Weihnachten bedeutete wieder Bücher, aufeinander gestapelt mehr als fünfzig Zentimeter. Die Verfasser kannte ich nicht. Vor allem nicht Sebastian Stuertz, der einen Roman mit dem Titel Das eiserne Herz des Charlie Berg geschrieben hat. Ein wildes Buch, schrill und komisch. Wenn ich es durch habe, gibt es hier vielleicht einen Post dazu. Das Buch hat 720 Seiten, aber es liest sich schneller als Anna Karenina. Über den Autor kann man im Buch erfahren: Sebastian Stuertz, *1974, ist Medienkünstler, Musikproduzent und Podcaster, hauptberuflich animiert er Grafiken für Film und Fernsehen. Er wuchs am Steinhuder Meer auf, das man zu Fuß durchschreiten kann, so flach ist es. Seit Beginn des Jahrtausends lebt und arbeitet er in Hamburg. Und hier habe ich leichte Bedenken. Man kann durch den Dümmer, den Arno Schmidt in die deutsche Literatur geschrieben hat, hindurchgehen, weil er so flach ist. Das Steinhuder Meer ist zwar auch flach, aber, und das ist jetzt ein großes Aber: es gibt im Steinhuder Meer Stellen, die drei Meter tief sind.
Tiefen, Untiefen, da sind wir bei einem schwierigen Wort. Wörter, die mit dem Affix un- anfangen, bezeichnen normalerweise eine Negation. Un-artig ist nicht artig, un-weit ist nicht weit. Und die Untiefe? Sie ist un-tief, schon im 10. Jahrhundert gibt es das Worta untiufī im Althochdeutschen. Das ist die erste Bedeutung des Wortes, und so wird es immer noch in der seemännischen Fachsprache gebraucht, das können Sie im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm nachlesen. Aber im 18. Jahrhundert gibt es in manchen Gegenden Deutschlands eine ganz andere Bedeutung des Wortes, die flache Stelle wird zu einer ungeheuren Tiefe. Das Wörterbuch hat da auch ein Beispiel:
wie ich stand an des abgrunds saum,
hinab in die grauenhafteuntiefe wagt ich zu blicken kaum,
die gähnend vor mir klaffte
Die Beispiele finden sich zuerst im Oberdeutschen, also zum Beispiel im Bairischen, an der Küste bleibt die Untiefe eine Untiefe in der eigentlichen Bedeutung. Nicht, dass man in Süddeutschland keine flachen Stellen in den Gewässern hätte, der Teufelstisch im Bodensee wäre ein Beispiel für eine Untiefe. Wir haben es bei der Untiefe mit einem Januswort zu tun, ein Wort mit zwei gegenteiligen Bedeutungen, davon gibt es glücklicherweise nicht so viele in der Sprache.
Wir lassen der Untiefe mal ihre originale Bedeutung. Im frühen 19. Jahrhundert verwenden Literaturkritiker das Wort gerne, um die französische Literatur zu beschreiben. Untief sei sie, oberflächlich: Die allgemein verbreitete Sprache der Franzosen machte uns nicht allein vertrauter mit ihren reichen, feinen Wendungen, sie ließ uns den flüchtigen Champagnergeist ihres Geistes erkennen , und die Nichts tiefe (manche sprechen: Untiefe) der Producte französischer Dichter gestattet eine leichte, weit verbreitete Auffassung. Steht so 1803 in der Wiener-Moden-Zeitung und Zeitschrift für Kunst, schöne Literatur und Theater. Und der flüchtige Champagnergeist ist natürlich nichts gegen die Deutsche Tiefe ®, die wir seit der Romantik als Markenzeichen unserer Literatur haben. Otto Jägersberg hat sich Deutsche Tiefe als Titel eines Gedichtsbandes genommen, aber ich glaube, der meinte das eher ironisch. Man kann die doppeldeutge Untiefe immer noch als Kategorie der Literaturkritik gebrauchen, das beweist Thomas Stangl mit seinem Essay Ist das Schlamm? Oder lebt das?. Wenn Ihnen das zu tief ist, habe ich zum Abschluss noch ein kleines Gedicht von Günter Eich, das beitrag zum dantejahr heißt. Ein Gedicht, bei dem ich nie weiß, ob es tief oder untief ist:
und dashiell hammett
mir liegts nicht
mich an das boese schlechthin
zu halten und
dante zu lesen
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