Montag, 24. Januar 2022

style mixed

3½ Jahre braucht der Autor, um das Buch zu schreiben, 3½ Monate der Verleger, es herauszubringen, 3½ Tage der Re­zen­sent, es zu lesen (wenn ers liest!), 3½ Stunden, es zu besprechen (wenn er sich Mühe gibt), 3½ Minuten der Leser, um die Re­zen­sion aufzunehmen, 3½ Sekunden, sie wieder zu vergessen. Das ist es: Autoren werden schnell vergessen. In diesem Blog nicht. Auch Wolf von Niebelschütz, der am 24. Januar 1913 geboren wurde, war schon in diesem Blog, in dem Post Wolf von Niebelschütz und dem Post Blankvers. Und im Post Eleonore von Aquitanien wird er auch zitiert. Vor zehn Jahren hat der Schweizer Dominik Riedo eine beinahe tausendseitige Biographie des Autors an der Universität Fribourg abgegeben, die inzwischen als Buch erschienen ist und 112,9€ kostet. Dafür gebe ich kein Geld aus, mir reichen die Werke von Wolf von Niebelschütz. Ich habe keine Schwierigkeiten 99€ für neun Hemden der Londoner Firma Duchamp auszugeben (hier sind sie), aber Dissertationen lese ich nicht mehr. 

Ich habe fünfzig Seiten von dem Buch gelesen, es ist eine wahnwitzige Fleißarbeit, aber Riedo hat nicht das, was die Engländer und Amerkaner können, was nach meiner Meinung einen guten Biographen ausmacht. Ich zitiere da mal einige Sätzte aus dem Post Biographien: Gute Biographien brauchen nicht nur alle Fakten und Daten, sie brauchen auch einen guten Erzähler. Die Detailverliebtheit, mit der manche neueren Biographien brillieren, ist ja ganz nett. Aber häufig fragt man sich: was soll's? Ich kenne zwar zufällig die Baunummer des Mahagonibootes, das die Firma Abeking und Rasmussen an die Familie Pringsheim geliefert hat (und mit dem Thomas Mann gerudert ist), ich würde das aber nicht als einen wichtigen Beitrag zur Thomas Mann Biographie verstehen wollen. Andere schon, die neue Form der Biographie kapriziert sich auf Wäscherechnungen und Arztrezepte, verliert aber manchmal das Subjekt der Biographie aus den Augen. Emil Ludwigs Napoleon, 1925 bei Rowohlt erschienen, verzichtet auf den Kleinkram (und enthält bestimmt tausenderlei Fehler) - aber was ist das für ein Buch! Wir haben in Deutschland nur wenige Biographen von Format, aber viele Biographien von wenig Format.

Niebelschütz ist in Schweizer Händen sicher gut aufgehoben, denn das Werk über das ich heute schreibe, beginnt in der Schweiz und ist 1987 in Zürich erschienen. Es hat den Titel Auch ich in Arkadien: Respektlose Epistel an die Freunde. Auch ich in Arkadien, das klingt nach Goethes Italienischer Reise oder Eichendorffs Auch ich war in Arkadien, nach dieser deutschen Italiensehnsucht von Klassik und Romantik. Die später in der Adenauerzeit zu einem Massentourismus wird. Und Carl Borgward bewegen wird, Automodelle Isabella und Arabellla zu nennen. Aber heißt diese Eindeutschung von Et in Arcadia ego wirklich das, was wir glauben? Im Jahre 1769 zeigt Sir Joshua Reynolds seinem Freund Dr Johnson ein gerade gemaltes Bild zweier Damen der Gesellschaft, die in der Pose der tragischen Musen vor einem Grabstein mit der Aufschrift Et in Arcadia ego meditieren. 'What can this mean?' exclaimed Dr Johnson. 'It seems very nonsensical - I am in Arcadia.' 'The King could have told you,' replied Sir Joshua. 'He saw it yesterday and said at once: 'Oh, there is a tombstone in the background: Ay, ay, death is even in Arcadia.' George III (den wir aus The Madness of King George kennen) ist ein besserer Lateiner als der ewige Besserwisser Dr Johnson. Alle klassischen Philologen und Kunsthistoriker sind sich daran einig, dass dieses Et in Arcadia ego den Tod bedeutet. Die Bedeutung von Auch ich war in Arkadien geboren, wie Schiller dichtet, bekommt der Satz erst viel spät

Ich schreib Euch alles dies, vielliebe Freunde,
Zwei Jahr nachdems gewesen, einmal weil Ihr
Bericht erwartet, und zum Andern dann,
Weil mich seither das Schicksal feindlich hindert,
Der Fiskus tuts, der Fiskus ist auch Schicksal.
Da schafft Erinnerung mir denn Ersatz,
Recht mageren, und Euch den Abglanz, hoff ich

Zwei Jahre nach der Reise beginnt er in Blankversen das Tagebuch einer neuntägigen Bahnreise von der Schweiz nach Italiener zu schreiben, wo er mit seiner Gattin die Tiepolo Ausstellung in Venedig besuchen wollte. Warum so spät? Und warum die Erwähnung des Fiskus, verdient der Autor so viel? Nicht mit seinem Roman, der 1949 bei Suhrkamp erschienen ist. Vier Bände, 719 Seiten, ein Roman, der im 18. Jahrhundert spielt, weit weg vom Nachkriegsdeutschland. Der Roman hat den Titel Der blaue Kammerherr: Ein galanter Roman. Es das erste, das ich von Niebelschütz las, mein Freund Peter hatte mir die Lektüre empfohlen, so wie er mir Proust empfohlen hatte. Es ist auch das erste Buch, das man lesen sollte, wenn man den Autor kennenlernen will. Aber von den Honoraren von Peter Suhrkamp für den Roman, den der Feldwebel Niebelschütz zum größten Teil während des Krieges in Frankreich geschrieben hatte, konnte er nicht leben. Aber Geld bringt dieses Buch hier über den Gründer des Gerling Konzerns. Oder die Monographien über die Feinpapierfabrik Zanders, über die Knapsack AG und über den Züblin Konzern.

Als er Auch ich in Arkadien so gut wie fertig hat, läßt er das Werk aber wieder liegen, weil er mittendrin in einem Roman steckt, der uns wieder in die Vergangenheit führt. Diesmal nicht ins 18. Jahrhundert wie Der blaue Kammerherr, sondern in das 12. Jahrhundert. Auf die Idee war er nach einer Reise in die Provence gekommen. Der Roman hat den Titel Die Kinder der Finsternis, und er hat wieder über 700 Seiten. Ein sprachliches Kunstwerk, ein historischer Roman. Fantasy, wenn wir so wollen. Niebelschütz wird die Publikation des riesigen Werks nicht mehr erleben, er stirbt kurz davor an den Folgen der Operation eines Hirntumors. Und die kleine Respektlose Epistel an die Freunde bleibt als Typoskript liegen.

Niebelschütz hatte die Epistel im Novemer 1954 nach der Niederschrift zum Druck freigegeben, die Druckerlaubnis dann aber wieder zurückgezogen. Er hatte nicht die Schwierigkeiten beim Schreiben, von denen Albrecht von Haller in seinem Gedicht Die Alpen berichtet: Dieses Gedicht ist dasjenige, das mir am schwersten geworden ist. Es war die Frucht der großen Alpen-Reise, die ich An. 1728 mit dem jetzigen Herrn Canonico und Professor Gessner in Zürich gethan hatte. Die starken Vorwürfe lagen mir lebhaft im Gedächtniß. Aber ich wählte eine beschwerliche Art von Gedichten, die mir die Arbeit unnöthig vergrößerte. Die zehenzeilichten Strophen, die ich brauchte, zwangen mich, so viele besondere Gemälde zu machen, als ihrer selber waren, und allemal einen ganzen Vorwurf mit zehen Linien zu schließen. Die Gewohnheit neuerer Zeiten, daß die Stärke der Gedanken in der Strophe allemal gegen das Ende steigen muß, machte mir die Ausführung noch schwerer. Ich wandte die Nebenstunden vieler Monate zu diesen wenigen Reimen an, und da alles fertig war, gefiel mir sehr vieles nicht. Man sieht auch ohne mein warnen noch viele Spuren des Lohensteinischen Geschmacks darin.

Niebelschütz plagt sich nicht mit zehnzeiligen Strophen herum, er wählt den Blankvers, der der gesprochenen Sprache nahekommt. Seine Probleme sind anderer Art. Er hatte sein Gedicht wiederholt Freunden vorgelesen, da war ihm die Notwendigkeit einer Überarbeitung klar geworden. Seine Selbstkritik dem eigenen 'style mixed' gegenüber wuchs bei jedem neuen Lesen, und nach der Bemerkung eines Freundes, er habe hier Perlen und Kieselsteine auf eine und dieselbe Schnur gefädelt, hätte er fast die gesamte Arbeit verworfen. die ihm aber der Perlen wegen, am Herzen lag, und so nahm er sich vor, einige zu apodiktische Urteile zu glätten, Platitüden zu eleminieren, weitschweifige Passagen über unwichtige Vorgänge zu kürzen und dafür Vergessenes einzufügen, schreibt Ilse von Niebelschütz in der Nachbemerkung des zum fünfundzwanzigsten Todestag ihres Mannes erschienenen Buches Auch ich in Arkadien: Respektlose Epistel an die Freunde. Es ist eine Bestätigung des lateinischen Satzes habent sua fata libelli. Das Buch ist mittlerweile vergriffen, aber es läßt sich antiquarisch leicht finden, lohnt sich unbedingt.

Vor Arkadien kommen die Alpen, und damit sie einen kleinen Eindruck vom diesem Werk von Niebelschütz bekommen, gebe ich mal eine kleine Textprobe seines unnachahmlichen style mixed, eine Alpenbeschreibung, die nicht so langweilig ist wie das Gedicht von Albrecht von Haller:

Die lieben Schweizer, gastfrei wie die Griechen, 
Entführten uns aus tagelangem Nebel
In höchst kommoder Limousine bergwärts,
Vom Zürichsee in Richtung Säntis-Seilbahn,
Bis wir bei mehr als dreizehnhundert Metern, 
Umstellt von übergrasten Felsentrümmern, 
Parkieren mussten, wie die Schweizer sagen.
Ein mächtig Holzhaus, lagernd mit Terrassen, 
Das Dach umhüllt vom dicken Wolkensitzfleisch, 
Verschluckte vorne uns, indessen seitlich, 
Metallverstrebt ein Glaskorb ihm ins Maul fuhr,
An Trossen schwebend, die ein Riesenstelzfuss, 
Dreihundert Schritt hinauf, ihm niederreichte – 
Zu ahnen nur, man sah den Stelz zum Viertel, 
Und auch die Trossen endeten in Watte,
Ganz einfach schräg in Luft, die keine Luft war: 
Ein schiefes Wort, sie hätte hemmungslos 
Geweint, geweint, geweint ... Ums Haar sprach ich 
Das Wort, ein Schild verkennend an der Tür,
Ein Schild mit Aufschrift «Säntis hell!», ich hielt es 
Für Bier-Reklame trotz des Ausrufzeichens, 
Verständlich, da ich aus dem Rheinland komme. 

Da aber hingen wir bereits im Nichts,
Im Bodenlosen, glasumpfercht, wattiert:
Ein Felstrumm unten wackelte vorbei,
Es hangelte der Korb am Gittermastwerk
Mit seiner stummen Menschenfracht sich höher, 
Vom Grau umbrodelt – ach, ein schwärzlich Grau, 
Ruhrsuppe nennt mans hier, wir schauten traurig 
Gemüthaft und bedrückt in Partners Augen,
Vom Russ aus Schloten bis ins Hochgebirge
Eklig verfolgt – da überfällt ein Lustschreck
Die Augen, die nicht wissen, was sie sollen,
Weiss wird das Nichts, von tausend Enden rieselt, 
von oben, unten, links und rechts das Licht, 
Gespeist von überall, in unser Glashaus,
Die Lider schmerzen, schliessen sich, mit 
Macht Muss man sie öffnen, schau: ein Ockerschleier 
Schwebt an der steigenden Kabine nieder,
Was war das? mattes Grüngrau, Gras? vorbei, 
Ein Stückchen Felshang, Nebelfetzen lecken 
Um nackten Stein, und unartikuliert,
Halb Schrei, halb Röcheln, seufzt ein wilder 
Schluchzer Zugleich durch fünfzig menschliche Organe,
Ein zieres Händchen krallt sich mir in Ärmel,
Und nach Sekunden erst begreift man: Sonne!
Die Sonne hat uns wieder, Sonne gibt es
Noch auf der Welt! und was für warme Sonne!
Hier oben war sie, schien da ganz allein
So vor sich hin, für sich und für den Säntis
Und jetzt für uns, die wir gelandet waren,
Uns kletternd auf dem Gipfel zu verstreun –
Darunter eine frisch getraute Braut,
Der Myrtenkranz, der Kranz der Hochzeitsgäste,
Der Bräutigam in Toggenburger Tracht,
Ein dralles Mädchen aber, dunklen Haares,
Gab bis nach Österreich den point de vue,
Den Paukenschlag aus sieben Metern Seide:
Fußlang nach Grün changierend kardinalsrot!

Und rings umher das schönste Panorama:
Nur Gipfel, Gardemass Zwei Komma Eins,
Ein Kameradschafts-Treffen der Elite,
Die Crème der Schweiz, die Schweiz als idée pure – 
Nahbei die sieben rötlichen Churfirsten,
Schräg aus dem Nichts gestemmte Mammutschultern, 
Vor ihnen Watte, hinter ihnen Watte,
Die Glarner Alpen, der Pilatus, Tödi,
Scheinbar zum Greifen nah die Blümlisalp [...].
Dann klein, weil fern, die heitere Familie
Von Finsteraarhorn, Schreckhorn, Wetterhorn, 
Leutselig, wie uns däuchte, nicht sehr finster,
Der Mönch zwar keusch, die Jungfrau aber nah, – 
Kein Tal, kein See zu sehn, kein Fluss, kein Dörfchen, 
Nicht Stadt noch Strasse, Auto, Eisenbahn,
Der Mensch als Wesen und als Republik
Von strahlend weisser Wohltat so bepackt,
Dass wir vergassen, dass, zur Höhe freundlich,
Die gleichen Sahne-Baisers unterwärts
Mit Nebelgrau und Nieselregen trostlos
Als wahre Obrigkeit die Welt behocken.
Mit einem Wort, wir fühlten uns genötigt,
Dem Wilhelm-Busch-Zitat zu widersprechen:
Die Welt ist gross, besonders oben? Nonsens!
Der niedre Flächenmensch, er kennt sie nicht! 
Klein ist sie, schrumpfig, völlig spielzeughaft,
Weil halt (zum Glück) die menschlichen Vergleiche, 
Luzern und Bern, der Appenzeller Bote, 
Gasthäuser, Bodensee und Drahtseil fehlen. 

Stattdessen lag Italien uns zu Füssen,
So meinten wir, dort hinten irgendwo,
Wir hättens greifen, nur dem Bristenstock 
Kurz um die Taille fassen, nur die Wolken
Ein wenig lupfen müssen, und wir hatten, 
Wonach uns tief im Busen dürstete!
Nein: gross und endlos wurde alles erst,
Als wir in komfortabler Limousine
Durch leisen Fisselregen heimwärts rollten. 
Der Abend weinte sich in Nacht und Schlaf, 
Die Reifen sangen auf dem spiegelnden,
In Kurven hingeschlängelten Asphalt, 
Erleuchtet blinkten hie und da an Hängen 
Noch Fenster, und ein später Schnellzug reiste 
Als Glühwurmkette in den Tunnelschlund: 
Wie weit allein von Rapperswil nach Stäfa, 
Vom Säntis nach Arkadien, ach, wie weit!

Langweil ich euch? Gemach. Wir sind gleich da .....

Der fünffüßige Jambus hat doch immer seine Wirkung, die Engländer wissen seit der Shakespearezeit schon, weshalb sie ihn immer wieder in ihrer Lyrik verwenden. Und über die wilden englischen Duchamp Hemden da oben schreibe ich irgendwann auch einen Post.

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