von Tennessee. Seine Tagebücher der ersten elf Monate der Expedition sind nie aufgetaucht.
Meriwether Lewis, der Sohn der Nachbarn von Jefferson, wurde für Jefferson eine Art Ziehsohn. Der melancholische Romantiker war eigentlich der falsche Mann für die Aufgabe, obgleich Jefferson die größten Hoffnungen in ihn setzte. William Clarke, der nicht aus den First Families of Virginia stammt, der nicht so gebildet ist wie Lewis und nicht so schön schreiben kann, ist in seiner lapidaren Art für das Tagebuch der neuen Welt vielleicht viel besser geeignet. Schreibt ein einfaches Englisch, räsoniert nicht über sublime and beautiful. Wird auch nicht irrtümlich von den eigenen Leuten für einen Elch gehalten und angeschossen wie Lewis.
Der National Poetry Month in den USA geht heute zu Ende. Mein kleines Experiment, den Leser jeden Tag mit einem Gedicht zu traktieren, auch. Das heutige Gedicht heißt Louisiana Purchase und stammt von dem amerikanischen Dichter Charlie Smith:
Who knows but that Meriwether Lewis's
lost diaries might turn up yet
packed in a can in some cramped ex-midden
dug up a thousand years from now,
that elegant, exfoliate style
continue on up the Missouri, into sadness
and disrepute, the suicide in a hotel in Tennessee
no more important now than the bundle
of grasses my friend made out in the woods
yesterday and gave me after a meeting
in which she confessed she's afraid of everything
that's coming. The past I don't mind, she said
and laughed as if that was something.
Die achtbändige Ausgabe der Journals of Lewis and Clark werden wohl nur Fachgelehrte lesen, aber es gibt eine schöne Auswahl (immerhin noch 500 Seiten stark) von Frank Bergon. 1904 organisiert man in St. Louis eine Weltausstellung, zur Hundertjahrfeier des Louisiana Purchase. Aber das ist nur noch Zirkus und Remmidemmi, von dem ursprünglichen Westen, wie ihn Lewis und Clark kennengelernt und beschrieben haben, ist da nichts mehr übrig.
Donnerstag, 29. April 2010
Moorleichen
Ich habe einmal den irischen Dichter Seamus Heaney getroffen. Das war lange, bevor er weltberühmt wurde und den Nobelpreis for works of lyrical beauty and ethical depth, which exalt everyday miracles and the living past erhielt. Für die Zeit nach der Dichterlesung hatte der Veranstalter damals stilecht dafür gesorgt, dass genügend Guinness vom Fass bereit stand. Auch an echte große Guinness Gläser war gedacht worden. Ich persönlich mag das Zeug ja nicht wirklich, aber Seamus Heaney sprach dem irischen Nationalgetränk gerne zu. Er wirkte wie ein verschmitzter großer Junge, mit seinen roten Hosenträgern über dem weißen Hemd. Ich brachte ihn zum Lachen, als ich ihn fragte, ob sein Dichterkollege Robert Lowell jetzt immer Freibier von Guinness bekäme, wo er gerade die Guinness Erbin Caroline Blackwood geheiratet hätte.
Aber das Thema, das ihn an dem Abend beschäftigte und ihm nicht aus dem Kopf zu gehen schien, waren Moorleichen. Er wollte in den nächsten Tagen nach Schleswig weiterreisen, um das Windeby Mädchen zu sehen. Und dann vielleicht noch nach Dänemark, wegen des Tollund man und dem Elling girl. Soll man das Moorleichentourismus nennen? Die konservierte Leiche des Mädchen von Windeby hatte ich in den fünfziger Jahren einmal in ihrem Glaskasten im Keller des Landesmuseums Schloss Gottorp in Schleswig gesehen. Da kriegte man natürlich eine Geschichte dazu, von der jungen schönen Ehebrecherin, der man die Augen verbunden hatte, bevor man sie umbrachte und ins Moor stieß. Theodor Fontane, der solch spökenkiekerische Anekdoten liebte, hätte seine Freude an dieser Geschichte gehabt. Aber für Heaney war das nicht nur eine Leiche, die man 1952 in der Gegend von Eckernförde im Moor gefunden hatte. Es hatte für ihn etwas mit seiner Kindheit zu tun, mit den bog people der Gegend, aus der er kam. Mit seltsamen Dingen, die das Moor eines Tages wieder freigibt. Wo Moor ist, ist auch Aberglaube und tausenderlei Geschichten. Da wo alles vor Nässe glänzt und das Land eingehüllt ist in einen grauen Nebel, der die Düsternis der Moore mit ihren Torfwunden schützt. Aus dem, was Heaney an dem Abend nicht aus dem Kopf ging, ist das Gedicht Punishment geworden.
I can feel the tug
of the halter at the nape
of her neck, the wind
on her naked front.
It blows her nipples
to amber beads
it shakes the frail rigging
of her ribs.
I can see her drowned
body in the bog,
the weighing stone,
the floating rods and boughs.
Under which at first
she was a barked sapling
that is dug up
oak bone, brain-firkin:
her shaved head
like a stubble of black corn
her blindfold a soiled bandage,
her noose a ring
to store
the memories of love.
Little adultress
before they punished you
you were flaxen-haired,
undernourished, and your
tar-black face was beautiful.
My poor scapegoat,
I almost love you
but would have cast, I know,
the stones of silence.
I am the artful voyeur
of your brains exposed
and darkened combs,
your muscles' webbing
and all your numbered bones:
I who have stood dumb
when your betraying sisters,
cauled in tar,
wept by the railings,
who would connive
in civilized outrage
yet understand the exact
and tribal, intimate revenge.
Heaney hat auch über den Tollund Man geschrieben, aber das Gedicht ist lange nicht so geheimnisvoll, dunkel und sexy. Fremd und unglücklich fühlt er sich in Dänemark, er versteht kein Dänisch, aber gleichzeitig fühlt er sich da auch at home. In das Gästebuch von Silkeborg hat er eine Strophe des Gedichtes geschrieben. Aber nicht die erste. Weil die mit Some day I will go to Aarhus anfängt, das haben sie in Silkeborg nicht so gerne gehört, dass ihre Moorleiche in Aarhus sein sollte. Aber Seamus Heaney hat gesagt, das sei so wegen des Metrums. Alles weitere darüber ➱hier, da gibt es das Gedicht auch auf Dänisch.
Die kleine flachsblonde Ehebrecherin, auf die der artful voyeur eine Art Liebesgedicht schreibt, ist jetzt Teil der Literatur, der Literaturgeschichte. Aber bevor wir nun über skandinavische Blondinen, die in der Vorzeit durch germanische Stammesrituale im Moor getötet werden, weiter raisonnieren, müssen wir einen Augenblick innehalten. Und das Wort Desoxyribonukleinsäure ins Spiel bringen, dieses Zeug, das der große Naturwissenschaftler und große Essayist Erwin Chargaff entdeckt hat. Ein kanadischer Wissenschaftler hat vor wenigen Jahren herausgefunden, dass das Mädchen von Windeby in Wirklichkeit ein Junge war. Na denn Tschüss, kleine sexy Blondine.
Mittwoch, 28. April 2010
Versroman
Etwas vorsichtiger über diesen neuen Mittelalter Boom, aber dennoch sehr entschieden, äußert sich da der beste Kenner der mittelalterlichen Philosophie Kurt Flasch in Das philosophische Denken im Mittelalter. Was für ein Buch! Welche klare, verständliche Sprache! Ungewöhnlich für einen Philosophen. Da ärgert man sich schon, in den sechziger Jahren im Philosophiestudium nur drittklassige Luschen gehört zu haben, also Apel und Weizsäcker mal ausgenommen.
Der spätmittelalterliche Versroman kommt über die Jahrhunderte ein wenig aus der Mode, obgleich er von Zeit zu Zeit wieder auftaucht. Puschkins Eugen Onegin wäre ein Beispiel. Und Les Murrays Fredy Neptune, eins der erstaunlichsten Bücher des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Über den Daumen gepeilt zehntausend Verse lang. Als das Buch 2004 in einer zweisprachigen Ausgabe bei Ammann erschien, war es das kühnste Gedicht des 20. Jahrhunderts, so die FAZ. Die internationale Kritik konnte es kaum fassen, was der glatzköpfige, übergewichtige Australier mit dem kindlichen Lächeln da zustande gebracht hatte. Ein Roman, in dem das ganze Jahrhundert (na ja, etwas genauer die Zeit von 1914 bis 1949) Platz findet. Der Held, ein australischer Seemann deutscher Abkunft, beschreibt hier in der einfachen Sprache des Aussies aus dem Outback, seine Odyssee durch das Jahrhundert in achtzeiligen Strophen.
Das war am Schlachtwursttag
auf unsrer Farm bei Dungog.
Das sind mein Vater Reinhard Böttcher
und meine Mutter Agnes und mein Bruder Frank,
der später starb an Hirnbrand, Meningitis.
Und ich steh hier am Fleischwolf.
Gekochtes Fleisch mit Salz und Petersilie
kam rein und wand sich wieder raus, so fein wie Grütze, für die Weißwurst.
Mit dieser Beschreibung eines Photos beginnt Frederick Boettcher, der bald Fredy Neptune heißen wird, die Geschichte seines Lebens. Ich habe die erste Strophe auf Deutsch zitiert, weil man den Übersetzer Thomas Eichhorn gar nicht genug bewundern kann (er hat auch in den letzten Jahren zwei Übersetzerpreise gewonnen). Obgleich man natürlich im Deutschen diesen Ton des Originals, dieses vernacular, niemals hinbekommen kann. Manchmal klingt es ein wenig nach der Sprache, die Rudyard Kipling in den Barrack-Room Ballads seine Soldaten sprechen lässt, ist aber hier viel authentischer. Murray hat vier Jahre an diesem Buch geschrieben, nachdem er aus einer schweren Depression wieder auftauchte, es ist auch ein Akt der Selbstbefreiung. Am Ende der Geschichte bekommt Fred Neptune alle Gefühle und Empfindungen zurück, die er wegen eines schrecklichen Ereignisses im Ersten Weltkrieg verloren hatte. Neptune ist ein picaro, ein Schlemihl, ein Odysseus, der alles mit ansieht, was das Jahrhundert an Schrecken und Unsinn zu bieten hat. But there's too much in life: you can't describe it ist der letzte Satz des Versromans. Aber Murray, der vor das Buch den Satz To the glory of God gestellt hat, der kann es schon. Mit dem langen Atem eines Erzählers, der niemals Luft zu holen scheint.
Die ersten Gedichte von dem bedeutendsten australischen Dichter der Gegenwart in deutscher Sprache erschienen bei 1996 Hanser. Damals war der Lyrikdoktor Jakob Stephan in der Neuen Rundschau noch etwas skeptisch. Der Lyrikdoktor hat zwischen 1996 und 2000 in dieser Zeitschrift der modernen Lyrik einen Krankenbesuch abgestattet und alles an Ort und Stelle seziert. In Wirklichkeit ist er gar kein pensionierter Mediziner, der bei Bremen wohnt. In Wirklichkeit heißt er Steffen Jacobs und wohnt in Berlin, aber seine Analyse der Gegenwartsdichtung (unter dem Titel Lyrische Visite 2000 bei Haffmanns erschienen) ist schon sehr witzig. Murray hat nach Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen den Verlag gewechselt und ist zu Ammann gegangen. Vielleicht weil die in Zürich in der Neptunstrasse sitzen, passend zu Fredy Neptune. Die haben bei Ammann (ebenso wie der österreichische Residenz Verlag) schon ein Näschen für gute Literatur. Der Guardian hat hier einen sehr schönen Artikel, auch wenn der schon einige Jahre alt ist.
Lesen Sie auch: Marinechronometer
Der spätmittelalterliche Versroman kommt über die Jahrhunderte ein wenig aus der Mode, obgleich er von Zeit zu Zeit wieder auftaucht. Puschkins Eugen Onegin wäre ein Beispiel. Und Les Murrays Fredy Neptune, eins der erstaunlichsten Bücher des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Über den Daumen gepeilt zehntausend Verse lang. Als das Buch 2004 in einer zweisprachigen Ausgabe bei Ammann erschien, war es das kühnste Gedicht des 20. Jahrhunderts, so die FAZ. Die internationale Kritik konnte es kaum fassen, was der glatzköpfige, übergewichtige Australier mit dem kindlichen Lächeln da zustande gebracht hatte. Ein Roman, in dem das ganze Jahrhundert (na ja, etwas genauer die Zeit von 1914 bis 1949) Platz findet. Der Held, ein australischer Seemann deutscher Abkunft, beschreibt hier in der einfachen Sprache des Aussies aus dem Outback, seine Odyssee durch das Jahrhundert in achtzeiligen Strophen.
Das war am Schlachtwursttag
auf unsrer Farm bei Dungog.
Das sind mein Vater Reinhard Böttcher
und meine Mutter Agnes und mein Bruder Frank,
der später starb an Hirnbrand, Meningitis.
Und ich steh hier am Fleischwolf.
Gekochtes Fleisch mit Salz und Petersilie
kam rein und wand sich wieder raus, so fein wie Grütze, für die Weißwurst.
Mit dieser Beschreibung eines Photos beginnt Frederick Boettcher, der bald Fredy Neptune heißen wird, die Geschichte seines Lebens. Ich habe die erste Strophe auf Deutsch zitiert, weil man den Übersetzer Thomas Eichhorn gar nicht genug bewundern kann (er hat auch in den letzten Jahren zwei Übersetzerpreise gewonnen). Obgleich man natürlich im Deutschen diesen Ton des Originals, dieses vernacular, niemals hinbekommen kann. Manchmal klingt es ein wenig nach der Sprache, die Rudyard Kipling in den Barrack-Room Ballads seine Soldaten sprechen lässt, ist aber hier viel authentischer. Murray hat vier Jahre an diesem Buch geschrieben, nachdem er aus einer schweren Depression wieder auftauchte, es ist auch ein Akt der Selbstbefreiung. Am Ende der Geschichte bekommt Fred Neptune alle Gefühle und Empfindungen zurück, die er wegen eines schrecklichen Ereignisses im Ersten Weltkrieg verloren hatte. Neptune ist ein picaro, ein Schlemihl, ein Odysseus, der alles mit ansieht, was das Jahrhundert an Schrecken und Unsinn zu bieten hat. But there's too much in life: you can't describe it ist der letzte Satz des Versromans. Aber Murray, der vor das Buch den Satz To the glory of God gestellt hat, der kann es schon. Mit dem langen Atem eines Erzählers, der niemals Luft zu holen scheint.
Die ersten Gedichte von dem bedeutendsten australischen Dichter der Gegenwart in deutscher Sprache erschienen bei 1996 Hanser. Damals war der Lyrikdoktor Jakob Stephan in der Neuen Rundschau noch etwas skeptisch. Der Lyrikdoktor hat zwischen 1996 und 2000 in dieser Zeitschrift der modernen Lyrik einen Krankenbesuch abgestattet und alles an Ort und Stelle seziert. In Wirklichkeit ist er gar kein pensionierter Mediziner, der bei Bremen wohnt. In Wirklichkeit heißt er Steffen Jacobs und wohnt in Berlin, aber seine Analyse der Gegenwartsdichtung (unter dem Titel Lyrische Visite 2000 bei Haffmanns erschienen) ist schon sehr witzig. Murray hat nach Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen den Verlag gewechselt und ist zu Ammann gegangen. Vielleicht weil die in Zürich in der Neptunstrasse sitzen, passend zu Fredy Neptune. Die haben bei Ammann (ebenso wie der österreichische Residenz Verlag) schon ein Näschen für gute Literatur. Der Guardian hat hier einen sehr schönen Artikel, auch wenn der schon einige Jahre alt ist.
Lesen Sie auch: Marinechronometer
Dienstag, 27. April 2010
Vollmond
Wenn die kleine goldene Scheibe unten in der Aussparung der Kalenderuhr ganz zu sehen ist, dann ist Vollmond. Oder auf jeden Fall ungefähr, ich traue dieser Mondphase nicht so recht. Aber der Mond am Himmel sah gestern Nacht schon ziemlich voll aus. Der Mond gehört niemandem, außer uns allen, die ihn anschauen und den Dichtern, die ihn besingen. Er gehört nicht den Amerikanern, obgleich die als erste einen Menschen auf dem Mond hatten. Na ja, eigentlich war der Baron Münchhausen der erste, das belegt der Film mit Hans Albers ganz klar. Aber richtige Besitzansprüche kann niemand auf den Mond haben, das sagt der Outer Space Vertrag von 1967, dessen ungeachtet verkaufen in Amerika einige Immobilienhändler Grundstücke auf dem Mond. Zum Ärger eines Rentners aus Westercappeln, der hat nämlich eine Schenkungsurkunde vom 17.7.1756, in der Friedrich der Große einem seiner Vorfahren gesagt hat Jetzo soll ihm der Mond gehören. Durfte Friedrich den überhaupt verschenken?
Wenn Vollmond ist, verwandeln sich manche Menschen in Werwölfe, andere schlafen schlecht und Dichter schreiben Mondgedichte. Unsere deutsche Romantik hat es ja mit dem Mond, überall ist er, obgleich er an dem Tag gar nicht da sein konnte oder in der Himmelsrichtung nicht auf- oder untergehen konnte. Sagt ➱Arno Schmidt, der mal die Monde seiner mondsüchtigen Kollegen untersucht hat. Arno Schmidt wäre ja am liebsten Astronom geworden. Er ist auch einer der wenigen deutschen Schriftsteller, der immer wieder Wilhelm Olbers aus Lilienthal bei Bremen erwähnt. Der war seinerzeit so berühmt, dass ihn sogar Napoleon kannte. Arno Schmidt hat auch schöne Mondbeschreibungen in seinem Werk untergebracht. Hier findet sich unter dem Titel Arno Schmidts Monde eine hübsche Sammlung.
Mondgedichte gibt es in der deutschen Literatur wie Sand am Meer. Von Goethe gleich mehrere. Unter der Adresse www.hundeiker.de/Texte/Klausur90.html hat eine Friederike Hundeiker ihre Interpretation eines Goethe Gedichtes mit den Kommentaren ihrer Deutschlehrerin ins Netz gestellt. Beinahe so komisch wie die Gedichte einer anderen Friederike, die auch die schlesische Nachtigall heißt. Aber Goethe und Friederike Kempner können so viel Mondgedichte schreiben wie sie wollen, an Matthias Claudius Der Mond ist aufgegangen kommen sie alle nicht heran. Ist unschlagbar auf Platz 1 der Hitparade der deutschen Mondgedichte. Das einzige Gedicht, das ihm diesen Rang streitig machen könnte, ist Eichendorffs Mondnacht:
Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Die Perle der Perlen, hat Thomas Mann das Gedicht genannt, aber eigentlich braucht man da gar nichts mehr zu sagen. Mein alter Movado Celestograf schummelt offensichtlich ein bisschen mit dem Vollmond, der erst morgen um 14 Uhr 18 (und dreißig Sekunden) ist. Das Bild oben ist Ansel Adams berühmtes Moonrise, Hernandez, New Mexico, eins der schönsten Photos von Adams. Ein Originalabzug kostet heute über 50.000 Dollar. Heute in der Nacht den Mond anzugucken, kostet glücklicherweise nix.Und noch etwas für Arno Schmidt Freunde, da dieser Blog offensichtlich auch von den Beziehern des Bargfelder Boten gelesen wird. Bernhard J. Dotzler hat in seinem Artikel Mondlandschaften (in: Guido Graf, Arno Schmidt: Leben in Werk. 1999) eine ganze Menge über den Mann in Bargfeld und den Mond zu sagen. Und für die zwei ➱Cricketfans unter den Lesern habe ich auch noch eine schöne Mondgeschichte. Bei einem test match zwischen England und Australien, kommen die Australier Jeff Thompson und Dennis Lillee zum Schiedsrichter Dickie Bird, um einen vorzeitigen Spielabbruch (bad light stops play) für diesen Tag zu erreichen. Dickie Bird, einer der beliebtesten Schiedsrichter in England, ist gegenüber dem Dickie, mate, we can't see that far unempfänglich und deutet auf eine kleine weiße Scheibe am Spätnachmittaghimmel: What is that there? Worauf Jeff Thompson sagt That's the moon, Dickie. Und er erhält die wunderbare Antwort: Well, how far do you want to see? Das Spiel ging weiter.
Montag, 26. April 2010
Roadkill
Das Buch war nicht an seiner Stelle. Das beunruhigte mich nicht sonderlich, mein eigenes Bibliotheksordnungsystem ist nicht das beste, und es sind einfach zu viele Bücher. Ich brauchte ja auch nur den Titel, den würde ich mit Google schon finden. Das Buch hatte mir mal ein Freund geschenkt, es war ein satirisch böses Buch. Es zeigte, schwarz-weiß im Schattenriss, plattgefahrene Tiere auf amerikanischen Highways. Also gab ich bei Google roadkill ein. Und merkte gleich, dass das ein Fehler war. Alles war vollgemüllt mit Helene Hegemann. Kennen Sie nicht? Deutschlands siebzehnjähriger shooting star, deren Roman Axolotl Roadkill von den Rezensenten in die Nähe von Ilias und Odyssee gerückt wurde, nur mit mehr F-Wörtern drin. Also gaaanz großartig. Nur leider überall geklaut. Aber das macht ja nix. Wenn die Heißluftmaschinen des Feuilletons erstmal angelaufen sind, dann wird alles großartig, Türme und Feuchtgebiete. Wenn Sie wirklich mal lachen wollen, dann lesen Sie nicht, was Die Zeit über Deutschlands neuen Superstar gesagt hat, sondern das, was die 97 Rezensenten bei Amazon sagen, die dem Buch nur einen Stern gegeben haben.
Mein Gedicht heute handelt von toten Tieren. Die sind ja ein Thema der Dichtung, seit Thomas Gray eine Ode auf seine ➱Lieblingskatze geschrieben hat, die in einer chinesischen Vase ertrank. Und wir hatten hier in diesem Blog im Januar ja schon ➱Philip Larkins anrührendes kleines Gedicht über den Igel, den er mit seinem Rasenmäher totgefahren hatte. Mein Gedicht heute ist von William Stafford und heißt Traveling Through the Dark. Es ist das Titelgedicht einer Sammlung, für die Stafford 1963 den National Book Award erhielt.
Traveling through the dark I found a deer
dead on the edge of the Wilson River road.
It is usually best to roll them into the canyon:
that road is narrow; to swerve might make more dead.
By glow of the tail-light I stumbled back of the car
and stood by the heap, a doe, a recent killing;
she had stiffened already, almost cold.
I dragged her off, she was large in the belly.
My fingers touching her side brought me the reason -
her side was warm; her fawn lay there waiting,
alive, still, never to be born.
Beside that mountain road I hesitated.
The car aimed ahead its lowered parking lights;
under the hood purred the steady engine.
I stood in the glare of the warm exhaust turning red;
around our group I could hear the wilderness listen.
I thought hard for us all - my only swerving -,
then pushed her over the edge into the river.
Wir sind in Oregon, da wo Stafford jahrelang am Lewis and Clark College unterrichtet hat. Für die Situation, da man ein totes Tier auf der engen Gebirgsstrasse findet, scheint es klare Regeln zu geben: it is usually best to roll them into the canyon. Denn to swerve might make more dead. Klingt nur vernünftig. Die Regeln in der Natur werden heute vom Auto und vom Autofahrer gemacht. Aber hier zögert der Fahrer. Zwar ist die Hirschkuh tot, aber das Kitz in ihrem Bauch lebt noch. Was soll er tun? Kann er das Tier ins Auto laden? Gibt es einen Tierarzt in der Nähe? Das Auto will weiter, der Motor bekommt etwas Tierähnliches (under the hood purred the steady engine), die Natur scheint zu warten. Was wird er tun? Für den Dichter Richard Hugo, der die Sentimentalität des Gedichtes beklagte, ist alles klar: Stop thinking hard for us all, Bill, and get that damned deer off the road before somebody kills himself. Richard Hugo war Bombenschütze bei der U.S. Air Force im Zweiten Weltkrieg. Stafford hat den Kriegsdienst verweigert und Zivildienst geleistet, für ihn ist das nicht so einfach. Aber ist dies wirklich ein sentimentales Gedicht? Rod McKuens Thoughts on Capital Punishment, in dem er die Todesstrafe für Autofahrer fordert, die Katzen überfahren, ist ein sentimentales Gedicht. Deshalb verwenden es wahrscheinlich so viele amerikanische Lehrer im Unterricht. Da kann Alf, das liebenswerte Wesen vom Planeten Melmac, nur froh sein, dass McKuen nicht auch noch über ihn geschrieben hat. Wo er doch Katzen liebt, aber anders als Rod McKuen.
Aber im Ernst, William Staffords Gedicht ist ebenso wenig sentimental wie Philip Larkins The Mower. Es ist ein Gedicht voller Emotionen, aber es ist nicht sentimental. Es wirft uns nur in eine Situation, in der wir could hear the wilderness listen. In der wir uns klar werden, dass es noch eine andere Welt als die des Automobilverkehrs gibt, in der wir erkennen, wie weit wir uns von der Natur entfernt haben. Das Gedicht kommt einfach daher, so einfach wie die Gedichte von Robert Frost, mit dem Stafford häufig verglichen worden ist. Aber es täuscht uns ein wenig mit seiner Einfachheit, es ist sehr kunstvoll konstruiert mit seiner Balance zwischen Mitgefühl und Vernunft in einer world remade by Ford and General Motors. Stafford erinnert in seinen Gedichten immer wieder an die verloren gegangene Natur. So in Written on the Stub of the First Paycheck (1966):
Gasoline makes game scarce.
In Elko, Nevada, I remember a stuffed wildcat
someone had shot on Bing Crosby's ranch.
I stood in the filling station
breathing fumes and reading the snarl of a map.
Eine ausgestopfte Wildkatze in einer Tankstelle voller Benzingeruch und eine Autokarte, die das Geräusch eines wilden Tieres wiedergibt, verdichteter lässt sich der Konflikt zwischen Natur und Maschine kaum darstellen.
Auf der Seite www.roadkilltoys.com kann man Spielzeugtiere kaufen, die aussehen, als seien sie von einem Auto überfahren worden. Das ist schon pervers.
Sonntag, 25. April 2010
Loreley
Am 25. April notiert eine junge Frau in ihrem Tagebuch: So I am really very very intreeged as I have heard so much about Paris and I feel that it must be much more educational than London and I can hardly wait to see the Ritz hotel in Paris. Die junge Frau hat Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung (aber die haben ihre Zeitgenossen Fitzgerald und Hemingway auch). Die junge Frau ist eine Blondine und sie kommt aus der schlimmsten Gegend Amerikas, der Sahara of the Bozart. Ja, H.L. Mencken ist wieder einmal schuld, ohne ihn hätte es diesen Roman mit der Tagebuch schreibenden Blondine nicht gegeben. Sagt die Autorin im Vorwort. H.L. Mencken umgibt sich gerne mit witless blondes. Eine von ihnen wird zur Romanfigur. Die Romanautorin, eine Freundin von Mencken, gibt ihr den Namen Lorelei. Lorelei Lee ist, obgleich der Roman Gentlemen Prefer Blondes von Anita Loos ein Bestseller wird, nicht die berühmteste Lorelei in der Literatur. Wir haben da eine Zauberin in Bacharach am Rheine, die ist noch viel berühmter. Obgleich sie nicht von Marilyn Monroe im Film gespielt wird wie Lorelei Lee.
Unsere deutsche Loreley, die auf einem Felsen am Rhein sitzt, ihr goldenes Haar kämmt und die gesamte Rheinschiffahrt behindert, ist genau so eine literarische Erfindung wie Lorelei Lee. Nix mit alten Sagen und jahrhundertealten Erzählungen. Das einzige, was da alt ist, ist der Felsen am Rhein, der Lurlei heißt. Und -lei (oder -ley) ist nicht der Nachname von Lore. Das heißt schlicht Stein, Schiefer. Ist aus dem Keltischen entlehnt und ist seit dem 14. Jahrhundert im Mittelhochdeutschen. Findet sich im Rheinischen auch in Ortsnamen. Das einzige, was diesen Lurfelsen gegenüber jedem anderen Felsen auszeichnet, ist, dass es da ein mehrfaches Echo gibt. Und der Felsen mit der Rheinbiegung erfreute sich auch bei Malern einer gewissen Beliebtheit, aber ohne blonde Dame. Aber das Märchen aus alten Zeiten, dass Heinrich Heine nicht mehr aus dem Sinn kommt, das gibt es nicht. Die Geburtsstunde der Loreley ist das Jahr 1800, als Clemens Brentano sich das ausdenkt. Oder 1802, als der Roman Godwi veröffentlicht wird, in dem die Ballade Zu Bacharach am Rheine wohnt eine Zauberin enthalten ist. Und zwanzig Jahre später schreibt Heinrich sein Gedicht Ich weiß nicht was soll es bedeuten, das zu einer Art zweiten Nationalhymne wird. Das wäre bestimmt nicht passiert, wenn die Loreley eine regionale Blondine wäre, die irgendwo in Holzminden an der Weser oder in Tangermünde an der Elbe säße und sich dort ihre Haare kämmte. Nein, der Rhein muss sein. Unser Schicksalfluss, über den die Deutschen singen:
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein
Wer will des Stromes Hüter sein?
Denn das liebe Vaterland kann nur ruhig sein, wenn die Wacht am Rhein fest und treu steht. Mein Opa sang das noch mit Inbrunst, aber der kam aus einem anderen Jahrhundert und glaubte fest daran, dass die Franzosen unser Erbfeind seien. Heute hat der Franzose einen ungarischen Namen und Marianne ist eine schnuckelige Italienerin, die Chansons haucht. Aber sie sind keine Erbfeinde mehr, das Erbe habe wir glücklicherweise nicht angetreten. Und der Rhein ist auch kein Schicksalfluss mehr, sondern ein großer Abwässerkanal. Dessen Wasserqualität in den letzten Jahrzehnten besser geworden sein soll. Vielleicht können Wellgunde, Woglinde und Floßhilde jetzt wieder dadrin schwimmen. Falls sie die Damen nicht kennen, das sind die Rheintöchter, die Richard Wagner erfunden hat, damit sie das Gold im Strom hüten. Es gibt noch Nachfolgerinnen, die auch Rheintöchter heißen, ein feministisch angehauchter Damenchor, der im Kölner Gürzenich auftritt.
Während die zahllosen Loreley Dichtungen seit Heinrich Heine so gut wie vergessen sind, ist dessen Loreley noch in aller Munde. Und es dröhnt natürlich jedesmal aus den Lautsprechern der Ausflugsdampfer, wenn sie den Lurlei Felsen passieren. In der Version von Friedrich Silcher, der im 19. Jahrhundert ja alles vertont hat, was uns lieb und teuer ist: Ännchen von Tharau, Ich hatt' einen Kameraden, Alle Jahren wieder, Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus und wie die Lieder alle heißen. Es gibt noch eine andere Lorelei zur Musik eines anderen Komponisten. Ella Fitzgerald hat 1960 in Berlin in der Deutschlandhalle das Lied von George Gershwin mit dem Text von seinem Bruder Ira gesungen. Das ist viel witziger, besonders die Zeile I want to bite my initials on a sailor's neck. Seit Brentano die Loreley erfunden hat, seit Heine sie populär gemacht macht, gibt es Nachdichtungen und Parodien. Guillaume Apollinaire hat sie ins Französische übertragen, Mark Twain sie ins Englische übersetzt. Und wir haben auch Loreleyen von Erich Kästner, Karl Valentin, Johannes R. Becher und Ulla Hahn. Lorelei Lee, gespielt von Marilyn Monroe, das blonde Dummchen, das gar nicht so dumm ist, singt die Loreley nicht. Die singt Diamonds are a girl's best friend. Wenn man Brillis hat, kann man auch zum Friseur gehen und braucht sie sich nicht oben auf einem Felsen zu kämmen.
Mein Gedicht des Tages ist heute ganz kurz, es ist eine Strophe aus dem 15-strophigen Gedicht Ruhr-Gebiet, das am 15. Dezember 1979 von Allen Ginsberg in Heidelberg geschrieben wurde (das ganze Gedicht finden Sie in dem Post ➱Ruhrgebiet):
Too much industry
No fish in the Rhine
Lorelei poisoned
Too much embarrassment.
Lesen Sie auch: Lurley
Samstag, 24. April 2010
Selbstportrait
Es gibt noch einen anderen Jay, der heißt Gatsby mit Nachnamen und sieht bekanntlich so aus: So würde ich auch gerne aussehen, ich arbeite noch daran. Einen goldenen Schlips habe ich schon.
Understanding Poetry
Heute vor 105 Jahren wurde der amerikanische Schriftsteller Robert Penn Warren geboren. Er ist in seinem Leben in Amerika sehr berühmt gewesen, er ist poet laureate gewesen, er ist der einzige Amerikaner, der einen Pulitzerpreis für einen Roman und zwei Pulitzerpreise, 1958 und 1979, für seine Dichtung gewonnen hat. Der Roman hieß All the King's Men, und er steht bei der Modern Library auf Platz 36 der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts. Eigentlich ist er ein ewiger Klassiker. Robert Penn Waren ist auch Literaturkritiker gewesen. Er hat mit seinem Universitätskollegen Cleanth Brooks 1938 ein Buch veröffentlicht, das für mehrere Jahrzehnte den Literaturunterricht in den Vereinigten Staaten geprägt hat. Das Buch heißt Understanding Poetry, und es ist in der Auflage von 1976 noch heute erhältlich.
Als Robert Penn Warren 1921 (mit 16 Jahren!) an der Vanderbilt University in Nashville zu studieren anfängt, ist im amerikanischen Süden kulturell nichts los. Warren und die Vanderbilt University werden das ändern. 1917 hatte der einflussreiche Literaturkritiker Henry Louis Mencken die kulturelle Situation der Südstaaten als Sahara of the Bozart beschrieben (wobei Bozart die phonetische Schreibweise von Beaux-Arts ist). Diese Schmähung wollte man im Süden nicht auf sich sitzen lassen. Wenn man schon vor einem halben Jahrhundert den Bürgerkrieg verloren hatte, dann wollte man jetzt diesen Kulturkrieg gewinnen. Die Vanderbilt University war nach dem Bürgerkrieg von dem Eisenbahnkönig Cornelius Vandertbilt mit einer Million Dollar gegründet worden, um der Kultur des Südens ein neues Zuhause zu geben. Und jetzt in den zwanziger und dreißiger Jahren macht die Universität in Nashville damit ernst. Von nun an kommt der wichtigste Teil der amerikanischen Literatur, von Faulkner bis Flannery O'Connor aus dem amerikanischen Süden. Die Musik von Jazz über Cajun und Zydeco bis Country&Western sowieso. Wenn man sich die Encyclopedia of Southern Culture von 1989 mit ihren 1.656 Seiten anschaut, dann fragt man sich, ob es in der amerikanischen Kultur überhaupt etwas gibt, das nicht aus dem Süden kommt. An dieser kulturellen Umwälzung hat Robert Penn Warren einen entscheidenden Anteil gehabt.
Warren gehört als Literaturkritiker zu einer Gruppe, die man New Critics nennt (und die manchmal auch Agrarians oder Fugitives genannt werden). Der New Criticism möchte mit seiner Methode des close reading die Literaturkritik auf eine wissenschaftliche Basis stellen. Nun sollte man meinen, dass ein close reading, ein genaues Lesen des Textes, der erste Schritt eines Literaturwissenschaftlers ist. Das interessiert an deutschen Universitäten heute keinen mehr. Da werden keine Texte mehr gelesen, da werden Theorien von spinnerten Franzosen aufgesagt. Das ist jetzt modern. In einem der letzten Auftritte der Münchener Lach- und Schießgesellschaft hatte Henning Venske eine Seite aus einem poststrukturalistischen Theoriewerk vorgelesen. Das Publikum hat sich vor Lachen gebogen. Die armen Pisa-Schüler, die jetzt arme Bachelorstudenten sind, können darüber nicht lachen. Die müssen das lernen. Da wünscht man sich manchmal, dass ein Exorzist daherkommt und den ganzen Spuk vertreibt. Dann könnte man wieder von Neuem anfangen. Und Robert Penn Warrens Understanding Poetry und Understanding Fiction als Basiswerke des Literaturunterrichts nehmen. Understanding Poetry ist ein soldides, vernünftiges Buch, Textbuch und Arbeitsbuch in einem. Die ganze Welt der englischsprachigen Dichtung auf 600 Seiten.
Ich würde jetzt ja gerne ein Gedicht von Robert Penn Warren an dieser Stelle bringen, aber die meisten sind zu lang zum Abtippen an einem Sonnabendmorgen. Und deshalb gibt es Herman Melvilles Gedicht Shiloh. Das hat Robert Penn Warren (der auch einen Band Gedichte von Melville herausgegeben hat) in dem Film Herman Melville: Damned in Paradise vorgelesen. Dieser Dokumentarfilm von Robert D. Squier war sehr aufwendig gemacht. F. Murray Abraham spielte darin Herman Melville, und der Erzähler des Films war kein geringerer als John Huston. Es ist in dem Film eine rührende Szene, wenn der achtzigjährige Dichter auf dem Schlachtfeld von Shiloh mit leicht brüchiger Stimme Melvilles Gedicht vorliest.
Shiloh
A Requiem
(April 1862)
Skimming lightly, wheeling still,
The swallows fly low
Over the field in clouded days
The forest-field of Shiloh -
Over the field where April rain
Solaced the parched one stretched in pain
Through the pause of the night
That followed the Sunday fight
Around the church of Shiloh -
The church so lone, the log-built one,
That echoed to many a parting groan
And natural prayer
Of dying foemen mingled there -
Foemen at morn, but friends at eve -
Fame of country least their care:
(What like a bullet can undeceive!)
But now they lie low,
While over them the swallows skim
And all is hushed at Shiloh.
Vor der Schlacht blühten die Kirschbäume in Shiloh, so wie sie jetzt bei uns blühen. Nach der Schlacht waren keine Blüten oder Blätter mehr auf den Bäumen. Dreieinhalb tausend Tote, sechzehntausend Verwundete, und der Bürgerkrieg hat erst angefangen. Die nächsten Schlachten werden noch viel furchtbarer sein. In Afghanistan blühen keine Kirschbäume, aber da ist ja auch kein Krieg. Da könnte man bestenfalls umgangssprachlich vom Krieg reden oder von dem, was man landläufig als Krieg bezeichnet.
Das Bild zeigt einen Mature Dogwood Baum auf dem Schlachtfeld von Shiloh in Tennessee.
Freitag, 23. April 2010
Blankvers
Zum Tag des Buches, sagte der Buchhändler Wolfgang Erichsen und schenkte mir eine quietscherote Plastikuhr, auf deren Zifferblatt nur die Zahlen 23 und 4 zu sehen waren. Es ist heute nicht nur der Tag des Buches, weil an einem 23. April Shakespeare und Cervantes gestorben sind, es ist heute auch der Tag des internationalen Copyrights. Das wissen alle, die gerade einen neuen Wahrnehmungsvertrag bei der Verwertungsgesellschaft Wort (das ist die GEMA der Schreibenden) unterzeichnet haben. So ganz stimmt das mit dem gleichzeitigen Tod von Shakespeare und Cervantes nicht, sie sind zwar beide an einem 23. April gestorben, aber in Spanien und England gab es damals noch unterschiedliche Kalender.
Heute ist auch der Georgstag, das ist der Heilige mit dem Drachen, dessen rotes Kreuz auch in der englischen Nationalflagge ist. Cry God for Harry, England, and Saint George heißt es in Shakespeares Henry V. Die Schlacht von Agincourt findet aber nicht am Georgstag statt, sondern am Tag des Heiligen Crispin, des Heiligen der Schuhmacher. Cry God for Harry, England, and Saint George hat das gleiche Versmaß wie To be or not to be that is the question. Shakespeare und die englischen Dichter und Dramatiker lieben dieses reimlose Versmaß. Man kann es statt blank verse auch jambischen Pentameter nennen oder fünffüßigen Jambus. Ist alles das gleiche. In Deutschland findet er sich seit Lessings Nathan der Weise im Drama, Schiller und Goethe haben ihn auch immer wieder gebraucht. In der deutschen Lyrik ist er nicht wirklich verbreitet, die englischen Dichter dagegen bevorzugen den reimlosen Blankvers. Weil man ihn mit einem enjambement so schön in die nächste Zeile hinüberziehen kann, das gibt dem Gedicht die Qualität der gesprochenen Sprache. Aber dennoch haben wir in der deutschen Literatur ein Langgedicht (130 Seiten lang) im Blankvers. Es hat den schönen Titel Auch ich in Arkadien und stammt von Wolf von Niebelschütz. Das ist der Schriftsteller, der dem Leser den immer geliebten, opulent langen Roman Der blaue Kammerherr beschert hat. Auch ich in Arkadien ist der Bericht über eine Italienreise zur Tiepolo Ausstellung im Jahre, die Niebelschütz im Jahre 1951 mit seiner Frau gemacht hat. Das Buch hat aber lange gebraucht, bis es das Licht der Welt erblickt hat. Erst 1987 wurde es im Haffmanns Verlag veröffentlicht, da war Wolf von Niebelschütz schon lange tot.
Auch ich in Arkadien, das klingt nach Goethes Italienischer Reise oder Eichendorffs Auch ich war in Arkadien, nach dieser deutschen Italiensehnsucht von Klassik und Romantik. Die später in der Adenauerzeit zu einem Massentourismus wird. Aber heißt diese Eindeutschung von Et in Arcadia ego wirklich das, was wir glauben? Im Jahre 1769 zeigt Sir Joshua Reynold seinem Freund Dr. Johnson ein gerade gemaltes Bild zweier Damen der Gesellschaft, die in der Pose der tragischen Musen vor einem Grabstein mit der Aufschrift Et in Arcadia ego meditieren. "What can this mean?" exclaimed Dr Johnson. "It seems very nonsensical - I am in Arcadia." "The King could have told you," replied Sir Joshua. "He saw it yesterday and said at once: "Oh, there is a tombstone in the background: Ay, ay, death is even in Arcadia." George III (den wir aus The Madness of King George kennen) ist ein besserer Lateiner als der ewige Besserwisser Dr Johnson. Alle klassischen Philologen sind sich daran einig, dass dieses Et in Arcadia ego den Tod bedeutet. Die Bedeutung von Auch ich war in Arkadien geboren, wie Schiller dichtet, bekommt der Satz erst viel später.
Aber bei Wolf von Niebelschütz da heißt es schon, dass er auf den Spuren der deutschen Dichter in Italien ist, und das immer im Blankvers:
In Como anzukommen, ist ein Traum -
Des Bahnhofs wegen: ach, welch süßer Bahnhof!
Welches süßes modernistisches Gebilde!
Flach apfelsinengelb dahingelagert,
Die sonnverglühten Ziegel weißgefugt,
Chromblinkende Metall-Applikationen,
Ein Zauberspiel aus Mauerwerk und Glas,
Majolika, Glyzinien, buntem Kiese;
Darunter tief das Königsblau des Sees;
Im nahen Hintergrund, in Weiß und Ocker
Mit Hunderten von Villen übertupft,
Mit nacktem Felsenaufbruch übersprenkelt,
Das satte Grün des Bergwalds von Brunate;
Und oben, fleckenlos aquarelliert,
Ultramarin in Idealverdünnung.
Sehr schwer zu malen, unwahrscheinlich leuchtend:
Akardiens Himmel - den beschreib ich nicht.
Lesen Sie es mal laut, der Blankvers verfehlt nie seine Wirkung. Ob der Dichter nun die Bilder von Tiepolo oder den Kauf von Essigsaurer Tonerde in der Apotheke für den verstauchten Fuß beschreibt, es wird alles im Blankvers gedichtet, beinahe zehntausend Verse lang. Und es klingt bei ihm, wie das natürlichste Versmaß der Welt. Was hatte sich Johann Heinrich Voß in Eutin nicht angestrengt, um die antiken Versmaße ins Deutsche zu übertragen! Wenn man mal für einen Augenblick seine Beschreibung des Plöner Sees aus seiner ländlichen Idylle Luise gegen Niebelschütz' Como hält:
Stehn wir ein wenig still? Mir klopfet
das Herz! Wie erfrischend
Über den See die Kühlung heraufweht! Und
wie die Gegend
Ringsum lacht! Da hinab langstreifige, dun-
kel und hellgrün
Wallende Korngefilde, mit farbigen Blumen
gesprenkelt!
O des Gewühls, wie der Rocken mit grün-
lichem Dampfe daherwogt!
Dort in fruchtbaren Bäumen das Dorf, so
freundlich gelagert
Um den geschlängelten Bach, und der Thurm
mit blinkendem Seiger!
Oben das Schloß hellweiß in Kastanien!
Vorn auf der Wies' hin
Röthliche Küh'; und der Storch, wie ver-
traut er dazwischen einhertritt!
Obgleich mir röthliche Küh' gefällt, aber zum Weiterlesen lädt das nicht gerade ein. Der Hexameter mag ja für Vergils Aeneis gerade recht sein, aber für die Beschreibung der Landschaft Ostholstein wirkt er ein wenig fremd. Nein, der Blankvers ist schon ein sehr belastbares und anpassungsfähiges Versmaß. Alle englischen Dichter seit Milton wissen, warum sie den genommen haben. Niebelschütz' Auch ich in Arkadien ist heute leider so gut wie vergriffen, es gibt noch fünf Exemplare bei Amazon und zwölf im ZVAB (während es vom Blauen Kammernherrn und den Kindern der Finsternis noch ein großes Angebot gibt). Leider ist ja der wagemutige Gerd Haffmanns Verlag seit einigen Jahren Pleite, aber in einer Kooperation mit Zweitausendeins gibt Haffmanns da eine eigene Reihe heraus. Wie wäre es mal wieder mit einer Neuauflage dieser bezaubernden Dichtung?
Auch ich in Arkadien, das klingt nach Goethes Italienischer Reise oder Eichendorffs Auch ich war in Arkadien, nach dieser deutschen Italiensehnsucht von Klassik und Romantik. Die später in der Adenauerzeit zu einem Massentourismus wird. Aber heißt diese Eindeutschung von Et in Arcadia ego wirklich das, was wir glauben? Im Jahre 1769 zeigt Sir Joshua Reynold seinem Freund Dr. Johnson ein gerade gemaltes Bild zweier Damen der Gesellschaft, die in der Pose der tragischen Musen vor einem Grabstein mit der Aufschrift Et in Arcadia ego meditieren. "What can this mean?" exclaimed Dr Johnson. "It seems very nonsensical - I am in Arcadia." "The King could have told you," replied Sir Joshua. "He saw it yesterday and said at once: "Oh, there is a tombstone in the background: Ay, ay, death is even in Arcadia." George III (den wir aus The Madness of King George kennen) ist ein besserer Lateiner als der ewige Besserwisser Dr Johnson. Alle klassischen Philologen sind sich daran einig, dass dieses Et in Arcadia ego den Tod bedeutet. Die Bedeutung von Auch ich war in Arkadien geboren, wie Schiller dichtet, bekommt der Satz erst viel später.
Aber bei Wolf von Niebelschütz da heißt es schon, dass er auf den Spuren der deutschen Dichter in Italien ist, und das immer im Blankvers:
In Como anzukommen, ist ein Traum -
Des Bahnhofs wegen: ach, welch süßer Bahnhof!
Welches süßes modernistisches Gebilde!
Flach apfelsinengelb dahingelagert,
Die sonnverglühten Ziegel weißgefugt,
Chromblinkende Metall-Applikationen,
Ein Zauberspiel aus Mauerwerk und Glas,
Majolika, Glyzinien, buntem Kiese;
Darunter tief das Königsblau des Sees;
Im nahen Hintergrund, in Weiß und Ocker
Mit Hunderten von Villen übertupft,
Mit nacktem Felsenaufbruch übersprenkelt,
Das satte Grün des Bergwalds von Brunate;
Und oben, fleckenlos aquarelliert,
Ultramarin in Idealverdünnung.
Sehr schwer zu malen, unwahrscheinlich leuchtend:
Akardiens Himmel - den beschreib ich nicht.
Lesen Sie es mal laut, der Blankvers verfehlt nie seine Wirkung. Ob der Dichter nun die Bilder von Tiepolo oder den Kauf von Essigsaurer Tonerde in der Apotheke für den verstauchten Fuß beschreibt, es wird alles im Blankvers gedichtet, beinahe zehntausend Verse lang. Und es klingt bei ihm, wie das natürlichste Versmaß der Welt. Was hatte sich Johann Heinrich Voß in Eutin nicht angestrengt, um die antiken Versmaße ins Deutsche zu übertragen! Wenn man mal für einen Augenblick seine Beschreibung des Plöner Sees aus seiner ländlichen Idylle Luise gegen Niebelschütz' Como hält:
Stehn wir ein wenig still? Mir klopfet
das Herz! Wie erfrischend
Über den See die Kühlung heraufweht! Und
wie die Gegend
Ringsum lacht! Da hinab langstreifige, dun-
kel und hellgrün
Wallende Korngefilde, mit farbigen Blumen
gesprenkelt!
O des Gewühls, wie der Rocken mit grün-
lichem Dampfe daherwogt!
Dort in fruchtbaren Bäumen das Dorf, so
freundlich gelagert
Um den geschlängelten Bach, und der Thurm
mit blinkendem Seiger!
Oben das Schloß hellweiß in Kastanien!
Vorn auf der Wies' hin
Röthliche Küh'; und der Storch, wie ver-
traut er dazwischen einhertritt!
Obgleich mir röthliche Küh' gefällt, aber zum Weiterlesen lädt das nicht gerade ein. Der Hexameter mag ja für Vergils Aeneis gerade recht sein, aber für die Beschreibung der Landschaft Ostholstein wirkt er ein wenig fremd. Nein, der Blankvers ist schon ein sehr belastbares und anpassungsfähiges Versmaß. Alle englischen Dichter seit Milton wissen, warum sie den genommen haben. Niebelschütz' Auch ich in Arkadien ist heute leider so gut wie vergriffen, es gibt noch fünf Exemplare bei Amazon und zwölf im ZVAB (während es vom Blauen Kammernherrn und den Kindern der Finsternis noch ein großes Angebot gibt). Leider ist ja der wagemutige Gerd Haffmanns Verlag seit einigen Jahren Pleite, aber in einer Kooperation mit Zweitausendeins gibt Haffmanns da eine eigene Reihe heraus. Wie wäre es mal wieder mit einer Neuauflage dieser bezaubernden Dichtung?
Donnerstag, 22. April 2010
Paris
Monsieur Haussmann, der sich manchmal Baron Haussmann nennt, ist von 1853 bis 1870 Präfekt von Paris, das damals noch das Département de la Seine ist, wie man unschwer auf der blauen Tafel da oben sehen kann. Monsieur Haussmann baut ganz Paris um. Monsieur Haussmann ist kein echter Baron, aber er ist Mitglied im Senat, und die dürfen sich so nennen. Hat Napoleon III verfügt, als er gerade Kaiser geworden war.
Vorher war er nur Präsident und hieß Louis Napoleon. Ja, das ist der, auf den Wilhelm Busch seine unsterblichen Verse Eins, zwei, drei, ich erzähl herum, der Louis ist Napolium gedichtet hat. Als das kleine Gedicht an Monsieur Haussmann von Charles Cros geschrieben wird, ist Haussmann nicht mehr Präfekt und Napoleon nicht mehr Kaiser. Der sitzt jetzt auf der Wilhelmshöhe in Kassel fest, weil die Deutschen den Krieg gewonnen haben, der siebzig-einundsiebzig heißt.
Ab nach Kassel, heißt es noch heute im Volksmund, das hat man ihm auf der Bahnfahrt zugerufen. In Kassel war vorher schon ein anderer Napoleon, sein Onkel Jérôme. Der war der König von Westphalen, und man nannte ihn König Lustik. Wenn der Louis klug gewesen wäre, dann wäre er in dem kleinen Schlösschen Arenenberg in der Schweiz geblieben, bei seiner liebenden Gattin Eugenie und hätte nicht immer Affären gehabt und Staatsstreiche versucht. In der Schweiz haben sie ihn immer geliebt, da braucht man nur die rührende Schrift Die Familie Bonaparte auf Arenenberg von dem Schlossverwalter Jakob Hugentobler zu lesen. Ich habe einmal in einem anderen Museum den halben Hausrat und viele Gemälde aus Arenenberg gesehen (wahrscheinlich wurde in der Schweiz neu gestrichen), das war sehr hübsch. Der Antoine-Jean Gros mit dem heroischen Napoleon auf der Brücke von Arcole war auch da, wenn auch nur in einer zeitgenössischen Kopie. Sah aber auch heroisch aus.
Wenn Napoleon und Haussmann nicht mehr an der Macht sind, bleibt aber noch das neugebaute Paris. Und die Erinnerungen an das alte Paris. Ein Photograph namens Charles Marville hat noch Teile vom alten Paris auf die photographische Glasplatte gebannt. Mit Photographie hat unser Dichter auch zu tun, er ist ein Erfinder und Tüftler. Er erfindet sozusagen die Farbphotographie und den Phonographen. Allerdings möchte er auch gerne einen riesigen Spiegel bauen, um den Marsmenschen mit reflektiertem Sonnenlicht Botschaften zukommen zu lassen. Unser Dichter Charles Cros ist nicht so bekannt geworden wie seine Freunde Rimbaud und Verlaine. Vielleicht nimmt er das Dichten nicht so ernst. Er hat auch sehr Witziges geschrieben und Nonsense Verse gedichtet. Aber mit seinem Gedicht, das À M. Haussmann heißt, da ist es ihm schon ernst:
La maison est démolie,
le petit nid est en l'air
Où j'eus ton cœur et ta chair,
Ma maitresse si jolie!...
Je vois toujours dans l'ouest clair
Cette comète abolie.
Tombez pierre, ciment, fer!
L'amour jamais ne s'oublie.
Démolissez les maisons,
Changez le cours des saisons,
Plongez-moi dans l'opulence.
Vous ne pourrez effacer
La trace de son baiser.
Le vrai c'est ce que je pense.
Die Wirklichkeit ist nicht das neue Paris von Haussmann, die Wirklichkeit ist das, was der Dichter denkt. Und wenn er an seine schöne Geliebte und ihre Küsse denkt, dann ist das die Wirklichkeit. Haussmann kann die Häuser demolieren, nicht die Erinnerung. Der Sternschnuppenstrom der Leoniden im November 1870 erscheint wie eine himmlische Illustration zu der Vernichtung des alten Paris. Charles Cros ist nicht sehr alt geworden, vielleicht war der Absinth daran schuld, das Modegetränk der französischen Künstler. Aber er hat uns noch einen Klassiker der Nonsense Dichtung hinterlassen, der Le hareng saur heißt. Edward Gorey, dem wir so schöne Titel wie Schorschi schrumpft und The recently deflowered girl verdanken, hat das Gedicht als The Salt Herring übersetzt und illustriert. Bei YouTube gibt es eine sehr komische Animation von Le hareng saur, die sollte man sich unbedingt ansehen.
Das Paris, das wir einmal erlebt haben (mit oder ohne Geliebte) ist immer Erinnerung, die man uns nicht nehmen kann, le vrai c'est ce que je pense. Wenn Sie jetzt ein klein wenig eines älteren Paris sehen wollen, dann schauen Sie sich auf www.dailymotion.com das Video von Snow Patrol Open Your Eyes an. Das ist der Kurzfilm ✺C'ètait une rendez-vous, den Claude Lelouch 1976 morgens um halb sechs in Paris aus dem Auto heraus gedreht hat, zehn Minuten lang, ohne an einer roten Ampel anzuhalten. Eine Kamerafahrt ohne Schnitte. Atemberaubend. Er war allerdings hinterher seinen Führerschein los. Wenn Ihnen die Musik von Snow Patrol nicht gefällt, können Sie auch eine CD von Juliette Gréco oder Yves Montand dazu hören. Der Baron Haussmann sitzt jetzt bestimmt mit seinem Laptop auf einer Wolke und guckt sich das auch an. Der Boulevard, der nach ihm heißt, kommt aber im Film nicht vor.
Lesen Sie doch auch: Paris, Sommer 1959.
Dienstag, 20. April 2010
Cricket
Also das ist nicht die Berufskleidung der englischen Cricket Nationalmannschaft der Damen, das ist definitely not cricket. Wenn auch die Spielkleidung beim Cricket inzwischen leider statt der eleganten weißen Flanellhosen, weißen Hemden und weißen Cricketpullovern (für englische Nationalspieler noch mit drei blauen Löwen verziert) häßlichen bunten Pyjamas gewichen ist, aber irgendwo müssen Grenzen sein. Die werden ja leider mit der Kommerzialisierung aller Dinge immer weiter nach unten verlegt. 1975 regte man sich noch über den gelblichen Sonnenhut von (dem ansonsten perfekt in weiß gekleideten) Majid Khan auf, heute sehen die Spieler aus wie die Teletubbies. Cricket (nicht zu verwechseln mit Croquet) ist der englische Nationalsport, er bedeutet den Engländern viel.
Der Prime Minister John Major hat Cricket gespielt, und er versteht davon auch eine Menge. Winston Churchill hat niemals Sport getrieben, vielleicht ist er deshalb neunzig geworden. Lord Byron hat für seine Public School (Harrow) gegen Eton 1805 auf dem Cricketplatz von Lord's gespielt. Ein substitute durfte für ihn laufen, das konnte er mit seinem Fuß nicht so recht. Dass es substitutes gibt, weiß jeder Leser von L.P. Hartleys schönem Roman The Go-Between. Cricket ist eine eigene Welt. Das merkt der Kontinentaleuropäer bei einem Englandbesuch, wenn er von seinen Gastgebern gezwungen wird, stundenlang vor dem Fernseher zu sitzen. Heute dauert das nicht mehr so lange, seitdem der Kommerz limited over matches durchgesetzt hat. test matches dauern aber heute immer noch fünf Tage. Cricket ist auch die einzige Sportart, in der es eine Mittagspause und eine Teepause gibt.
Neuerdings gehört auch Deutschland einem Cricketverband an, die deutsche Nationalmannschaft ist auf Platz 42 der Weltrangliste. Dahinter kommt eigentlich keiner mehr. In unseren Nachbarländern Holland und Dänemark wird Cricket schon länger auf hohem Niveau gespielt. Es ist in Deutschland zu Anfang des 20. Jahrhunderts auch gespielt worden, alle Sportarten wie Fußball oder Tennis kamen ja damals aus England zu uns. Schon zu Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Berlin Cricketclubs (es gab auch einen auf Helgoland, aber das war damals noch sehr englisch). Erst unter den Nazis ist die Sportart verschwunden, dabei gab es richtige gedruckte deutsche Regeln, bei denen alles eingedeutscht war. Weshalb allerdings der bowler der Einschenker hieß, das habe ich nie herausbekommen.
Cricket ist natürlich auch aus der englischen Literatur nicht wegzudenken. Und damit meine ich nicht nur Kiplings Gedichtzeile von den flannelled fools at the wicket. Jeder Dorothy Sayers Fan kennt die Szene, wo die wahre Identität von Lord Peter Wimsey (der undercover in einer Werbeagentur arbeitet) während eines Cricketspiels ans Licht kommt. Und dann gibt es natürlich noch das schreiend komische Kapitel über das village cricket match in dem Roman England, Their England von dem Schotten A.G. Macdonell. Und Ian Burumas Playing the Game sollte man auch lesen, wenn man die Engländer verstehen will. Der Nobelpreisträger Sir Harold Pinter hat in beinahe jedem seiner Stücke eine Anspielung auf das Spiel untergebracht. Er war ein leidenschaftlicher Cricketspieler, der sogar seinen eigenen Club hatte.
Was das Cricket zu Schaffung einer eigenen Identität alles bedeuten kann, hat der Schriftsteller, Historiker und Sozialphilosoph C.L.R. James in seinem Buch Beyond a Boundary gezeigt, einem ewigen Klassiker der Cricketliteratur. Und falls der ehemalige first class cricketer Ako A. das jetzt im Flieger zwischen Kanada und Nigeria liest: Ako, ich habe seit dreißig Jahren Dein Exemplar, willst Du es wiederhaben? Der geneigte Leser, den ich mit der Abbildung des grenzwertigen cricket hotties in diesen Text gelockt habe, wird inzwischen gemerkt haben, dass ich ein wenig von dem Ganzen verstehe.
Das verdanke ich natürlich nur meinem Freund Georg (hier auf dem Bild zu sehen), der ein halber Engländer ist, und der uns vor Jahrzehnten das Spiel beigebracht hat. Und wenn man das einmal gespielt hat, dann bekommt man so etwas leicht Fanatisches, dass man allen zeigen will, was das für ein tolles Spiel ist. Sozusagen eine Art von sportlicher Proselytenmacherei.
Der größte Fehler, den ich mit einer Mannschaft von Studenten gemacht habe, war, eine Einladung eines englischen Kriegsschiffes anzunehmen. Die lagen während der Kieler Woche hier in der Förde und hatten gehört, dass es am Englischen Seminar der Uni eine Cricketmannschaft geben solle.
Ich selbst habe an dem Tag nicht mitgespielt, weil ich den grässlichen Heuschnupfen hatte. Ein weinender und niesender batsman, das geht nun wirklich nicht (aber hier gibt es ein Photo von mir aus dem Vorjahr). Als ich die Limeys kommen sah, wußte ich, dass wir ganz gewaltig verlieren würden. Die hatten Cricketschläger der neuesten Generation, nicht das, womit wir spielen. Ihr einziger Schwachpunkt war der Schiffsarzt. Doctor, are you paid by the Germans? schallte es über das Feld, als der wieder einmal etwas versiebte. Abends gab es dann auf der HMS Fearless noch eine Party. Und ich bekam Monate später vom Captain noch einen Brief in erstklassigem Deutsch, der mit dem köstlichen Satz endet: Ich würde mich freuen, wenn beim nächsten Besuch eines britischen Schiffes einige Ihrer schönen, jungen Studentinnen mit an Bord kommen könnten, um ihre englischen Sprachkenntnisse anzuwenden. Das würde auch zur angenehmen Unterhaltung der Offiziere beitragen! Von unseren Cricketkünsten war höflicherweise überhaupt nicht mehr die Rede.
Also das hier, das ist natürlich das richtige Photo, um Cricket zu vermitteln (die junge Dame da oben zieht aber mehr Leser an). Es zeigt den vielleicht berühmtesten englischen Cricktspieler, W.G. Grace. Oder genauer, um genau zu sein: Dr William Gilbert Grace. Er war auch jahrelang auf der 3 Pence Briefmarke, und selbst wenn er schon beinahe hundert Jahre tot ist, lebt er für Cricket Enthusiasten immer noch. Dieser viktorianische Gentleman hätte auch niemals einen Teletubbyanzug angezogen.
Dieses Bild von Sir Edward Ponsonby Staples, das im Cricketheiligtum, dem Pavillion des MCC hängt, zeigt ein test match England gegen Australien, das in dieser Besetzung so nie stattgefunden hat. Auf englischer Seite sind W.G. Grace und der erste fast bowler der Geschichte des Cricket, F.R. Spofforth, zu erkennen. Der hatte den Beinamen The Demon. Der Kapitän der englischen Nationalmannschaft, Lord Harris, steht vorne links. Er trägt einen bunten Blazer (eigentlich ist es eher eine Strickjacke), wie es jetzt unter sportbegeisterten Gentlemen Mode ist. Lord Harris ist ein Freund des Prinzen von Wales. Als George Harris einmal ein gerade für die Mode frisch erfundenes Tweedjackett getragen hat, sagte Edward Na, Harris, geht's zur Rattenjagd? Edward ist der unangefochtene arbiter elegantiarum in dieser Zeit, er bestimmt, was in der Herrenmode angesagt ist, nicht Lord Harris. Später wird er auch Tweedjacketts tragen. Edward, der Sohn Viktorias ist auf diesem Bild, rechts auf dem Spielfeld stehend, in schwarzem Gehrock mit Zylinder. Seine Gattin ist ganz in weiß und rosa, die mit dem Sonnenschirm. Der Prinz von Wales scheint uns anzugucken, in Wirklichkeit guckt er nur die Dame im gelben Kleid (die uns auch anzuschauen scheint) vorne rechts an. Das ist Lillie Langtry, auch genannt the Jersey Lily. Sie ist die Geliebte des Prinzen von Wales - und der 12. Baronet Staples (ein liebenswerter Exzentriker, der niemals Schuhe und Strümpfe trug) hat das in diesem Bild auch jedem Betrachter, der das vielleicht noch nicht wußte, deutlich gemacht.
Mein heutiges Gedicht stammt auch dieser Zeit, es wurde 1897 veröffentlicht. Da feiert Victoria ihr goldenes Thronjubiläum. Das Gedicht stammt von (Sir) Henry Newbolt und heißt Vitai Lampada. Das ist Lateinisch und heißt Fackel des Lebens, ist eine Zeile in Lukrez' De rerum natura. Liest heute keiner mehr, gab es aber vor Jahrzehnten in der Reihe von Fischers Exempla Classica. Was waren das für Zeiten, als es Klassiker der Philosophiegeschichte noch in einer Taschenbuchreihe gab!
There's a breathless hush in the close tonight
Ten to make and the match to win -
A bumping pitch and a blinding light,
An hour to play and the last man in.
And it's not for the sake of a ribboned coat
Or the selfish hope of a season's fame,
But his captain's hand on his shoulder smote.
"Play Up! Play up! And play the game!"
The sand of the desert is sodden red -
Red with the wreck of the square that broke;
The gatling's jammed and the colonel dead,
And the regiment blind with dust and smoke.
The river of death has brimmed its banks,
And England's far and Honour a name,
But the voice of a schoolboy rallies the ranks.
"Play up! Play up! And play the game!"
This is the word that year by year
While in her place the school is set
Every one of her sons must hear,
And none that hears it dare forget.
This they all with joyful mind
Bear through life like a torch in flame,
And falling fling to the host behind.
"Play up! Play up! And play the game!"
Das Paradestück des englischen Imperialismus, der Zögling der Public School, der sich in einer beinahe ausweglosen Situation im Cricket bewährt, wird sich auch für die Sache Englands im Krieg bewähren. Wenn der Wüstensand (Afghanistan?) schon rot vom Blut der Soldaten ist. Wellington wird der Satz zugeschrieben, dass die Schlacht von Waterloo auf den playing fields of Eton gewonnen wurde, er hat ihn wohl nicht gesagt, so etwas klingt aber immer gut. Gegen dieses Gedicht klingt Rudyard Kipling, den man immer für einen Apologeten des Imperialismus hält, im gleichen Jahr mit seinem Gedicht Recessional ja wir ein Linksliberaler. Sein Gedicht warnt (lest we forget, lest we forget) vor dem Zusammenbruch des riesigen Weltreiches. Newbolts Gedicht wurde im Ersten Weltkrieg von der englischen Propaganda als Durchhaltelyrik gebraucht, und viel mehr ist es ja auch nicht. Sir Henry Newbolt hat auf einer Lesereise in Kanada 1923, als er immer wieder aufgefordert wurde, dies Gedicht zu rezitieren, gesagt, dass er das Gedicht hasse: It's a kind of Frankenstein's monster that I created thirty years ago. Aber Frankensteins Monster ist immer noch in den Gedichtsammlungen und heimlich in vielen Köpfen. Als Gegenmittel gibt es zum Ausklang noch ein kleines charmantes und überhaupt nicht martialisches Gedicht von John Arlott, dem berühmtesten Cricketkommentator Englands. Es klingt ein wenig nach der Lyrik von John Betjeman. Das ist kein Zufall, Betjeman ist der dichterische Mentor seines Freund John Arlott gewesen.
Like rattle of dry seeds in pods
The warm crowd faintly clapped;
The boys who came to watch their gods,
The tired old men who napped.
The members sat in their strong deckchairs,
And sometimes glanced at the play,
They smoked and talked of stocks and shares,
And the bar stayed open all day.
Montag, 19. April 2010
Vulkane
Den ganzen Sommer 1783 notiert Lichtenberg eine Anhäufung von Gewittern mit einer Vielzahl von Blitzen, insbesondere um Einbeck. Nun muss man dazu sagen, dass er gerade mit dem Thema Blitzableiter beschäftigt ist, da zählt jeder Blitz doppelt. Aber irgendetwas ist anders mit dem Wetter in diesem Sommer, ein nebliger Rauch scheint über allem zu liegen. Lichtenberg schiebt es auf die armen Kolonisten an der holländischen Grenze, die das Moor abbrennen (diese Praxis wird erst 1923 verboten). Das steht auf jeden Fall in dem Gutachten, das der Professor Lichtenberg erstellt. Auch ein anderer Gelehrter, Christoph Gottfried Bardili, äußert sich 1783 Über die Entstehung und Beschaffenheit des außerordentlichen Nebels in unserer Gegend. Aber eigentlich ist er Philosoph und beschäftigt sich eher mit dem transzendentalen Nebel Immanuel Kants, den er nicht ausstehen kann.
Die Sache mit den Moorbränden, schön und gut, aber weshalb ist im Languedoc die Sonne in diesem Sommer so blutrot? Hundert Jahre später wird man in ganz Europa ähnliche Wetterphänomene beobachten, selbst oben in Schweden und Norwegen ist der Himmel plötzlich blutrot. Vielleicht ist das Rot auf Munchs Bild Der Schrei der wirkliche Himmel. Aber damals weiß man, dass der Krakatau explodiert ist, man spürt die Auswirkungen überall auf der Welt. Wenn man das Ausmaß dieses Vulkanausbruchs betrachtet (und Arno Schmidts Radioessay Krakatau von 1958 gibt da einen guten Eindruck), dann kommt einem die Totenstille auf Europas Flughäfen sehr unbedeutend vor. Dabei wäre Lichtenberg schon auf dem richtigen Weg gewesen, mit seiner Erklärung des Wetters, als er in einem Brief an Johannes Andreas Schernhagen vom 26. Juni 1783 (der natürlich wieder einmal von Blitzen und Gewittern handelt), ganz beiläufig schreibt: Wer weiß, ob nicht die Asche des Vesuvs zuweilen bis zu uns kommt... Die Asche kommt 1783 nicht vom Vesuv, sie kommt - wie heute - aus Island. Der Skaptar Jökull speit monatelang Asche und Feuer, aber dass sich das bis Einbeck und Göttingen auswirkt, darauf kommt Lichtenberg nicht. Erstaunlicherweise scheint ihm auch keiner seiner englischen Korrespondenten von dem sand summer zu berichten (in Schottland ist die Rede vom year of the ashie), in dem die Luft voller Asche und Schwefeldioxid ist und Menschen und Tiere sterben. Die Engländer haben es ja mit dem Wetter, und so finden sich schon im 18. Jahrhundert eine Vielzahl von Amateurmeteorologen, die sorgfältig alle Abweichungen von der Normalität registrieren.
Hinterher ist man immer schlauer, und wenn man heute nach Zeugnissen der Naturkatastrophe sucht, wird man fündig werden. Selbst in Cowpers Langgedicht The Task finden sich mit portentous, unexampled, unexplained Hinweise auf das irreguläre Wetter. Der universal Perturbation in Nature folgt ein Schreckenswinter. Ein Jahr später, im Dezember 1784, wird Benjamin Franklin in einem Vortrag andeuten, dass der Ausbruch der Laki Vulkane an der Wetterveränderung schuld sein könne. Darauf hätte Lichtenberg kommen können, als er die Vielzahl der Gewitter (die zeitgleich auch in England beobachtet werden) rund um Göttingen registrierte und die Moorbauern des Bourtanger Moores verdächtigte, an allem Schuld zu sein. In Bezug auf die methodische Registrierung in der Meteorologie wird dem großen Lichtenberg da ein Engländer voraus sein. Der kleine Luke Howard ist damals elf Jahre alt, aber die Veränderungen am Himmel werden ihn von da an sein ganzes Leben beschäftigen. Goethe wird von ihm als der allerliebsten Erscheinung: ein Quäker, Laborant, Naturmensch und Christ sprechen und ihm mit Howards Ehrengedächnis eine Reihe von kleineren Gedichte widmen. Luke Howard wird die Wolken systematisieren, das hat Lichtenberg nicht hinbekommen. Vielleicht liegt das auch daran, dass er 1783 Margarete Elisabeth Kellner kennengelernt hat, da muss sich der Gelehrte erstmal auf die Liebe konzentrieren.
Wenige Jahrzehnte später ist wahrscheinlich wieder ein Vulkan schuld an einem aussergewöhnlichen Sommer, der Ausbruch des Tambora auf der Insel Sumbawa führt 1816 zu einem Sommer, den man in Amerika eighteen hundred and frozen to death nennt. Lord Byron hält sich in diesem Sommer in der Villa Diotati bei Genf auf, er hat seinen neuen Leibarzt Dr. John Polidori bei sich. Die Shelleys wohnen in der Nähe und hocken ständig bei Byron im Salon. Auf Grund des schlechten Wetters geht man nicht mehr aus dem Haus. Beschliesst stattdessen, Schauergeschichten zu schreiben. Shelley schreibt keine, der hat gerade eine grauenhafte Erscheinung. Polidori, der ihn zu beruhigen versucht, klaut ihm Teile von seiner Vision. Nimmt dann noch eine Erzählung dazu, die Byron aufgegeben hatte und bastelt daraus seinen Vampyr. Mary Shelley schreibt Frankenstein, Lord Byron ein Gedicht namens Darkness. Die Vulkanasche des Tambora bringt den europäischen Schauerroman hervor! Schreibt jetzt gerade auf einem Flugplatz ein gestrandeter Urlauber auch einen Schauerroman?
Es gibt heute zwei Vulkangedichte, eins ist von ➱Emily Dickinson, das andere ist von einer Schülerin der vierten Klasse einer Schule auf Hawai. Die haben da ja ständig wirkliche Vulkane vor Augen, während Vulkane in Amherst (Massachussetts) eher selten sind.
Volcanos are smoky and ashy.
Others are hot and gushy.
Lanai is one island that has a volcano.
Cones are one type of volcano.
Active volcanos are dangerous.
Names, like you and me,
Volcanos have them too.
Others are sleepy,
they aren't that dangerous.
Volcanoes be in Sicily
and South America,
I judge from my geography.
Volcanoes nearer here,
a lava step, at any time,
am I inclined to climb,
a crater I may contemplate
Vesuvius at home.
Ich finde das Vulkangedicht von der Viertklässlerin besser, aber ich mochte Emily Dickinson noch nie.
Oberhemden
Der ältere Herr war nicht so konservativ wie der englische Politiker Enoch Powell, der erst zu seinem Lebensende entdeckte, dass es inzwischen schon Oberhemden mit einem Umlegekragen am Hemd gab. Er befestigte immer noch seinen Kragen mit Kragenknöpfen am Hemd, und sein konservativer Herrenausstatter belieferte ihn wie selbstverständlich mit solchen Hemden. Das Herrenhemd hat, wie einem ein Blick in Ingrid Loscheks Mode- und Kostümlexikon zeigt, eine lange Entwicklungsgeschichte. Vor einem halben Jahrhundert kam ein deutsches Oberhemd noch wie selbstverständlich aus Bielefeld, heute wird es in Billiglohnländern irgendwo auf der Welt genäht. Selbst viele der einstmals wegen ihrer Qualität berühmten englischen Hemden aus der Jermyn Street werden weit entfernt von England genäht. Im Durchschnitt hat beinahe jedes Kleidungsstück, das wir tragen, eine Reise um den ganzen Erdball hinter sich. Der Satz von John Ruskin, there is nothing in the world that some man cannot make a little worse and sell a little cheaper, and he who considers price only is that man's lawful prey, hat auch heute noch seine Gültigkeit. Die Bedingungen, unter denen die Hemden hergestellt werden, haben sich seit den sweatshops zur Zeit von Charles Dickens wenig geändert. Zu der Zeit hatte Thomas Hood sein anklagendes Gedicht Song of the Shirt geschrieben. Heute bedeutet die Kombination von hood und shirt etwas anderes.
Hemden sind der Mode unterworfen und tausenderlei Experimenten mit dem Material. Heute erinnert man sich mit Schaudern an die Nyltesthemden der fünfziger Jahre oder an Seidenstickers schwarze Rose Hemden der sechziger Jahre. Die Amerikaner können hervorragende Freizeithemden mit Buttondownkragen herstellen, Brooks Brothers und Nordstrom hatten früher exzellente Qualitäten. Und die Firma Sero (die lange Zeit die Brooks Brothers Hemden herstellte) hatte einen sagenhaften Ruf. Aber wenn die Amerikaner eins nicht können, dann sind es dress shirts, also das, was wir Oberhemden nennen. Jay Gatsby aus Fitzgeralds Roman The Great Gatsby bezieht seine Hemden, die seine Jugendliebe Daisy they are such beautiful shirts...It makes me sad because I've never seen such - such beautiful shirts before schluchzen lassen, aus England. Obgleich er ja auch Arrow Hemden hätte kaufen können, die damals noch einen guten Ruf hatten. Unter dem Oberhemd ist das Herz, die kleine Sehnsucht unterm Oberhemd, wie Erich Kästner dichtete.
Wenn man seine Hemden selbst wäscht und selbst bügelt und die Qualität erst danach beurteilt, wie ein Hemd nach zehn oder zwanzig Jahren aussieht, dann bestehen nur wenige Marken den Test der Zeit. Bei Hilditch & Key (die angeblich Karl Lagerfeld immer trägt) ist der Kragen nach einem Jahr hin. Und bei New & Lingwood hat man zwar schöne weiß-blaue Plastiktüten, aber die ersten Knöpfe gingen nach der dritten Wäsche verloren. Thomas Pinks pinkfarbene Dreicke unten im Hemd waren ja ganz witzig, aber die Qualität der ersten Jahre scheint auch dahin. Die Jermyn Street ist längst nicht mehr der Gral der Hemdenkäufer. Bernhard Roetzel schwärmt neuerdings nicht mehr für Turnbull & Asser (gegen die Firma will ich nix sagen), sondern für die deutsche Firma Emanuel Berg, die ihre Hemden in der Gegend von Danzig nähen lässt.
Die deutsche Firma van Laack, die mit dem Slogan das königliche Hemd warb, war jahrzehntelang ein Garant für Qualität. Selbst Rainer Barschel trug laut Untersuchungsprotokoll der Staatsanwaltschaft ein van Laack Royal Hemd in der Badewanne. Aber inzwischen ist das 1881 gegründete Unternehmen wie so viele andere Marken verkauft worden (auch Borrelli ist nicht mehr Borrelli), und ich kann nichts mehr über die augenblickliche Qualität sagen. Als einziger Newcomer in der Oberhemdenoberliga wahrt Ignatius Joseph seit Jahren seinen Standard. Aber seine schrillen Farben und der hohe Haifischkragen sind nicht jedermanns Sache. Wahrscheinlich kann man nur noch schweineteure Italiener kaufen, die wirklich made in Italy sind. Das sind wirkliche Sorgen. Herman Melville hatte die nicht. Als er auf seiner Grand Tour seinen Freund Nathaniel Hawthorne in Liverpool besuchte, hatte er nur drei schmutzige Hemden dabei, wie Hawthorne indigniert ins Tagebuch eintrug. Hawthorne war jetzt piekfein, Konsul in Liverpool. Melville ein etwas abgerissener arbeitsloser Schriftsteller. Aber er hatte Moby-Dick geschrieben, und das zählt mehr als alle sauberen Oberhemden der Welt.
Ich brauche glücklicherweise keine Hemden mehr zu kaufen, mein Kleiderschrank gleicht einem Hemdenmuseum. Wenn Daisy Fay vorbei käme, würde sie wieder schluchzen. Ich hätte ja gerne Thomas Hoods Song of the Shirt abgetippt, aber das ist mir zu lang. Deshalb gibt es oben einen Link zu dem wirklich hervorragenden Victorian Web. Und hier heute ein zauberhaftes kleines Hemdengedicht, das nur von einer Frau geschrieben werden konnte. Es heißt ganz einfach The Shirt und ist von der amerikanischen Dichterin Jane Kenyon:
The Shirt
The shirt touches his neck
and smoothes over his back.
It slides down his sides,
it even goes down below his belt -
down in his pants.
Lucky shirt.
Das da oben im ersten Absatz ist ein Oberhemd (natürlich ohne Brusttasche) der Firma Charvet, die 1838 den ersten Hemdenladen der Welt am Place Vendôme aufmachten, Charles Baudelaire, Émile Zola und Marcel Proust gehörten zu den Kunden der Firma. Lord Byron hat da nicht gekauft, er war schon tot, als Christofle Charvet den Laden aufmachte. Byron ist heute vor 186 Jahren gestorben. Lord Byron hätte ganz bestimmt in dem Laden gekauft, weil der Vater von Christofle Charvet Byrons Idol Napoleon mit Kleidung beliefert hat. Byron hat das Oberhemd um den poet collar bereichert, einen hohen, offenen Kragen (den ähnlich schon Shakespeare getragen hat), der fortan für den romantischen Dichter de rigueur war. Heute, wo alle nur noch T Shirts tragen, gibt es aber massenhaft Angebote von Lord Byron T Shirts. Hätte unser modebewusster Dichter so etwas getragen?
Sonntag, 18. April 2010
Kurgäste
Als John Nash den Royal Pavillion im Seebad Brighton für den Prinzregenten gerade fertig gebaut hat, kommt in einem unbedeutenden Teil des Königreiches ein Schiffszimmermann und Amateurschriftsteller auf die Idee, in seiner Heimat auch ein Seebad zu begründen. Seine Heimat hat den Status einer englischen Kolonie, sie hat auch einen Gouverneur, einen pensionierten Colonel, der noch bei ➱Waterloo dabei war. Die pensionierten Colonels, die die Waterloo Medaille besitzen, werden jetzt überall auf der Welt Gouverneure. Überall gibt es jetzt englische Kolonien. Die englische Kolonie, in der der Schiffszimmermann Jakob Andresen Siemens lebt, heißt Helgoland. Erstaunlicherweise schlägt die Idee ein, wenig später hat man die Insel im Sommer voll mit Kurgästen aus der Haute Volée von Hamburg und Berlin. Voll bedeutet jetzt, dass man im Sommer zweihundert Gäste hat.
Das kauzige Original Jakob Andresen Siemens hat freundschaftliche Beziehungen zu dem Hamburger Verleger Julius Campe. Sein Vetter Jacob wird Campe auch mit Helgoländer Hummern beliefern. Siemens wird auch eine 581 Seiten starke Schrift bei Campe erscheinen lassen. Er schenkt dem Kurgast ➱Heinrich Heine ein Exemplar, aber der hat nur wenige Seiten des Buches aufgeschnitten. Harry Heine ist häufiger auf Helgoland, vorher war er auf Norderney. Seebäder sind nun in Deutschland en vogue. In England, wie wir von Lichtenberg wissen, schon früher. Harry Heine ist auch Campe Autor, wie die beiden anderen Schriftsteller aus der vorrevolutionären Zeit (die man heute den Vormärz nennt), Ludolf Wienbarg und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Campe druckt jetzt alles revolutionäre Zeug, das ist sein großes Verdienst für die deutsche Literatur. Alle drei Schriftsteller sind literarisch mit Helgoland verbunden. Wienbarg durch sein Tagebuch von Helgoland, Heine durch seine Briefe aus Helgoland und Hoffmann mindestens durch zwei Gedichte.
Das erste Gedicht trägt den etwas rätselhaften Namen Makintosh (vielleicht sollte Apple Macintosh es mal zum Firmengedicht machen), es ist nach der Melodie von Mit dem Pfeil und Bogen zu singen:
Freunde, geht ins Seebad!
Jedes Leid und Weh
lindert und beschwichtigt,
scheucht und heilt die See.
Jedem wird Genesung
in der See zu Theil;
jedem Rang und Stande
bringt das Seebad Heil.
Wer auf festem Lande
nirgends Heilung fand,
wird sie wahrlich finden
dort in Helgoland. -
Vetter Michel höret
dieses frohe Wort,
macht sich auf und eilet
nach der See sofort.
Und er badet täglich,
in des Weltmeers Fluth,
denn er weiß, das Seebad
machet alles gut.
Und er nimmt der Bäder
fünfzig an der Zahl,
und er badet täglich,
wie's der Arzt befahl.
Wie er ist, so bleibt er -
von Philisterei
wird man auch im Weltmeer
nun und nimmer frei.
Hoffmann ist kein Adliger, das von Fallersleben ist nur eine Ortsbezeichnung, wie er es in einem kleinen Gedicht hübsch expliziert hat:
An meine Heimat dacht ich eben
da schrieb ich mich von Fallersleben.
Und schrieb's und dachte nicht dabei
an Staatscensur und Polizei.
So schrieben sich viel Biederleute
nach ihrem Ort
und tun's noch heute.
Und keiner dachte je daran
durch von würd' er ein Edelmann.
Dieser Hoffmann von Fallersleben bietet 1841 Julius Campe beim Strandspaziergang in Helgoland ein Gedicht an, das er eben geschrieben hat. Es ist ein Trinklied. Vier Louisdor will er dafür haben, das Lied heißt Lied der Deutschen. Wir kennen (hoffentlich) immer noch Teile davon, weil die dritte Strophe unsere Nationalhymne ist. Sie ist leichter zu singen als die amerikanische Nationalhymne, deren Melodie auch auf ein Trinklied zurückgeht. Als Hoffmann von Fallersleben das Lied auf Helgoland schrieb, gab es Deutschland noch gar nicht, und auch die Grenzen von der Maas bis an die Memel und von der Etsch bis an den Belt gab es so noch nicht. Bei dieser ersten Strophe hat Fallersleben sich von Walther von der Vogelweides Ich hân lande vil gesehn leiten lassen. Auch bei der zweiten Strophe, dem Lob der deutschen Frauen (das niemals bei Heidi Klums Suche nach dem Topmodel gesungen wird), hat der Dichter sich von dem gleichen Lied Walthers (Ir sult sprechen willekomen) inspirieren lassen. Und an seine Jugendliebe soll er auch gedacht haben.
Hoffmann von Fallersleben sehnt sich die Einheit Deutschlands herbei, er wird es noch erleben, dass sie durch Bismarck Realität wird. Er muss diesen Gedanken auch gleich dem englischen Gouverneur nahebringen, da bleibt er der deutsche Philister, dem auch die Nordsee dieses Deutschtum nicht austreiben kann. Ludolf Wienbarg, für den Helgoland damals politisches Exil bedeutete, fand die Insel unter der britischen Herrschaft ganz gut aufgehoben. Heine gibt ein satirisches Portrait des Gouverneurs, ein Verehrer Napoleons muss eben die Engländer hassen. Helgoland kommt erst 1890 zu Deutschland. Durch einen Vertrag, der im Volksmund der Helgoland-Sansibar Vertrag heißt. Bismarck, der seinen Nachfolger Leo von Caprivi nicht ausstehen konnte, hat das Gerücht in die Welt gesetzt, dass die Deutschen Helgoland gegen Sansibar getauscht hätten. Ganz so war es nun doch nicht. Aber die Vorstellung, dass es eines Tages statt Butterfahrten nach Helgoland Butterfahrten nach Sansibar gegeben hätte, ist schon komisch. Zu Sansibar haben wir ja immer irgendwelche Beziehungen gehabt. Der Bremer Afrikaforscher ➱Gerhard Rohlfs ist da mal kurz und glücklos Generalkonsul gewesen. Alfred Andersch hat einen Roman namens Sansibar oder der letzte Grund geschrieben, da ist Sansibar ein utopischer Ort, die Hoffnung auf eine besser Welt ohne die Nazis. Und Heinrich Lübke hat die Gattin des Präsidenten in der Hauptstadt Tananarive mit sehr geehrte Frau Tananarive angeredet. Da war der deutsche Michel mal wieder in Hochform. Er hätte mal mehr in Helgoland in der See baden sollen. Aber hier hat Hoffmann von Fallersleben schon Recht, die Philisterei, die werden wir nie so recht los.
Die obige Briefmarke zeigt natürlich (wie bei einer englischen Kolonie nicht anders zu erwarten) die Königin Victoria, auch die Schreibweise von Helgoland ist englisch, während Schilling deutsch geschrieben ist. Das liegt daran, dass die Kurantwährung hamburgische Schillinge sind, keine englischen.