Sonntag, 16. Januar 2022

Anatomiestunde

Muss ich noch einmal auf Boris Johnson zurückkommen? Es sind inzwischen noch viel mehr Parties als die Party vom Mai 2020 bekannt geworden. Vor allem die beiden Parties, die von seinen Mitarbeitern am Vorabend von Prinz Philips Begräbnis gefeiert wurden. Johnson hat sich dafür gerade bei der Königin entschuldigt. Ich will eigentlich nicht über Johnson schreiben, sondern über Rembrandts Bild von der Anatomie des Dr Tulp, aber es gibt da eine Verbindung. In dem →coronarchiv der Universität Hamburg findet sich eine bösartige Karikatur von Rembrandts Gemälde, wo die Leiche von lauter Coronaleugnern umstanden wird. Boris ist auch dabei.

Heute vor 390 Jahren ist Rembrandt bei einer Vorlesung des Mediziners Nicolaes Tulp gewesen, der an jenem Tag die Leiche eines Straßenräubers namens Adriaan Adriaanszoon obduzierte. Im 17. Jahrhundert war das Sezieren ein öffentliches Spektakel. Möglich war das nur im Winter, wenn die Kälte den Körper lange genug vor der Verwesung bewahrte. Viele Stadtbewohner ließen sich diese Anlässe nicht entgehen. Anwesend waren wissbegierige Chirurgen und Ärzte, Vertreter der Obrigkeit und andere Schaulustige. Der Eintritt kostete sechs oder sieben Stuiver (etwa ein Drittel eines Gulden), sagt Hugh Aldersey-Williams in seinem Buch Anatomies: A Cultural History of the Human Body. Dieser Adriaan Adriaanszoon, den man gerade frisch vom Galgen genommen hat, ist wahrscheinlich der berühmteste Straßenräuber der Kunstgeschichte geworden, denn Rembrandt hat seine Leiche in das Bild Die Anatomie des Dr Tulp gemalt. Er findet sich auch in der Literatur wieder, weil W.G. Sebald ihn in das Buch Die Ringe des Saturn hineingeschrieben hat (lesen Sie →hier viel mehr dazu).

Ob der achtundzwanzigjährige übergewichtige Adriaan Adriaanszoon, der den Spitznamen Het Kint hat, wirklich so ausgesehen hat, wissen wir nicht. Bei den Herren in Schwarz kommt es darauf an, dass sie so aussehen, wie sie aussehen wollen. Bei dem Toten nicht. Sein Gesicht hat eine seltsame grünliche Farbe, mit der Rembrandt die Leichenstarre unterstreichen will. Der Straßenräuber liegt auf dem Seziertisch in der gleichen Pose wie der betrunkene Bauer auf einem Bild von Adriaen Brouwer, das in Rotterdam hängt. Kunst kommt von Kunst. Schon Karel van Mander gab jungen Malern in seinem Schilder-Boeck den Rat: Stehlt Arme, Beine, Körper, Hände, Füße. Hier ist es nicht verboten. Maler werden sich für Jahrhunderte daran halten.

Rembrandt ist nicht der erste, der die Anatomie eines Leichnams malt, schon 1603 hat Aert Pietersz diese Anatomiestunde des Dr Sebastiaen Egbertsz de Vrij gemalt. Als er das Bild vollendet hatte, waren schon fünf der Dargestellten verstorben. Keine Corona. Die Pest. Das Bild Die Anatomie des Dr. Tulp war schon mehrmals in diesem Blog. Es hat mit Anatomie schon einen langen Post, und die Tochter von Nicolaes Tulp hat auch schon einen langen Post. Bei dem Bild des Straßenräubers Adriaan Adriaanszoon fällt mir immer Gottfried Benns Gedicht mit dem ersoffenen Bierfahrer aus der Sammlung Morgue ein, aber das habe ich in Anatomie schon gesagt. Und das sehr schöne Gedicht aus dem Spätwerk von Heiner Müller habe ich in dem Post Chirurgie auch schon einmal zitiert:

Der Maler hält den Moment vor dem Verschwinden
fest, die kalte Sekunde, wenn der Körper zum
Farbton schrumpft, den letzten Atem, von
Malschichten wie vom Vergessen erstickt.
Der Maler malt das Vergessen. Das Bild vergißt
seinen Gegenstand. Der Maler ist Charon. Mit
jedem Pinselstrich
Ruderschlag verliert sein
Passagier an Substanz. Die Fahrt ist das Ziel,
das Sterben der Tod. Am anderen Ufer wird
Niemand aussteigen.

Die Anatomien sind als Gegenstand der Malerei inzwischen aus der Mode gekommen, aber das Interesse an Autopsien, das die Bevölkerung in Rembrandts Zeit hatte, das gibt es heute immer noch. Nicht im wirklichen Leben, aber im Fernsehen. Seit der Serie Quincy, M.E. hat sich die Zahl der Gerichtsmediziner im Fernsehen vervielfacht. Früher waren Gerichtsmediziner in Krimiserien graue Mäuse, die sich erst zum genauen Todeszeitpunkt äußern wollten, wenn sie die Leiche auch ihrem Labortisch hatten. Aber seit Jack Klugman als Held von Quincy, M.E. solch großen Erfolg hatte, sind die Pathologen allgegenwärtig. Von Dr Donald (Ducky) Mallard in NCIS über Professor Boerne in Münster bis zu der Ex-Frau von Hubsi in Hubert und Staller, jeden Tag Gerichtsmediziner auf allen Kanälen. Häufig neuerdings Frauen, das Genre schreit nach Gleichberechtigung. Dr Laura Hobson, die wir aus Lewis – Der Oxford Krimi kennen, hatte schon in der Inspector Morse Serie (in The Way Through the Woods) einen ersten Auftritt. Wo ihr die Drehbuchautoren den wunderbaren ersten Satz in den Mund legten: Do you know where I might find a Detective Chief Inspector... looks like 'Mouse'?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen